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„EXPERIMENTALphilologie“. „Die Kunst der Fuge mit Wörtern“1

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„Ich schlage Ihnen deshalb vor, daß wir uns für die kurze Zeit dieses Gesprächs in einem kleinen Winkel der LiteraturtheorieLiteraturtheorie einrichten; außerdem werde ich diesen Punkt subjektiv abhandeln; ich werde im eigenen Namen und nicht von der Position der Wissenschaft aus sprechen, ich werde mich selbst befragen, ich, der ich die Literatur liebe“2. Diese Worte von Roland BarthesBarthes, Roland will ich mir zu eigen machen und im Folgenden Denkanstöße zu einer „EXPERIMENTALphilologieExperimentalphilologie“ geben, um diesen Begriff und die Denkbewegung Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich aufzugreifen. Er hat in seinen Heften zur Geschichte und PolitikHefte zur Geschichte und Politik als das „eigentliche Problem des Zeitalters“ für „die nächste Epoche (1800–2100)“ „die Wiedergeburth des Wortes“ erkannt.3

Der analytische Philosoph Donald DavidsonDavidson, Donald (1917–2003) bringt das, was Vertreter*innen der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft schon immer tun, auf die knappe Formel: „Das Ziel der InterpretationInterpretation ist nicht Übereinstimmung, sondern VerstehenVerstehen“4. „Metaphern sind die Traumarbeit der Sprache“5, schreibt Davidson im Kapitel Was Metaphern bedeuten. Traumarbeit der Sprache kann aber selbst schon wieder als Metapher verstanden werden, demnach wäre eine Metapher eine Metapher, ein zirkulärer Schluss. Davidson bringt aber eine wichtige Korrektur am semiologischen Diskurs über das eigentliche und das uneigentliche Sprechen an, denn seine These heißt: „Metaphern […] bedeuten, was die betreffenden Wörter in ihrer buchstäblichenbuchstäblich Interpretation bedeuten, sonst nichts“6. Das setzt aber voraus anzunehmen, dass es a priori eine buchstäbliche BedeutungBedeutung gibt. Wie steht das dann mit Wörtern wie ‚Gott‘, ‚Käse‘ oder ‚cis‘? Worin liegt deren buchstäbliche Bedeutung? Oder wie verhält es sich mit der Zahl 1774, die für die einen eine Zahl ist und für die anderen das Erscheinungsjahr von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Jahrhundertroman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers markiert? Wie verhält es sich mit einem Beispielsatz dieser Gestalt: Müller mahlen Getreide, Maler malen Bilder, beide ma(h)len? Das ist nur lautlich oder phonetisch korrekt wiederzugeben, orthografisch hingegen als Zeichen nicht eindeutig darstellbar.

Als einen Hauptfehler bezeichnet es DavidsonDavidson, Donald, einer Metapher zusätzlich zu ihrer buchstäblichenbuchstäblich BedeutungBedeutung oder ihrem buchstäblichen Sinn (dieses Wort gebraucht Davidson an dieser Stelle) eine weitere Bedeutung oder einen weiteren Sinn zuzuschreiben.7 Er provoziert mit der Feststellung: „Wenn ich recht habe, sagt die Metapher gar nichts, was über ihre buchstäbliche Bedeutung hinausginge (auch wer die Metapher bildet, sagt durch die Verwendung der Metapher nichts, was über das Buchstäbliche hinausgeht)“8. Davidson hat nicht recht. Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft leben nachgerade von der Annahme, dass es jenseits der buchstäblichen Bedeutung eines Worts oder eines Textes auch eine nicht-buchstäbliche Bedeutung gibt. Somit geht es nicht darum, den Beweis erbringen oder nicht erbringen zu können, ob eine Metapher, ob ein Wort eine objektive nicht-buchstäbliche Bedeutung haben könne, sondern es geht allein um die Tatsache der Annahme einer solchen nicht-buchstäblichen Bedeutung.

