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GoetheGoethe, Johann Wolfgang Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers (1774 / 1786 / 1787)
ОглавлениеDie EntstehungsEntstehungsgeschichte- und DruckgeschichteDruckgeschichte von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthersist bekannt. Um berufliche Erfahrungen zu sammeln, geht der junge Dichter von Mai bis September 1772 an das Reichskammergericht in Wetzlar. Der Sekretär des Gerichts Christian KestnerKestner, Johann Christian (1741–1800) wird Goethes Freund. Mit dessen 19-jähriger Braut Charlotte BuffBuff, Charlotte (1753–1828) verbindet ihn eine enge Freundschaft. Sie wird das Vorbild für die Lotte im Roman. GoetheGoethe, Johann Wolfgang lernt sie am 9. Juni 1772 auf einem Ball kennen. Auch Karl Wilhelm JerusalemJerusalem, Karl Wilhelm (1747–1772), der Goethe schon aus der Leipziger Studienzeit kannte, hält sich in Wetzlar auf. Er wird das Vorbild für die Figur des Werther. Nach seinem Weggang aus Wetzlar geht Goethe nach Koblenz und trifft sich dort bei der Familie von La Roche mit seinem Darmstädter Freund Johann Heinrich MerckMerck, Johann Heinrich (1741–1791). Die älteste Tochter der La Roches ist die 16-jährige Maximiliane von La RocheLa Roche, Maximiliane von (1756–1793). Goethe verliebt sich in sie. Während Kestner den Umgang seiner Braut mit Goethe geduldet und auch gefördert hatte, stößt Goethe nach Maximilianes Heirat auf brüske Ablehnung ihres Ehemanns Peter Anton BrentanoBrentano, Peter Anton (1735–1797). Das Bild Lottes im Roman setzt sich also aus Goethes Erfahrungen mit Charlotte Buff und mit Maximiliane Brentano, geb. von La Roche, zusammen.
Karl Wilhelm Jerusalem hatte große Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten. Außerdem liebte er die Frau des Pfalz-Lauternschen Gesandtschaftssekretärs, ohne dass diese Liebe aber erwidert wurde. Jerusalem lieh sich von Kestner Pistolen und erschoss sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772. Kestner berichtet kurz danach am 2. November 1772 Goethe in einem Brief ausführlich über Jerusalems Selbstmord.1 Im Werther überlagern sich also eigene Erfahrungen und Sehnsüchte des Autors mit Beobachtungen und Berichten Dritter und konstituieren so die fiktiven Figuren von Werther, Albert und Lotte. Im Roman selbst ein ausschließlich autobiografisches Zeugnis sehen zu wollen, erklärt nicht die enorme Resonanz, die der Werther-Roman nach seinem Erscheinen erfahren hat.
Anfang Februar 1774 beginnt GoetheGoethe, Johann Wolfgang mit der Arbeit am Roman. Will man seiner Darstellung in Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit Glauben schenken, dann hat er das Manuskript innerhalb von vier Wochen niedergeschrieben (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 28, S. 224). Von der Handschrift der ersten Fassung sind lediglich zwei einzelne Blätter erhalten, die Entstehungszeit wird auf Februar bis Mai 1774 datiert. Im Mai 1774 schickt er das Manuskript an den Verleger WeygandWeygand, Johann Friedrich in Leipzig. Schon zur Michaelismesse im September 1774 erscheint der WertherDie Leiden des jungen Werthers. In der Forschung wird vermutet, dass für die „zweyte ächte Auflage“2 des Romans von 1775 nochmals das heute nicht mehr erhaltene Druckmanuskript zu Rate gezogen werden konnte. In dieser Ausgabe finden sich auch erstmals die zusätzlichen Zeilen in Werthers Brief vom 13. Juli 1771: „Mich liebt! – Und wie werth ich mir selbst werde, wie ich – dir darf ich’s wohl sagen, du hast Sinn für so etwas – wie ich mich selbst anbethe, seitdem sie mich liebt!“3 Diese Zeilen, die im Erstdruck also fehlen, sind möglicherweise unabsichtlich weggelassen worden. Eventuell handelt es sich um einen Abschreibfehler des Kopisten der Handschrift oder um ein Versehen des Setzers. Der Begriff der Haplografie, der in diesem Zusammenhang von Fischer-Lichte und ihr folgend von der Frankfurter Ausgabe verwendet wird, ist allerdings irreführend. Letztlich sind diese Plausibilitätsüberlegungen nicht zu belegen. „Ganz ausgeschlossen ist es jedoch nicht, daß die Zeilen absichtlich getilgt wurden; jedenfalls liegt die Vermutung nahe, daß Lavater bei der Lektüre der Druckbogen […] Anstoß an der Formulierung nahm: ‚wie ich mich selbst anbete‘ [!]“4. Am 30. Dezember 1781 bittet Goethe Charlotte von SteinStein, Charlotte von (1742–1827) um ein Exemplar seines Romans, er selbst ist nicht mehr im Besitz des Buches (vgl. die Briefe vom 21. November 1782 an KnebelKnebel, Karl Ludwig von, vom 2. Mai 1783 an KestnerKestner, Johann Christian, vom 24. Juni 1783 an Charlotte von Stein, vom 15. August 1785 an den Herzog und vom 25. Juni 1786 an Charlotte von SteinStein, Charlotte von).
Seit 1781 überlegt sich GoetheGoethe, Johann Wolfgang also eine Überarbeitung des Werthers, die erst 1786 abgeschlossen ist. Als sein Verleger Georg Joachim GöschenGöschen, Georg Joachim (1752–1828) eine Ausgabe von Goethes Werken plant, soll der WertherDie Leiden des jungen Werthers als erster Band diese Ausgabe eröffnen. Somit ist der äußere Anlass, sich mit dem Werther im Hinblick auf eine erneute Drucklegung nochmals zu beschäftigen, für Goethe durchaus gegeben. In das Lotte-Bild der Zweitfassung fließen denn auch Goethes Erfahrungen mit Frau von Stein während dieser Umarbeitungsphase ein.
Die Überarbeitung bedeutet auch eine Reaktion des Autors auf die intensive und äußerst kontroverse Rezeption seines ersten Romans. Als Textgrundlage für die Überarbeitung verwendet Goethe einen Raubdruck von HimburgHimburg, Christian Friedrich und lässt ihn abschreiben.5 Himburg hatte bereits korrigierend in den Text eingegriffen, so dass Goethe also eine durchaus korrupte Vorlage für seine Überarbeitung wählt. Am 2. September 1786 teilt Goethe Göschen mit, dass das Manuskript bereits unterwegs sei. Diese Handschrift ist erhalten und wird in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und SchillerSchiller, Friedrich-Archiv aufbewahrt.6 Sie ist erheblich korrigiert, die Korrekturen stammen von den Schreibern Seidel und Vogel und von Goethe selbst. Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried korrigiert Interpunktion und Orthografie. Bernhard Seuffert spricht in seinem Editionsbericht in der Weimarer Ausgabe von insgesamt „vielleicht fünferlei Correcturhände[n]“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 331)7. Ob auch WielandWieland, Christoph Martin und Frau von Stein an den Korrekturarbeiten teilhatten, ist umstritten. Obwohl die Handschrift, die ja immerhin als Druckvorlage für die Werther-Ausgabe von 1787 diente, intensiven Verbesserungen unterzogen wurde, sind doch noch zahlreiche „grössere und kleinere Mängel“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 331) stehen geblieben, so wird es von der Goethe-PhilologiePhilologie umschrieben. Trotz der aus der Vorlage übernommenen Fehler besitze diese Handschrift aber „den höchsten Anspruch auf Echtheit und dauernde Geltung“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334), so Bernhard Seuffert. Nach dieser Handschrift wird die Zweitfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers gedruckt: Goethe’s Schriften. Erster BandGoethe’s Schriften (Leipzig: bey Georg Joachim GöschenGöschen, Georg Joachim 1787, S. 1–310). Für die Drucklegung autorisiert GoetheGoethe, Johann Wolfgang den Setzer und den Korrektor, denn er selbst hält sich in diesem Jahr in Italien auf, die Orthografie selbstständig nach den Richtlinien AdelungAdelung, Johann Christophs zu verbessern. Insgesamt gibt es ca. 1330 Abweichungen zwischen Handschrift und Druck (die Angaben nach Seuffert), davon entfallen über 1040 auf Interpunktionskorrekturen. Etwa 900 Kommata werden ergänzt, rund zwölf Kommata der Handschrift werden gestrichen. Komma oder Semikolon werden häufig durch Punkt ersetzt. Die orthografischen Verbesserungen sind im Ganzen minimal, beispielsweise Gebirge statt Gebürge, hob statt hub, darin statt darinne etc. Aus den Endungen -len und -ren werden -eln und -ern. Über die eigentlich problematischen Veränderungen berichtet der Editionsbericht der Weimarer Ausgabe. 1806 korrigiert Goethe den Werther nochmals, da er als Band elf der Ausgabe Goethe’s WerkeGoethe’s Werke (Tübingen 1808) erscheinen soll. Waltraud Hagen verzeichnet bis zum Jahr 1832 insgesamt 26 Einzelausgaben (ohne die sog. Titelauflagen, bei denen also nur das Titelblatt verändert wurde), von denen vier Ausgaben heute nicht mehr zu ermitteln sind.8
In KräutersKräuter, Friedrich Theodor David Repertorium, Abteilung 15 „Eigen Poetisches“ heißt es unter der Nr. 44 von insgesamt 86 Positionen: „Leiden des jungen Werthers. 1.s u. 2.s Bch. (von Goethes Hand corrigirt).“ Die beiden Handschriften werden im Bestandsverzeichnis des Goethe-Archivs (Kräuters Repertorium, jeweils „Eigen Poetisches 44“) mit dieser Beschreibung geführt:
„Aufbewahrung Kasten: XXIII, (2) Konvolut: 1 Bd. Inhalt: Druckmanuskript des 1. Buches, = H. Blatt- bzw. Stückzahl: 88 gBl. Schrift: m Seidel, z.T. Vogel, egh K. WA: I/19, 1–86, A I/19, 329–331. Kräuters Repertorium: Eigen Poetisches 44. Aufbewahrung Kasten: XXIII, (3) Konvolut: 1 Bd. Inhalt: Druckmanuskript des 2. Buches, = H. Blatt- bzw. Stückzahl: 105 gBl. Schrift: z.T. Seidel, z.T. Vogel, egh K. WA: I/19, 87–191, A I/19, 329–331. Kräuters Repertorium: Eigen Poetisches 44“9.
Bei der Edition waren folgende Korrekturen zu beachten: korrigiert aus bestehendem Wort, unleserliche(r) Buchstabe(n), unleserliches Wort, unsichere Lesart, über der Zeile eingefügt, unter der Zeile eingefügt, gestrichen, Korrektur von Goethes Hand, Korrektur von HerderHerder, Johann Gottfrieds Hand, Handschrift von SeidelSeidel, Philipp Friedrich, Handschrift von VogelVogel, Christian Georg Karl. Zum Vergleich diente die Weimarer Ausgabe (Abt. I, Bd. 19 [Weimar 1899]). Die Handschrift (insgesamt zwei Bände) trägt die Signatur des Goethe- und SchillerSchiller, Friedrich-Archivs GSA 25/XXIII, 2–3 und wird im Folgenden mit H bezeichnet.10 Auf der Innenseite des Umschlagblattes des ersten Bandes ist ein schreibmaschinengeschriebener Zettel eingeklebt und handschriftlich von Max HeckerHecker, Max (1870–1948), der bis 1945 im Goethe- und Schiller-Archiv als Archivar tätig war, unterzeichnet. Dieser Zettel hat folgenden Wortlaut:
„Der Einband zu dieser Handschrift: / „Leiden des jungen Werthers“ / Erstes Buch / ist in den 90er Jahren unter den Augen der Großherzogin Sophie von dem damaligen Hofbuchbinder Arno Krehan, dem späteren Weingroßhändler und Kommerzienrat in Weimar, hergestellt worden.“
Der Firmenaufkleber auf der letzten Seite trägt den Vermerk „Buchbinderei von H. Krehan in Weimar“. Das Manuskript ist mit einem Lesebändchen ausgestattet, aus festem Karton mit marmoriertem Einbandpapier. Die Maße betragen Breite 16,5 cm, Höhe 20,2 cm. Die Signatur lautet 25/XXIII, 2. Rückenprägung mit Goldlettern: „Leiden des jungen Werthers / – / Erstes Buch.“ Die Signatur des zweiten Bandes ist 25/XXIII, 3. Auch hier findet sich auf der ersten Umschlag- (Vacat-)Seite der maschinengeschriebene Zettel, von Max Hecker unterzeichnet, gleicher Wortlaut wie im ersten Band. Maße: Breite 16,5 cm, Höhe 20,4 cm. Am Ende des Manuskripts findet sich auf der Umschlagseite das gleiche Etikett des Buchbinders wie im ersten Band. Rückenprägung in Goldlettern: „Leiden des jungen Werthers / – / Zweytes Buch.“ Die Handschrift wird nach Blättern (nicht unterschieden in Vorder- und Rückseite) und nicht nach Seiten gezählt. Die Blattzählung ist in der Handschrift rechts oben auf dem jeweiligen Blatt notiert. Die Handschrift ist stellenweise stark korrigiert. Unterschiedliche Korrekturhände lassen sich identifizieren, unter anderem auch Goethes Handschrift. Mutmaßungen oder Plausibilitätsüberlegungen sind nicht immer überzeugend. Die Weimarer Ausgabe vermutete fünferlei Korrekturhände, von denen diejenigen GoethesGoethe, Johann Wolfgang, HerderHerder, Johann Gottfrieds, Seidels und Vogels nachweisbar seien. Der Nachweis von Charlotte von SteinsStein, Charlotte von und WielandWieland, Christoph Martins Handschrift indes galt schon der Weimarer Ausgabe als nicht möglich. Die Orthografie ist uneinheitlich und inkonsequent, offensichtliche oder vermeintliche Schreibversehen müssen als solche erkennbar bleiben. Verbesserungen wurden (bis auf zwei Ausnahmen) nicht vorgenommen. Einige kleinere Unsicherheiten bei den Lesarten bleiben bestehen, denn nicht immer ist in der Handschrift klar zu erkennen, ob das erste „t“ bei „setzte“ oder bei „versetzte“ nachträglich eingefügt wurde, also eine Korrektur darstellt. Nur dort, wo es unmissverständlich und eindeutig als Korrektur erkannt werden kann, ist es auch als Korrektur ausgewiesen. Im Verlauf der Handschrift entstehen auch Prozesse von Selbstkorrekturen der Schreiber Christian Georg Karl VogelVogel, Christian Georg Karl (1760–1819) und Philipp Friedrich SeidelSeidel, Philipp Friedrich (1755–1820), das lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass aus anfänglich „iezt“ zunächst „jezt“ wird und schließlich „jetzt“. Ähnliches lässt sich beim Wechsel von „k“ zu „ck“ beobachten. Korrekturzeichen oder Zeichen des Setzers, dessen Hand nicht sicher, sondern lediglich wahrscheinlich ist, und welche die ausgeführten Korrekturen der Handschrift durch ein Häkchen am Rand bestätigen, sind nicht relevant. Die Weimarer Ausgabe vermutet allerdings, dass diese Häkchen den Setzer erst auf auszuführende Korrekturen aufmerksam machen sollten (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 330f.). Dass die Handschrift H eindeutig als Vorlage zum Druck der WertherDie Leiden des jungen Werthers-Ausgabe von 1787 gedient hat, zeigen u.a. auch die Setzerzeichen im Manuskript, das Gebrauchsspuren der Druckerei aufweist, sodass davon auszugehen ist, dass diese Handschrift die unmittelbare Satzvorlage für den Werther-Druck von 1787 darstellt.