Über den Vergleich meint Davidson, dass „die Literaturtheoretiker“ nicht annehmen würden, ein Vergleich bedeute etwas anderes, „als was an der Oberfläche der Wörter liegt“.9 Auch wenn sich diese Aussage auf den Vergleich bezieht, so ist doch kritisch festzuhalten, dass selbst ein Vergleich eine Metapher sein kann oder in Davidsons Perspektive ein Vergleich auch eine Metapher gebrauchen kann. Und so betrachtet wird Davidsons Annahme falsch, denn weshalb sollte die LiteraturtheorieLiteraturtheorie eine ‚andere‘ Bedeutung als diejenige, die auf der buchstäblichen Bedeutungsebene eines Wortes oder eines Textes zu erkennen ist, ausschließen oder gar leugnen? Am Ende betont Davidson nochmals, die Annahme, eine Metapher habe einen nicht-buchstäblichen Ausdruck, sei schlicht falsch. Es gebe keine „verborgene Botschaft“10. Somit ist die Eingangsfrage seiner Untersuchung: „Was heißt es, daß Wörter bedeuten, was sie nun einmal bedeuten?“11, dahingehend zu ergänzen, dass man danach fragt: Wer sagt, dass Wörter das bedeuten, was sie nun einmal bedeuten? Diese Bedeutungssicherheit reklamiert einen Wahrheitsanspruch, der sich mit dem Gegenstand der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, der LiteraturLiteratur selbst, nicht verträgt. Denn Literatur geht es nie um Wahrheit, sondern um ästhetischeÄsthetik Schönheit, die jedes Kunstwerk per se für sich reklamiert, wie auch immer und zu welcher Zeit auch immer Schönheit inhaltlich erklärt wird.

Als Hermann HesseHesse, Hermann 1941 ein Nachwort für die schweizerische Ausgabe seines Romans Der SteppenwolfDer Steppenwolf (1927), der in Nazideutschland nicht mehr nachgedruckt werden durfte, schrieb, leitete er es mit diesen bemerkenswerten Worten ein:

„Dichtungen können auf manche Arten verstanden und mißverstanden werden. In den meisten Fällen ist der Verfasser einer Dichtung nicht die Instanz, welcher eine Entscheidung darüber zusteht, wo bei deren Lesern das Verständnis aufhöre und das Mißverständnis beginne. Schon mancher Autor hat Leser gefunden, denen sein Werk durchsichtiger war als ihm selbst. Außerdem können ja auch Mißverständnisse unter Umständen fruchtbar sein.“12

An anderer Stelle im Roman selbst führt Hesse aus, dass MusikMusik und Dichtung von einer „Sprache ohne Worte“ träumten, „welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt“13. Was dem Autor Hesse längst bekannt war, hat der 2016 verstorbene italienische Semiotiker und Romancier Umberto EcoEco, Umberto systematisch ausgearbeitet. 1962 veröffentlichte er sein Buch Opera apertaOpera aperta, das unter dem Titel Das offene KunstwerkDas offene Kunstwerk in deutscher Übersetzung vorliegt. Darin entwickelt er eine „Poetik des ‚offenen‘ Kunstwerks“14, und es ist nun zu zeigen, worin der Unterschied zwischen einer Poetik des offenen Kunstwerks und einer POETIKPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, für die ich hier plädiere, besteht.Bedeutungsoffenheit15 Die in seinem Buch versammelten Aufsätze will Eco als Beiträge zur abendländischen KulturgeschichteKulturgeschichte verstanden wissen, die auch eine Geschichte der Poetiken beinhalte.16 EcoEco, Umberto denkt eine KulturgeschichteKulturgeschichte unter dem besonderen Gesichtspunkt der Poetiken, wobei Poetik als ein „Operativprogramm“17 verstanden wird. In seinem Eingangsessay Die Poetik des offenen Kunstwerks umreißt er am Beispiel der modernen MusikMusik von StockhausenStockhausen, Karlheinz, BerioBerio, Luciano, PousseurPousseur, Henri und BoulezBoulez, Pierre, was Offenheit bedeutet. EcoEco, Umberto reklamiert die Freiheit des Interpreten bei der Aufführung bestimmter, moderner Musikstücke als eine Offenheit, die dem Kunstwerk eignet. Ästhetikgeschichtlich gesehen hat hier eine Verschiebung hin zur ausschließlichen Dominanz der RezeptionRezeption in der ästhetischen Erfahrung stattgefunden, denn es geht nicht mehr um eine InterpretationInterpretation, also DeutungDeutung, eines Kunstwerks durch verschiedene Aufführungstechniken oder persönliche Überzeugungen und kontextuelle Bedingungen, sondern es geht bei Eco um die kreative Mitarbeit des Interpreten in der Aufführung. Die freie Willkürlichkeit in der Aufführung wird dadurch aber begrenzt, dass die Stücke selbst der Logik einer kombinatorischen Struktur folgen. Diese Kombinatorik, die in anderen Fällen in einer AleatorikAleatorik aufgeht, ist eine Art Grundregel dieser Offenheit. Diese offenen Kunstwerke werden erst durch den Interpreten „vollendet“18. Heutzutage sei diese Offenheit Teil des produktiven Programms eines Kunstwerks. Diese Passage in Ecos Buch bleibt historisch unscharf. Gesetzt den Fall, dass eine Interpretin ein Kunstwerk interpretiert, das nicht erklärtermaßen diese Grundregel der Kombinatorik und des produktiven Programms verfolgt, ist dieses Kunstwerk dann nicht offen? Mit Eco gegen Eco ließe sich sagen: „Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt“19. Doch die Beispiele, die Eco wählt, sind alle der modernen Musik oder der LiteraturLiteratur der ModerneModerne entnommen. Obwohl Eco bereits zu Beginn seines Buchs die Kategorie der Offenheit „im Sinne einer fundamentalen Ambiguität der künstlerischen Botschaft“ als eine „Konstante jedes Werkes aus jeder Zeit“ begreift,20 verliert sich dieser Aspekt zunehmend.