GoethesGoethe, Johann Wolfgang eigene, handschriftliche Korrekturen im Manuskript lassen darauf schließen, dass er den Text sehr aufmerksam und sorgfältig korrigiert hat. Wenn er demnach eine Textstelle, die den heutigen Philologen als fehlerhaft erscheint, unkorrigiert ließ, so ist in diesem Fall nicht auszuschließen, und möglicherweise muss sogar davon ausgegangen werden, dass der ursprüngliche Wortlaut erhalten bleiben sollte, auch wenn dies mit abweichenden Erkenntnissen kollidiert, die sich auf die verschiedenen Druckfassungen des Werthers stützen. Um ein Beispiel anzuführen: In der Handschrift heißt es „grauer Frack“11, in den Drucken jedoch wird dies verbessert in „blauer Frack“. Entsprang der Wechsel von blau zu grau einem Hörfehler beim Diktat? Weshalb wurde er dann aber von Goethe beim gründlichen Korrekturlesen nicht verbessert? Oder wollte Goethe vielleicht – eingedenk der Debatte um die Werther-Tracht – darauf verzichten, weiter zur Uniformierung des Werther-Fiebers durch die Wiederholung der Beschreibung von Werthers Kleidung beizutragen? Hier darf ein Herausgeber nicht in den Text verändernd eingreifen, auch nicht in der vermeintlich guten Absicht, den korrupten Text verbessern zu wollen.
Der Kommentar in der Weimarer Ausgabe bemerkt, dass die ursprüngliche Handschrift von Seidel nicht nach Diktat, sondern nach Vorlage hergestellt worden sei (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 330). Allerdings enthält der Text selbst eindeutige Indizien, welche die Bedeutung des gesprochenen und gehörten Worts vor dem gelesenen Wort in der Kommunikation zwischen GoetheGoethe, Johann Wolfgang und seinem jeweiligen Schreiber belegen. So erklärt sich zum Beispiel jenes Schreibversehen, wo es im Text zunächst „versenkt“ hieß statt „versengt“, wie im Brief vom 21. August des Erstdrucks zu lesen ist: „das versengte verstörte Schloß“12. In der Handschrift heißt es nun „das ausgebrannte, zerstörte Schloß“13, wobei „ausgebrannte“ über der Zeile ergänzt und „versenkte [!]“ gestrichen wurde. Die Korrekturen stammen von Goethes Hand. Ebenso diktierte Goethe nach dem Wortlaut des Erstdrucks die Textstelle: „und sich einen Schoppen Wein geben lassen“14, woraus in der Handschrift „und sich eine Flasche Wein geben lassen“ wird, wie es dann auch im Druck der Fassung von 1787 heißt, wobei beim Diktat die Worte „eine Flasche Wein“ zunächst als Textlücke stehen blieben und von Goethe nachträglich handschriftlich ergänzt wurden.15
Während also von der Handschrift der Erstfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers für den Druck von 1774 nur zwei Blätter erhalten geblieben sind, existiert zur Zweitfassung von 1787 das vollständige Manuskript.16 Das ist eigentlich ein Glücksfall für die Goethe-PhilologiePhilologie. Doch wurde diese Handschrift lange nicht ediert, obwohl sie stark vom Druck abweicht. Die Weimarer Ausgabe bietet zwar in ihrer Edition des Werthers die Abweichungen der Handschrift H zum Druck, doch dies keineswegs vollständig und keineswegs fehlerfrei. Sie argumentiert durchaus, H besitze den „höchsten Anspruch auf Echtheit und dauernde Geltung“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334), diese Erkenntnis wird jedoch zugunsten der Bemerkung zurückgestellt, H sei immer noch weit davon entfernt, „eine völlig genaue Vorlage für den Druck zu bilden“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334).
Die Forschung entwickelte eine Art editionsphilologischenEditionsphilologie Mythos, dessen genauer Ursprung kaum mehr auszumachen, dessen Lebendigkeit indes bis heute ungebrochen ist. Zu diesem Kuriosum der WertherDie Leiden des jungen Werthers-PhilologiePhilologie gehört die Behauptung, die Akademie Ausgabe17 biete in ihrem Paralleldruck die Handschrift, obgleich weder die Akademie Ausgabe noch die Herausgeber des entsprechenden Werther-Bandes von 1954 überhaupt den Anspruch erheben, den Text nach der Handschrift bieten zu wollen. Es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass die Textdarbietung der Druckfassung von 1787 nach der Handschrift verbessert wurde, dem editorischen Ziel der Wiedergabe eines besten Textes folgend, ohne dies konsequent oder gar einheitlich durchzuführen, wie unschwer bei der Kollation von Handschrift und Akademie-Druck festzustellen ist.18 Die Ausführungen zum Plan und zu den editorischen Richtlinien der Akademie Ausgabe waren allgemein gehalten. Hieraus geht nicht hervor, nach welchen Vorlagen der Werther-Band der Akademie Ausgabe gedruckt wurde. Dies wirft die Frage auf, woher die meisten Werther-Editoren die Gewissheit nehmen, dass dem im Paralleldruck der Akademie Ausgabe auf der rechten Seite stehenden Druck die Handschrift H zugrunde liegt? Eine Editio synoptica gerät unter der Hand schnell zu einer Editio mixta. Lesarten der Handschriftenfassung werden mit der Druckfassung gemischt, ohne dass dies jeweils im Detail nachgewiesen wird. Schon 1971 hat Siegfried Scheibe ausführlich dargelegt, dass ein solcher Mischtext, wie ihn die Akademie Ausgabe bietet, heutigen Ansprüchen an die EditionsphilologieEditionsphilologie nicht mehr genügen kann und den Grundsätzen einer historisch-kritischen Edition nicht entspricht.19 Ein Mischtext mit den entsprechenden Veränderungen durch den Herausgeber wird meist mit Argumenten der TextverderbnisTextverderbnis begründet. Nun stammt der Begriff der Textverderbnis aus der Kodikologie und meint eine Stelle in einem handgeschriebenen Manuskript, die unleserlich oder gar völlig verloren ist. Dies wirft die prinzipielle editionsphilologische Frage auf, ob man eine Druckschrift editionsphilologisch ebenso behandeln kann wie eine Handschrift. Philologisch problematisch jedenfalls bleibt jener, terminologisch als Konjektur bezeichnete Eingriff in eine Textvorlage, sofern er auf bloßen Mutmaßungen beruht.20 Insofern sind weder die Akademie Ausgabe noch die Weimarer Ausgabe als historisch-kritische Ausgaben zu bezeichnen. In den Editionsrichtlinien des Vorberichts der Weimarer Ausgabe wird unmissverständlich über die Autorität des Autors GoetheGoethe, Johann Wolfgang gesagt und dies wird als Editionsgrundsatz festgelegt: „Für den Druck der Werke hat er selbst die Norm gegeben in der Ausgabe letzter Hand“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 1, S. XIX). Der WertherDie Leiden des jungen Werthers wird denn auch nach dem Wortlaut der Ausgabe letzter HandAusgabe letzter Hand (Goethe), Band 16, wiedergegeben (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 309).21 Welche Bedeutung aber schon Goethe selbst der Notwendigkeit einer unverfälschten Wiedergabe sogar des Erstdrucks beigemessen hat, geht aus dem Konzept eines Briefes an die Weygandsche Buchhandlung von 1824 hervor. Dort heißt es über den Werther:
„Ich werfe nämlich die Frage auf: Ob Sie nicht das Büchlein, nach der ersten Ausgabe, wie es in Ihrem Verlag ursprünglich gegeben worden, [neu drucken wollen?]22 es ist in der letzten Zeit viel Nachfrage danach gewesen, ich habe sie selbst in Auctionen im gesteigerten Preis zu erhalten gesucht.
Der erste Abdruck in seiner heftigen Unbedingtheit ists eigentlich der die große Wirkung hervorgebracht hat; ich will die nachfolgenden Ausgaben nicht schelten aber sie sind schon durch äußere Einflüsse gemildert geregelt und haben denn doch nicht jenes frische unmittelbare Leben; dem Verleger selbst müßte es von großem Vortheil seyn denn kaum ist noch jemand unter den lebendigen, der jenen Abdruck gesehen hätte. Jedermann der auch den späteren Werther besitzt würde den früheren zu besitzen sich genöthigt sehen […]“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 38, S. 356).
Am 30. Dezember 1781 bittet GoetheGoethe, Johann Wolfgang Charlotte von SteinStein, Charlotte von: „Schicke mir die Italiänischen Briefe Werthers und dein deutsch Exemplar dazu“ (Goethes: WA, Abt. IV, Bd. 5, S. 244). Daraus schließt die Forschung, dass Goethe selbst kein eigenes Exemplar des WerthersDie Leiden des jungen Werthers von 1774 mehr besaß. Am 19. Juni 1782 schreibt er wiederum an Charlotte von Stein: „Sage mir wie du den Tag zubringst und schicke mir meine gedruckten Schrifften ich habe einen wunderlichen Einfall und will sehn ob ich ihn ausführe“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 5, S. 350). Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es allerdings keine von Goethe autorisierte Veröffentlichung, auf die der Titel Schriften zuträfe. Somit können nur der Nachdruck HimburgsHimburg, Christian Friedrich oder die Raubdrucke aus Frankfurt, Karlsruhe, Leipzig oder Reutlingen gemeint sein. Bereits 1866 konnte Michael BernaysBernays, Michael nachweisen23, dass die Vorlage für die Zweitfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers ein äußerst verderbter Nachdruck des himburgschen Raubdrucks ist, nämlich der erste Teil der Ausgabe J.W. Goethens SchriftenJ.W. Goethens Schriften. Erster – Dritter Band. Dritte Auflage. Mit Kupfern. Vierter Band (Berlin 1779. Bei Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich). Diese Ausgabe trägt in der Siglierung der Weimarer Ausgabe die Sigle h3, nach Waltraud Hagen wird sie mit s3 bezeichnet.24 Folgt man Goethes eigener Darstellung im 16. Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit, dann hat der Berliner Verleger Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich (1733–1801) seinen Nachdruck des Werthers von 1775 selbst an Goethe geschickt:
„Als nämlich meinen Arbeiten immer mehr nachgefragt, ja eine Sammlung derselben verlangt wurde, jene Gesinnungen aber mich abhielten, eine solche selbst zu veranstalten, so benutzte Himburg mein Zaudern, und ich erhielt unerwartet einige Exemplare meiner zusammengedruckten Werke. Mit großer Frechheit wußte sich dieser unberufene Verleger eines solchen dem Publicum erzeigten Dienstes gegen mich zu rühmen und erbot sich, mir dagegen, wenn ich es verlangte, etwas Berliner Porzellan zu senden“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 29, S. 15).
GoetheGoethe, Johann Wolfgang spricht noch vom „Verdruß“ und von der „Verachtung“, die er diesem „unverschämten Nachdrucker“ und seinem „Raub“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 29, S. 16) gegenüber empfinde. 1775/76 hatte Himburg eine dreibändige Ausgabe von Goethes SchriftenJ.W. Goethens Schriften gedruckt, der WertherDie Leiden des jungen Werthers befindet sich im ersten Teil von 1775, die dritte Auflage erschien 1779. Am 14. Mai 1779 schickt Goethe zwei Exemplare hiervon an Charlotte von SteinStein, Charlotte von, ob damit freilich h3/s3 gemeint ist, ist zwar anzunehmen, aber nicht nachzuweisen. Im Begleitbrief dazu schreibt Goethe:
„Von denen zwey Exemplaren schicken Sie ein’s der Waldnern. Da Sie kleine Herzgen durch mich verschencken, ist’s billig dass ich Sie zur Austheilerinn meiner geringen Geists Produckte mache. Adieu Liebste. Ich habe das Zeug heute früh durchgeblättert, es dünckt einen sonderbaar wenn man die alt abgelegten Schlangenhäute auf dem weisen Papier aufgezogen findet“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 4, S. 37).
Wenn sich Goethe nun im Dezember 1781 seinen Werther bei Charlotte von Stein wieder ausleiht, so ist zu mutmaßen, aber nicht sicher zu belegen, dass es sich hierbei um h3/s3 gehandelt haben dürfte. Am 21. November 1782 heißt es in einem Brief an Karl Ludwig von KnebelKnebel, Karl Ludwig von (1744–1834): „Meinen Werther hab ich durchgegangen und lasse ihn wieder ins Manuscript schreiben, er kehrt in seiner Mutter Leib zurück du sollst ihn nach seiner Wiedergeburt sehen. Da ich sehr gesammelt bin, so fühle ich mich zu so einer delikaten und gefährlichen Arbeit geschickt“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 6, S. 96). Goethe benötigt also ein knappes Jahr, um den Werther ‚durchzugehen‘ und abschreiben zu lassen. Dieses korrigierte Druckexemplar des himburgschen Nachdrucks ist nicht erhalten. Die Abschrift, die er nun im November 1782 anfertigen lässt, ist jenes Manuskript H, das erst 1999 zum Druck gelangt. „Die Möglichkeit einer vor H liegenden dictirten Handschrift“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 332) ist nicht auszuschließen, doch auch nicht nachweisbar. Die Arbeiten am Manuskript verzögern sich. Der Brief vom 2. Mai 1783 an Johann Christian KestnerKestner, Johann Christian deutet darauf hin, dass Goethes Arbeit an den Manuskriptkorrekturen schon einige Zeit liegengeblieben ist:
„Ich habe in ruhigen Stunden meinen Werther wieder vorgenommen, und denke, ohne die Hand an das zu legen was so viel Sensation gemacht hat, ihn noch einige Stufen höher zu schrauben. Dabey war unter andern meine Intention Alberten so zu stellen, daß ihn wohl der leidenschaftliche Jüngling, aber doch der Leser nicht verkennt. Dies wird den gewünschten und besten Effekt thun. Ich hoffe Ihr werdet zufrieden seyn“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 6, S. 157).
Im Juni 1783 ist das Manuskript fertig, denn GoetheGoethe, Johann Wolfgang sendet es mit einem Begleitbrief am 24. Juni 1783 an Charlotte von SteinStein, Charlotte von: „Hier liebe Lotte endlich den Werther, und die Lotte die auf dich vorgespuckt hat. […] Wenn du in dem Teutschen Manuscript Fehler findest mercke sie doch an“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 6, S. 175). Davon scheint Charlotte von Stein keinen Gebrauch gemacht zu haben, eindeutige Korrekturen von ihrer Hand sind jedenfalls im Manuskript nicht zu erkennen. Und der Nachweis ihrer Korrekturhand auf der Ebene von Buchstaben oder Satzzeichen ist unmöglich.