Wenn nun alles Zeichen ist und der Mensch als symbolischesSymbol Wesen begriffen wird, so wäre die Ausweitung der Semiotik zu einer KultursemiotikKultursemiotik nur schlüssig.21 Demgegenüber behauptet eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT die Unabhängigkeit der Offenheit von kontingenten historischen oder poetologischen Normen. Jedes Kunstwerk wird erst im Akt der Wahrnehmung, dem Zustand der ästhetischen Erfahrung, als Kunstwerk realisiert. Die mittelalterliche Theorie der AllegoreseAllegorese, wonach die InterpretationInterpretation biblischer Texte (und mutatis mutandis der Literatur und der bildenden Kunst) stets die DeutungDeutung im Hinblick auf den buchstäblichenbuchstäblich SinnSinn, den allegorischenallegorisch Sinn, den moralischen Sinn und den anagogischen Sinn verfolgt, unterliege einer begrenzten und streng definierten Offenheit. Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang jene Textstelle aus dem zwischen 1316 und 1320 entstandenen Schreiben an Cangrande della ScalaSchreiben an Cangrande della Scala des Dante AlighieriAlighieri, Dante (1265–1321), wo er im 20. Abschnitt über seine Divina commedia (1307/1321) darlegt:

„Zur Verdeutlichung des zu Sagenden muß man deshalb wissen, daß dieses Werk nicht eine einfache Bedeutung hat, vielmehr kann es polysem genannt werden, das heißt mehrdeutig. Denn die erste Bedeutung ist jene, die es durch den Buchstaben hat, die andere ist jene, die es durch das vom Buchstaben Bezeichnete hat. Und die erste wird die buchstäbliche genannt, die zweite aber die allegorische oder moralische“22.

Dante weist auf die etymologische Herkunft und Bedeutung des Wortes AllegorieAllegorie hin, das im Griechischen und Lateinischen Anderes oder Verschiedenes bedeute und verweist damit auf den Bedeutungshorizont der Anders-Rede.23 EcoEco, Umberto betont nun, die Rezipienten könnten lediglich zwischen jenen vier Textsinnebenen wählen. Damit würden sich die vier Lesemöglichkeiten eines mittelalterlichenMittelalter und frühneuzeitlichenFrühe Neuzeit, allegorischen, geschlossenen Kunstwerks von den zahlreichen möglichen Interpretationen eines modernen, offenen Kunstwerks unterscheiden. Historisch ist dies exakt argumentiert, aber wenn man jenseits einer historisierenden Deutung die grundsätzliche BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit eines Kunstwerks annimmt, verliert Ecos Aussage an Stichhaltigkeit.

EcoEco, Umberto bringt nun den literarischen SymbolismusSymbolismus ins Spiel, der erstmals eine bewusste Form einer Poetik des offenen Kunstwerks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt habe. Als Beispiel wählt er das Gedicht Art PoétiqueArt Poétique (1882) von Paul VerlaineVerlaine, Paul (1844–1896). Stéphane MallarméMallarmé, Stéphane (1842–1898) ginge noch radikaler vor, seine Poetik lasse sich in einem Satz zusammenfassen: „Es muß vermieden werden, daß ein einziger SinnSinn sich aufdrängt“24, dies generiere eine Poetik des Andeutens. Ein Großteil der modernenModerne LiteraturLiteratur beruhe, so führt Eco weiter aus, auf dem Gebrauch des SymbolsSymbol und er nennt – neben James JoyceJoyce, James und dessen UlyssesUlysses-Roman – als Beispiel Franz KafkasKafka, Franz Werk. „Im Unterschied zu den allegorischen Konstruktionen des Mittelalters [sind] die mitschwingenden Bedeutungen hier nicht in eindeutiger Weise vorgegeben“25. Verwandlung, Verurteilung, Schloss und Prozess gehören bei Kafka als Generalsymbole dazu. An dieser Stelle greift Eco auf den Begriff der Ambiguität zurück und grenzt nun die Kategorie der Offenheit entscheidend ein. Er übernimmt den Begriff der perzeptiven Ambiguität aus Psychologie und Philosophie.26 Der Mangel dieses Begriffsgebrauchs liegt aber darin, dass er in der Regel die Doppeldeutbarkeit eines Textes meint, nicht aber die Bedeutungsoffenheit. Galt diese bislang dem Kunstwerk schlechthin, so wird sie nun zum Signum des ausschließlich modernen Kunstwerks, das die aktive Mitarbeit der Rezipierenden bedingt. Offenheit charakterisiert die Gegenstandsseite der rezeptiven Erfahrungsseite des deutenden Subjekts.