Doch auch jetzt bleibt das Manuskript wieder lange liegen. Erst am 15. August 1785 ist der nächste Hinweis auf die Überarbeitung belegt. Goethe schreibt an den Herzog Carl August (Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach1757–1828): „Auch ich habe von den Leiden des iungen Werthers manche Leiden und Freuden unter dieser Zeit gehabt. Ich freue mich nun noch zum Schlusse auf das Bildgen das Sie mir bringen“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 76). Wiederum in einem Brief an Charlotte von Stein heißt es ein knappes Jahr später am 25. Juni 1786: „Ich korrigire am Werther und finde immer daß der Verfasser übel gethan hat sich nicht nach geendigter Schrifft zu erschiesen“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 231). Erst am Ende dieses Monats offeriert Goethe das Manuskript als ersten Band seiner Sämtlichen SchriftenSämtliche Schriften (Goethe) den Verlegern Friedrich Justin BertuchBertuch, Friedrich Justin (1747–1822) und GöschenGöschen, Georg Joachim. In einem Briefentwurf oder einem Exzerpt gleichlautender Briefe an Bertuch und Göschen ist zu lesen:
„Ihnen sind die Ursachen bekannt, welche mich endlich nöthigen eine Sammlung meiner sämmtlichen Schriften, sowohl der schon gedruckten, als auch der noch ungedruckten, herauszugeben.
Von der einen Seite droht wieder eine neue Auflage, welche, wie die vorigen, ohne mein Wissen und Willen veranstaltet zu werden scheint, und jenen wohl an Druckfehlern, und andern Mängeln und Unschicklichkeiten ähnlich werden möchte; von der andern Seite fängt man an meine ungedruckten Schriften, wovon ich Freunden manchmal eine Copie mittheilte, stückweise ins Publikum zu bringen.
Da ich nicht viel geben kann, habe ich immer gewünscht das Wenige gut zu geben, meine schon bekannten Werke des Beyfalls, den sie erhalten, würdiger zu machen, an diejenigen, welche geendigt im Manuscripte daliegen, bey mehrerer Freyheit und Muse den letzten Fleiß zu wenden, und in glücklicher Stimmung die unvollendeten zu vollenden. Allein dieß scheinen in meiner Lage fromme Wünsche zu bleiben; ein Jahr nach dem andern ist hingegangen, und selbst jetzt hat mich nur eine unangenehme Nothwendigkeit zu dem Entschluß bestimmen können, den ich dem Publiko bekannt gemacht wünschte.
Sie erhalten in dieser Absicht eine Vertheilung meiner sämmtlichen Arbeiten in acht Bänden“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 234f.).
Der erste Band sollte die Zueignung an das deutsche PublikumZueignung an das deutsche Publikum sowie Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers enthalten. Mit Blick auf dieses Projekt der Sämtlichen SchriftenSämtliche Schriften (Goethe) teilt GoetheGoethe, Johann Wolfgang bereits am 6. Juli 1786 Charlotte von SteinStein, Charlotte von mit:
„Mit GöschenGöschen, Georg Joachim bin ich wegen meiner Schrifften einig, in Einem Punckte hab ich nachgegeben, übrigens hat er zu allem ja gesagt, er wird auf einer Reise nach Wien durch Karlsbad kommen.
So mag denn das auch gehn. HerderHerder, Johann Gottfried hat den Werther recht sentirt und genau herausgefunden wo es mit der Composition nicht just ist. Wir hatten eine gute Scene, seine Frau wollte nichts auf das Buch kommen lassen und vertheidigte es aufs beste.
Wieland geht die Sachen auch fleisig durch und so wird es mir sehr leicht, wenigstens die vier ersten Bände in Ordnung zu bringen, die vier letzten werden mehr Mühe machen“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 7, S. 237).
Goethes Phase der Überarbeitung des Werthers rückt also in den Kontext der geplanten Ausgabe. Das bedeutet, dass er alle seine bis dahin erschienenen Schriften einer inhaltlichen Revision unterzieht. Dies erklärt auch, weshalb Goethe neben der zeitlichen Belastung durch seine Amtsgeschäfte die Überarbeitung des Werthers immer wieder unterbrechen und liegen lassen musste. Den Brief vom 20. August 1786 an Charlotte von Stein schließt er mit den Worten ab: „Mit Werthern geths [!] vorwärts“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 5). Zwei Tage später am 22. August 1786, notiert er:
„Nun muß ich auch meiner Liebsten schreiben, nachdem ich mein schweerstes Pensum geendigt habe. Die Erzählung am Schlusse Werthers ist verändert, gebe Gott daß sie gut gerathen sey, noch weis niemand nichts davon, Herder hat sie noch nicht gesehn. Kaum ist’s physisch möglich daß ich vor meinem Geburtstag fertig werde, doch hoff ich noch, geht es; so erleb ich diesen Tag nicht hier“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 6).
Über Herders Meinung zum veränderten Schluss kann er dann am 1. September 1786 an Frau von Stein berichten: „Herder hat sehr treulich geholfen, und über das Ende Werthers ist die Sache auch entschieden. Nachdem es Herder einige Tage mit sich herumgetragen hatte, ward dem Neuen der Vorzug eingeräumt. Ich wünsche daß dir die Verändrung gefallen und das Publicum mich nicht schelten möge“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 11). Dem Verleger Göschen teilt er unter dem Datum vom 2. September 1786 mit, dass er seinen Sekretär SeidelSeidel, Philipp Friedrich mit den Manuskripten schicken werde. Weiter schreibt er:
„Ich lege verschiedene Bemerckungen hier bey, die Bezug auf den Druck haben, machen Sie davon beliebigen Gebrauch, ein kluger Korrektor muß am Ende doch das beste thun.
Käme ja ein Fall vor, über den man sich nicht zu entscheiden wüßte, so ersuch ich Sie deshalb, direckt bey dem Herrn Generalsuperintendent Herder in Weimar anzufragen. […] er wird entweder mit mir über die Sache reden, oder sie selbst entscheiden, welches ich zum voraus alles genehmige.
Eben so bitt ich auch, die Proben des Drucks, und in der Folge die Aushängebogen an Hrn. Generalsuperintendent zu überschicken“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 8, S. 15).
GoetheGoethe, Johann Wolfgang räumte damit HerderHerder, Johann Gottfried und in geringerem Umfang auch WielandWieland, Christoph Martin weitgehende Vollmachten in Fragen der Verbesserung des Manuskripts und des Drucks seines Romans ein.
Der Textzeuge H ist mithin für die EditionsphilologieEditionsphilologie des WerthersDie Leiden des jungen Werthers unverzichtbar. Nachweislich bietet die Weimarer Ausgabe nicht alle Abweichungen der Handschrift von der Druckfassung 1787. Die Differenzen zwischen Handschrift und Druck der Zweitfassung sind aber stellenweise beträchtlich. Um nur einige wenige Beispiele der Unterschiede zwischen Druckfassung und Handschriftenfassung zu benennen: „Bauerhäusern“ statt „Bauerhöfen“ (AA, S. 12)25, „Lottchens“ statt „Lottens“ (AA, S. 23), „geben Sie nur mehr Aufträge“ statt „geben Sie mir nur mehr Aufträge“ (AA, S. 46), „am 16. Junius“ statt „am 16. July“ (AA, S. 90), „herauf schnellten“ statt „herauf schellten“ (AA, S. 147), „zu einem Gange nach Werthern“ statt „nach einem Gange nach Werthern“ (AA, S. 152), „im blauen Frack“ statt „im grauen Frack“ (AA, S. 157). Die Weimarer Ausgabe stellt demgegenüber klar, dass alle Änderungen der Handschrift und offenbaren Fehler rückgängig gemacht werden, die aus den unterschiedlichen Werther-Drucken bis 1787 stammen (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 351). Außerdem schränkt der Herausgeber selbst seinen editorischen Anspruch ein, und das ist philologischPhilologie gesehen mehr als nur eine Captatio benevolentiae: „Eiserne Consequenz in der Auswahl der mitgetheilten Lesarten ist nicht beabsichtigt, es musste dem Gefühle des aus der Überfülle schöpfenden Herausgebers überlassen bleiben, was ihm beachtenswerth zu sein schien“; er begründet dies mit der „die grösste Sorgfalt ermüdenden Masse von Varianten“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 352). Gelegentlich finden sich also auch im Anmerkungsapparat der Weimarer Ausgabe Lese- oder Druckfehler und stillschweigende Berichtigungen, die editionsphilologischEditionsphilologie problematisch bleiben.
Im Kommentar zur Weimarer Ausgabe heißt es über H lapidar: „Diese für den Druck bereitete Handschrift wird im GoetheGoethe, Johann Wolfgang- und SchillerSchiller, Friedrich-Archiv aufbewahrt“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 329). Mit der Edition von 1999 werden eine weitere Stufe der Text- und Druckgenese des WerthersDie Leiden des jungen Werthers und ein wichtiges philologisches Instrument der Goethe-PhilologiePhilologie zugänglich gemacht.
Mit Goethe gegen Goethe ließe sich in den Worten Werthers sagen, dass „ein Autor, durch eine zweite veränderte Auflage seiner Geschichte, und wenn sie noch so poetisch besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden muß“26. Ob Schaden oder nicht – die entscheidenden Merkmale der Umarbeitung sind diese, erstens: Ist die Erstfassung Zeugnis des kraftgenialischen Stils der Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang27, so tilgt die Zweitfassung exakt dieses Merkmal. Sie versucht, die sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten und Freiheiten einzuebnen und einer konventionalisierten Sprachprosa anzugleichen. Zweitens: Zum Titel sei nur so viel bemerkt: Die oft zu lesende Form des Titels mit der schwachen Flexion des Namens: „[…] des jungen Werther“ statt „[…] des jungen Werthers“, taucht schon zeitgleich als Titelvariante zur Zweitfassung auf. Die meisten von dieser Druckfassung abgeleiteten Titelauflagen und Druckvarianten behalten aber die starke Flexion des Namens („Werthers“), lediglich der Artikel fällt weg. Die schwache Flexion ohne Genetiv-‚s‘ findet sich erstmals in einer Werther-Ausgabe von 1787, die als Nachdruck einer Titelauflage der Titelauflage (!) der Zweitfassung von 1787 gilt. Diese Ausgabe wird mit der Sigle D3b belegt.28 Im gleichen Jahr erscheint noch eine weitere Druckvariante mit schwacher Titelflexion, doch setzt sich dies erst von der Ausgabe Die Leiden des jungen Werther. Neue Ausgabe, von dem Dichter selbst eingeleitet (Leipzig, Weygandsche Buchhandlung 1825) an durch, die bereits 1824 erschienen war, wegen des 50-jährigen Druckjubiläums der Erstausgabe aber auf 1825 datiert wurde.29 Drittens: Die Neuformulierungen, Umstellungen, Textkürzungen und andernorts Texterweiterungen im Roman-Herausgeberbericht der Zweitfassung, die durch den Paralleldruck gut sichtbar werden, unterstreichen dessen narrative Bedeutung. Viertens: Das signifikante Kennzeichen von Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang, die Elision, die das assoziative und eruptive, sich nicht an den Sprachregelungen und Ordnungsmustern verständiger Rede orientierende individuelle Sprechen dokumentieren soll, wird nun in der Zweitfassung getilgt. Fünftens: Auf zeitgenössische Schicklichkeitsstandards und auf gesellschaftliche Scham- und Peinlichkeitsschwellen wird in der Zweitfassung Rücksicht genommen, so wird beispielsweise das Wort Hose in Beinkleider geändert. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde eine Reihe von signifikanten Änderungen im Wortbestand und Wortgebrauch nachgewiesen, die eine auffällige Verschiebung weg von den Sturm-und-Drang-typischen Kraftausdrücken hin zu einer konventionalisierten Sprachform dokumentieren.30 Der lemmatisierte Index31 und die zu erwartende wortstatische Auswertung eines digitalisierten WertherDie Leiden des jungen Werthers-Textes können diese Ergebnisse der älteren Werther-Forschung sehr präzise ergänzen. Das Wort Kerl wird in der Zweitfassung fast restlos getilgt. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: in der Erstfassung von 1774 gebraucht GoetheGoethe, Johann Wolfgang das Wort Kerl 15-mal und Kerlchen ein einziges Mal.32 In der Zweitfassung von 1787 tauchen die Wörter Kerl und Kerlchen jeweils nur noch einmal auf und wurden vermutlich bei der Korrektur übersehen.33 Nach AdelungAdelung, Johann Christophs Grammatisch-kritischem WörterbuchGrammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793ff.) wird Kerl „nur noch in der niedrigen, höchstens niedrig-vertraulichen Sprechart, am häufigsten aber von geringen Personen gebraucht“34. Diese Sprachbereinigung veranschaulicht eindrücklich die gesellschaftlich-politische Intentionalität von historischen Sprachregelungen. Sechstens: Fremdwörter werden aufgelöst. Die zweite WertherDie Leiden des jungen Werthers-Fassung wird also insgesamt aus dem Kontext der Sturm-und-Drang-LiteraturSturm und Drang und ihrer Protesthaltung herausgelöst und zu einem Initiationstext der goetheschen Weimarer Klassik.
Der Werther hat bei der jungen Generation der Zeit durchaus Zuspruch erfahren, der Roman wurde auch als ein Befreiungsversuch von den Schreibkonventionen der AufklärungAufklärung rezipiert. Dem stand die barsche Ablehnung bei den Vertretern einer orthodoxen Aufklärung gegenüber. Auf Antrag der theologischen Fakultät der Universität Leipzig untersagte beispielsweise der Rat der Stadt den Verkauf des Romans. In ihrer Begründung schrieben die Theologen, der Selbstmord werde verteidigt und geradezu empfohlen. Die Selbstmordfälle würden sich häufen. Außerdem wurde der Roman als sittlich gefährdend aufgefasst, er könne „üble Impressiones“ machen, „welche, zumal bey schwachen Leuten, Weibs-Personen, bey Gelegenheit aufwachen, und ihnen verführerisch werden können“.35 Das Verbot, Werther-Tracht zu tragen, blieb in Leipzig bis 1825 in Kraft. In Dänemark wurde eine Übersetzung des Werthers sogar verboten, während in anderen europäischen Staaten der Roman unverzüglich übersetzt wurde. In Hamburg eiferte Hauptpastor GoezeGoeze, Johann Melchior gegen GoethesGoethe, Johann Wolfgang Roman. Seine Ablehnung fasste er in den Worten zusammen: „Alles dieses wird mit einer, die Jugend hinreissenden Sprache, ohne die geringste Warnung oder Misbilligung erzählt: vielmehr schimmert die Zufriedenheit und Achtung des Verfassers für seinen Helden allenthalben durch“36. Goeze belegt den WertherDie Leiden des jungen Werthers mit dem moralischen Bann einer rhetorischen Frage: „Welcher Jüngling kann eine solche verfluchungswürdige Schrift lesen, ohne ein Pestgeschwür davon in seiner Seele zurück zu behalten, welches gewiß zu seiner Zeit aufbrechen wird“37. Und weiter fragt er: „Und keine Censur hindert den Druck solcher Lockspeisen des Satans?“38 Auf der anderen Seite hat er klar erkannt, dass es im Roman um das Thema LeidenschaftenLeidenschaften geht: „Was ist die platonische Liebe zwischen zwo jungen Personen von beyden Geschlechten? eine leere Abstraction.“39
Diese Zitate machen deutlich, weshalb es unverzichtbar ist, den WertherDie Leiden des jungen Werthers in der unverstellten Textdarbietung der Erstfassung zu lesen, wenn man die zeitgenössische RezeptionRezeption mit all ihrer positiven und negativen Wucht verstehen will. Werden diese sprachlichen Besonderheiten im editorischen Übereifer geglättet, ist zugleich jener Stachel gezogen, wider den GoezeGoeze, Johann Melchior und viele andere löckten. Regelrecht harmlos nimmt sich dagegen dieses kritische Epigramm aus:
„‚Auf die Leiden des jungen Werthers.‘
Leid wär’ es mir, wenn jemand mehr als ich
Das Schöne dieser Schrift empfände;
Lieb wär’ es mir, wenn beßrer Inhalt sich
In ihr mit Geist und Witz verbände.“40
Im Jahr 1985 wurde zeitgleich mit der Herausgabe von zwei großen GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Ausgaben begonnen, die alle Texte edieren sollten: die Münchner Ausgabe (MA) und die Frankfurter Ausgabe (FA). Anliegen von MA ist es, Goethes Werke innerhalb der Edition nicht nach Gattungen anzuordnen, wie es traditioneller Weise üblich ist, sondern chronologisch, eben nach Epochen von Goethes Schaffen. Bei der Textdarbietung des Werthers legt MA den Erstdruck von 1774 in der Textgestalt von Fischer-Lamberg zugrunde und weicht in fünf, allerdings marginalen Lesarten davon ab (vgl. Goethe: MA, Bd. 1.2). Die Darbietung der Zweitfassung von 1787 folgt der Textgestalt der AA in dem Irrtum, AA biete die Handschrift H (vgl. Goethe: MA, Bd. 2.2, S. 851). Innerhalb von FA erschien 1994 ein Paralleldruck von GoethesGoethe, Johann Wolfgang WertherDie Leiden des jungen Werthers (vgl. Goethe: FA, Abt. I, Bd. 8). Unter Beiziehung der Erstausgabe folgt die Textdarbietung der Edition von Fischer-Lamberg (vgl. Goethe: FA, Abt. I, Bd. 8, S. 959). Die zweite Fassung übernehme die Textdarbietung nach AA von 1954, die wiederum der Handschrift H folge, was aber ebenfalls ein Irrtum ist. Mit dem Paralleldruck der Studienausgabe von 1999 werden die beiden Fassungen von Goethes Werther aus den Jahren 1774 und 1787 in einem wortgetreuen Paralleldruck wiedergegeben. Über den prinzipiellen Vorzug von Paralleldrucken wurde das Nötige gesagt.41 In drei wesentlichen Punkten unterscheidet sich diese Ausgabe von den maßgeblichen Editionen der Akademie Ausgabe, der Frankfurter Ausgabe, der Hamburger Ausgabe, der Münchner Ausgabe und der Weimarer Ausgabe, oder auch Sophien-Ausgabe genannt. Erstens: Die Textdarbietung beider Fassungen ist nicht modernisiert. Zweitens: Die Emendationen und Konjekturen, die Fischer-Lamberg vorschlägt und denen die bisherigen Werther-Editionen nahezu ausnahmslos gefolgt sind, werden in dieser Ausgabe wieder rückgängig gemacht oder verworfen. Drittens: Die zweite Werther-Fassung von 1787 wird nicht nach einem Mischtext aus Druckfassung und Handschrift wiedergegeben (wie in AA und ihr folgend FA), sondern ausschließlich nach der Druckfassung von 1787.
Stattdessen ist im Fall des Werthers der Textus receptusTextus receptus zu priorisieren. Der Begriff Textus receptus ist der theologischen, wissenschaftlichen TextkritikTextkritik, genauer der Bibelkritik entnommen, ohne allerdings auf die ideologische Auseinandersetzung um diesen Begriff innerhalb der TheologieTheologie zu zielen, geht es dabei doch stets um die Frage der Gotteswahrheit des überlieferten Textes. Der überlieferte Text und der rezipierte Text hingegen müssen nicht identisch sein. Textus receptus meint eben dies: den rezipierten, den aufgenommenen, den wirkenden Text oder Textzeugen. Damit ist also schlicht jener Text gemeint, der rezipiert wurde, unabhängig vom Maßstab eines editorisch vermeintlich besten Textes. Denn in diesem Punkt übersieht die EditionsphilologieEditionsphilologie allzu leicht, dass auch Fehler oder korrupte Textstellen rezipiert werden und auch der scheinbar schlechte oder korrupte Text, der Textzeuge oder die Textstelle ungemeine Wirkung entfalten können. Die editionsphilologische, kritische Diskussion für die Darbietung des Textus receptus ist in den Philologien, in der Geschichte, in Mediävistik und Altphilologie, in Niederlandistik und Sinologie, in Romanistik und Hispanistik usw. Standard, in der Neueren deutschen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft hingegen keineswegs geläufig. Die Kriterien einer Ausgabe letzter Hand dominieren in der Regel die editionsphilologischen Entscheidungen. In Anlehnung an den Terminus der Editio princeps könnte man sinnvollerweise auch von einer Editio recepta sprechen.
Dem zu edierenden Text den Erstdruck zugrunde zu legen und das historische RezeptionsargumentRezeption geltend zu machen, dafür hat die GoetheGoethe, Johann Wolfgang-PhilologiePhilologie eine klare editorische Grundsatzentscheidung getroffen. Sie führt dabei einen Gesichtspunkt an, der für eine WertherDie Leiden des jungen Werthers-Ausgabe unverzichtbar ist. Die Entscheidung nämlich, nach dem Erstdruck eines Textes zu drucken, könne auch von der Empfehlung geleitet sein, dass von dem Text des Erstdrucks meist die nachhaltigste WirkungWirkung ausgehe: „er findet die stärkste Beachtung in den sich daran anschließenden Rezensionen und literarischen Auseinandersetzungen und besitzt unter dem Aspekt der Rezeption ein besonderes Gewicht“42.
Ernst Grumach hatte in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts schon den „‚Katholizismus‘ der Sophien-Ausgabe“43 und die „Ahistorizität der Sophien-Ausgabe“44 beklagt, womit er die Entscheidung der Herausgeber der Weimarer Ausgabe charakterisierte, die zweite Ausgabe der Ausgabe letzter HandAusgabe letzter Hand (Goethe) (1827/1842) zur Textgrundlage zu wählen und diesen Text zu kanonisieren, wovon die Editoren der Weimarer Ausgabe nur bei mehrheitlicher Entscheidung der Redaktoren abweichen durften. Im Rückblick auf die veränderten editorischen Standards der Goethe-Philologie konnte man 1991 unmissverständlich nachlesen: „Die seinerzeit für die Konzeption der Goethe-Akademie Ausgabe maßgebliche Entscheidung, von dem Prinzip der Fassung letzter Hand abzugehen und ihren Texten die Erstdrucke oder gegebenenfalls deren Druckvorlagen zugrunde zu legen, war das Ergebnis einer eingehenden textgeschichtlichen und textkritischen Analyse dieser Ausgabe“45.
Als 1774 GoethesGoethe, Johann Wolfgang erster Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers erschien, dachte niemand an die WirkungWirkung, die dieses Buch einmal haben würde. Nach einer mehr als zwei Jahrhunderte andauernden WirkungsWirkungsgeschichte- und RezeptionsgeschichteRezeptionsgeschichte kann man heute feststellen: Goethes Werther gehört zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur. Er hat Generationen von Lesern und Leserinnen nachhaltig beeinflusst. Wer also heute über die Wirkungslosigkeit von Literatur klagt, dem sei diese ungeheure europäische Wirkung des Werthers in Erinnerung gerufen. Kaum ein Buch hat bei seinem Erscheinen so viel Zustimmung und Ablehnung hervorgerufen wie dieses. Es war Anlass für euphorische Begeisterung über diese neue Art von Literatur ebenso wie Anlass für schärfste Zensurmaßnahmen, ja bei nicht wenigen auch Begleiter zum Freitod. Und eben auf diesen Wirkungsaspekt eines Textes kommt es an.46 Die Geschichtlichkeit der RezeptionRezeption ist um nichts weniger wichtig als die Geschichtlichkeit ihrer Texte.
Der schon nach dem Abschluss der Weimarer Ausgabe zu hörenden Meinung, die editorische Arbeit am Goethe-Text sei nun geleistet und man brauche keine neuen kritischen Ausgaben mehr, widersprach Ernst Grumach bereits 1950 entschieden. Der Glaube an das Ende der Goethe-PhilologiePhilologie finde
„seinen praktischen Ausdruck in der Gewohnheit, Goetheausgaben in Serienproduktionen herzustellen, indem man lediglich die höchst problematische Orthographie und Interpunktion der Sophien-Ausgabe durch ‚moderne Schreibung‘ ersetzt und sich von irgendeinem prominenten Literaturhistoriker ein ‚schönes Nachwort‘ schreiben lässt, ja wenn man einem vielbeachteten Ausspruch folgt, soll die Epoche der Goetheeditionen überhaupt abgeschlossen sein und die Forschung sich nunmehr, von der lästigen Sorge um Kommata befreit, nur noch der interpretatorischen und geistesgeschichtlichen Erfassung Goethes widmen können. […] Man gewinnt den Eindruck, daß die Zeit der Goethephilologie im guten und im schlechten Sinne des Wortes vorbei ist und daß sie mehr und mehr von einer Forschung verdrängt wird, deren Verdienste um die Deutung und historische Erschließung Goethes unbestritten bleiben sollen, die aber oft zu vergessen scheint, daß sie auf einem Text beruht und daß die Gültigkeit ihrer Ergebnisse durch die Güte dieses Textes bedingt ist. […] Ist die kritische Arbeit am Goethetext tatsächlich beendet?“47
Dass mit der Bereinigung von Druckfehlern und der Modernisierung von Schreibweisen nicht automatisch ein Text generiert werden kann, der dem Wortlaut der Erstausgabe gerecht wird, liegt auf der Hand. Gerade Modernisierungen, Emendationen und Konjekturen enthalten potenziell einen editionsphilologischenEditionsphilologie Overkill. Um nur drei editorisch höchst problematische Beispiele anzuführen: Im Brief vom 8. Dezember spricht Werther von „Ehrenämtern“48. Dieses Wort wird bei Fischer-Lamberg in „Ährenfeldern“49 verbessert. Nahezu alle späteren Ausgaben folgen ihr in dieser Emendation. In den Ausgaben mit dem WertherDie Leiden des jungen Werthers-Paralleldruck der AA und der FA bleibt „Ehrenämtern“ nach der Zweitfassung stehen. In FA bezieht sich die Verbesserung also nur auf die Erstfassung, während die AA jeweils korrekt nach der Vorlage druckt, also beide Male „Ehrenämtern“. FA bietet zudem die Variante „Ährenäckern“, da für sie eine „gravierende Textverderbnis“50 ausgemacht ist, die vermutlich von einem Hörfehler beim Diktat stamme. Das zweite Beispiel dreht sich sogar nur um einen einzigen Buchstaben, um ein r. Im Werther heißt es an jener Stelle, wo die Figur Werther umfangreich aus der Ossian-Übersetzung zitiert: „Du warst schnell o Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, schreklich wie die Nachtfeuer am Himmel, dein Grimm war ein Sturm. Dein Schwerdt in der Schlacht wie Wetterleuchten über der Haide. Deine Stimme glich dem Waldstrohme nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln. Manche fielen vor deinem Arm, die Flamme deines Grimms verzehrte sie.“51 Das „Manche fielen vor deinem Arm“ steht in der Erstfassung und in der Zweitfassung. Doch alle neueren wissenschaftlichen Werther-Ausgaben verbessern stillschweigend den Wortlaut der Erstfassung, nämlich „vor“ in „von“. Somit heißt die Textstelle nun: „Manche fielen von deinem Arm“. Fischer-Lamberg, MA und FA verbessern den Wortlaut der Erstfassung stillschweigend in „vor“. AA hält sich strikt an die Vorlage und druckt beide Male „vor“. FA folgt bei der Textwiedergabe der Erstfassung zwar der Verbesserung von Fischer-Lamberg, behält aber bei der Textwiedergabe der Zweitfassung den Wortlaut des Originals „vor“. Das editorische Problem wird damit unter der Hand zu einem interpretatorischen. ‚Von jemandes Arm fallen‘ bedeutet ‚durch jemandes Arm fallen‘, also von jemandem getötet werden. ‚Vor jemandes Arm fallen‘ kann hingegen ‚vor jemandem niederfallen‘ bedeuten und wäre demnach eine Unterwerfungsgeste. Im Übrigen hat GoetheGoethe, Johann Wolfgang selbst in der Handaschrift von 1786 an dieser Stelle nicht korrigierend in den Text eingegriffen. Hier hat die EditionsphilologieEditionsphilologie sorgfältig abzuwägen zwischen einer sinnentleerten Maschinerie der Selbstreproduktionen und einer kritiklosen Heiligsprechung des Textes, der dann als unangreifbar gilt, und demzufolge die konsequenteste Textwiedergabe schließlich das Faksimile wäre. Jener Christel von LaßbergLaßberg, Christel von, die sich am 16. Januar 1778 mit dem WertherDie Leiden des jungen Werthers in der Tasche in der Ilm ertränkte, wird es ziemlich gleichgültig gewesen sein, ob vor oder von die richtige Lesart ist.Ickstatt, Fanny vonBaumgartner, AntonNesselrode, F.G. von52
Drittes Beispiel: Einmal erklärt Albert unter dem Briefdatum vom 12. August Werther, weshalb er seine Pistolen ungeladen lässt, nachdem sie beim Putzen versehentlich abgefeuert wurden: „[…] und schießt den Ladstok einem Mädgen zur Maus herein, an der rechten Hand, und zerschlägt ihr den Daumen“53. Diese „Maus“ wird in den Kommentaren zum Werther gemeinhin als der Daumenmuskel identifiziert. Nicht auszuschließen ist aber, dass Goethe an dieser Stelle auf eine ursprünglich wissenschaftliche, später volkstümliche Vorstellung von der menschlichen Nervenleitung anspielt. Der Franzose Charles Le BrunLe Brun, Charles (1619–1690) erklärte die Erregungsleitung von den Gliedmaßen zum sinnlichen Teil der Seele, also jenem Teil, der die sinnlichen Wahrnehmungen koordiniert, der zeitgenössischen Säftetheorie entsprechend folgendermaßen:
„Die Bewegung aber geschiehet alleinig mittelst Veränderung der Mäußlein / welche nur an den eussersten Theilen der überzwerch hingehenden Nerven eine Bewegung haben: die Nerven hergegen thun alles vermittelst der Geister / so in denen Höhlen deß Gehirns sich aufhalten; das Gehirn aber bekomt die Geister aus dem Geblüt / so stetswehrend durch das Hertz hinlauffet / von welchem ersagtes Geblüt erhitzet / und dergestalten dünne gemacht wird / daß es ein gewises subtiles Wesen erzeuget / so es mit sich nach dem Hirn fortträgt / und dasselbe darmit anfüllet.“54
Umgangssprachlich hat sich diese Vorstellung mit den entsprechenden regionalen Varianten bis heute erhalten. Stößt man sich den Ellbogen ungeschickt und trifft den Nervus ulnaris, so ist einem ‚das Mäuschen in den Arm gefahren‘.
Insgesamt ist also deutlich geworden, dass die Weimarer Ausgabe bei allem Respekt vor der editorischen Leistung doch erhebliche Mängel transportiert, die nicht einfach stillschweigend übergangen werden können. So gehört auch jenes schreckliche Wort endgültig aus dem Textbestand der Weimarer Ausgabe getilgt, zu dem sich im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs 1915 der Bearbeiter Max HeckerHecker, Max am Ende des Eintrags zum Lemma ‚England‘ im Registerband hinreißen lässt: „Gott strafe England! 1915“. Nachzulesen im Band 54 der Weimarer Ausgabe, dem Registerband A bis L, erschienen 1916, S. 257.