Ecos Bemühen, das offene Kunstwerk weiter einzugrenzen und den Term Kunstwerk in Bewegung einzuführen kann hier vernachlässigt werden. Denn legt man seine strengen Definitionen von Permutation und Kombinatorik als Maßstab zugrunde, so trifft dieser Begriff des Kunstwerks in Bewegung nur auf einen sehr kleinen Kreis ausgewählter, experimenteller Literatur zu. An anderer Stelle habe ich diese Art von Literatur die aleatorische Literaturaleatorische Literatur genannt und an Beispielen nicht nur aus der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte ausgeführt.27 Die populärsten Beispiele sind sicherlich Andreas OkopenkosOkopenko, Andreas Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden RomanLexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden Roman (1970) und die Hunderttausend Milliarden GedichteHunderttausend Milliarden Gedichte (1961) in Lamellenform als kombinatorisches Ergebnis der zugrunde liegenden zehn Sonette von Raymond QueneauQueneau, Raymond in der Übersetzung von Ludwig HarigHarig, Ludwig aus dem Jahr 1984.

Die Poetik des Kunstwerks in Bewegung (und damit teils die Poetik des offenen Kunstwerks) schaffe völlig neue „praktische Probleme dadurch, daß sie kommunikative Situationen und eine neue Beziehung zwischen Betrachtung und Verwendung des Kunstwerks“28 generiere. Allerdings ist, das lässt sich kritisch einwenden, die Funktionalität und die Funktionalisierbarkeit eines Kunstwerks etwas völlig anderes als seine BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit. Außerdem kann dem entgegengehalten werden, dass eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT benötigt wird und möglicherweise geht diese Poetik – und vieles deutet darauf hin, wenn man sich die Entwicklung moderner Formen von Kompositionen, Bildern, Skulpturen, Texten vor Augen führt – in eine ÄsthetikÄsthetik der Bedeutungsoffenheit über. Wenn man noch einmal einen textualistischen KulturbegriffKulturbegriff bemühen will, so kann man auch von einer Textur der Bedeutungsoffenheit sprechen, die demnach auch Handlungen etc. miteinschließt und ihren performativen Charakter betont.

EcoEco, Umberto unterscheidet zwischen dem freien Gebrauch eines Textes und dessen InterpretationInterpretation. Aus Sicht des Semiotikers ist ein Text „nichts anderes als die Strategie, die den Bereich seiner […] Interpretationen konstituiert“29. Für diese Begrenzung des Diskursbereichs muss man aber einen Gestaltungswillen annehmen, der ein Autorwille, ein Textwille (möglicherweise gegen den Autorwillen) oder ein Leserwille sein kann, ließe sich einwenden. Eco beschreibt an anderer Stelle das Zusammenwirken von intentio operis und intentio lectoris als ein dialektisches Verhältnis. Im Unterschied zur Leserintention sei es unmöglich genau anzugeben, was eine Textintention meinen könne, da die Intention eines Textes niemals offen zutage liege.30

Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich (1772–1829) bietet in den Heften zur PhilosophieHefte zur Philosophie (1794–1818), Philosophische Fragmente. Zweite Epoche I drei Aphorismen, die eine hermeneutischeHermeneutik Selbstzufriedenheit herausfordern. Nr. 1515 lautet: „Die Frage, was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die was das Werk sei, nicht“31, Nr. 1503: „Das Verstehen mit dem Sinn ist ein Aneignen des Keims, ein Empfangen, Wachsen, Blühen. Können alle Früchte auf jedem Boden wachsen? – Mitnichten!“32 Und Nr. 984: „Der Buchstabe jedes Werks ist Poesie, der Geist Philosophie.“33 Das korreliert durchaus mit Schlegels Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 93: „Die Lehre vom Geist und BuchstabenBuchstaben ist unter andern auch darum so interessant, weil sie die Philosophie mit der Philologie in Berührung setzen kann.“34 Mit der Zeitschrift Athenäum hatten die Brüder August WilhelmSchlegel, August Wilhelm und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich zusammen mit dem Theologen Friedrich Daniel Ernst SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834) ein Forum für die Diskussion und Verbreitung romantischen Denkens und Schreibens geschaffen. Ihr damit verknüpfter Anspruch war kein geringer. Friedrich Schlegel schreibt am 31. Oktober 1797 an seinen Bruder:

„Denk Dir nur den unendlichen Vortheil, daß wir alles thun und lassen könnten, nach unserm Gutdünken. […] Ein andrer großer Vortheil dieses Unternehmens würde wohl seyn, daß wir uns eine große Autorität in der Kritik machen, hinreichend, um nach 5–10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu seyn, die Allgemeine Litteratur-Zeitung zu Grunde zu richten, und eine kritische Zeitschrift zu geben, die keinen andren Zweck hätte als Kritik“35.

Im Gespräch über die PoesieGespräch über die Poesie (1800) heißt es mit Blick auf die „Einteilung in Geist und BuchstabenBuchstaben“, es sei nicht einzusehen, weshalb man sich nur an den „Buchstaben des Buchstabens“ halten solle und nicht auch der allegorischen Deutungallegorische Deutung Raum zugestehen könne.36 Damit ist wieder die Spannung von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und symbolischer Deutungsymbolische Deutung umschrieben.

Die Aphorismen und Notizen Aus den Heften zur Poesie und LiteraturAus den Heften zur Poesie und Literatur (1796–1801) enthalten in dem Teil Zur Philologie. I (1797) zahlreiche zentrale Bestimmungen für Schlegels PhilologieverständnisPhilologie. Das reicht vom an Kalauer grenzenden Feuilletonismus bis hin zum philosophischen Scharfsinn. In Nr. 61 notiert SchlegelSchlegel, Friedrich: „Man wird zum Philologen gebohren […]“37, und nahezu wörtlich wiederholt er das im Athenäums-Fragment Nr. 404: „Zur Philologie muß man geboren sein […]. Es gibt keinen Philologen ohne Philologie in der ursprünglichsten Bedeutung des Worts, ohne grammatisches Interesse. Philologie ist ein logischer Affekt, das Seitenstück der Philosophie“38. Hier schwingt noch nach, was seit den Tagen des Dionysios ThraxThrax, Dionysios (ca. 170–90 v. Chr.), der die erste abendländische Grammatik vorlegte, als der Versuch gilt, Philologie inhaltlich auf den Begriff zu bringen und bis ins 19. Jahrhundert hinein Verständnis und Selbstverständnis der Philologie geprägt hat: „Philologie ist eine durch Empirie gewonnene Kunde dessen, was von Dichtern und Prosaschriftstellern in der Regel gesagt wird“39. Schlegel stellt Offenbarung gegen Philologie und bezeichnet die Offenbarung als das Ende der eigentlichen Philologie, da Gott über Grammatik und Kritik erhaben sei.40 Besondere Aufmerksamkeit kommen seinen Notizensammlungen Zur Philologie. I und Zur Philologie. II (1797) aus den Heften zur Poesie und Literatur zu. Als das subjektive Fundament der Philologie bezeichnet er dort die PhilologiePhilologie selbst in ihrer BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit, also als Liebe zum Wort oder, wie er es nennt, als „historischer Enthusiasmus“41. Diese Begeisterungsfähigkeit für das Wort ist Voraussetzung für die Arbeit am Wort und muss nicht durch vermeintliche oder tatsächliche wissenschaftliche Gelehrsamkeit neutralisiert werden. Damit wird unmerklich dem Recht auf den subjektiven Faktor das Wort geredet und der Vorstellung einer objektiven Philologiesierung des VerstehensVerstehen, letztlich dem alleinigen und wahren Verstehen eines Textes das Wasser abgegraben. Auch SchlegelsSchlegel, Friedrich Hinweis, die PhilologiePhilologie sei nur eine Art des Philosophierens (vgl. Nr. 80), ändert daran nichts. Schlegel entwickelt sogar das Verb „philologiren“42, das sich zwar nicht durchgesetzt hat, das er aber als Analogiebildung zu philosophieren verstanden wissen will. Das Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 391 lautet: „Lesen heißt den philologischen Trieb befriedigen, sich selbst literarisch affizieren. Aus reiner Philosophie oder Poesie ohne Philologie kann man wohl nicht lesen“43, was aber allein schon durch die fortlaufende Geschichte des Buchmarkts schlichtweg widerlegt wird. Doch Schlegel spricht nicht aus, was zwischen den Zeilen steht, es geht ihm um das richtige, das verständige LesenLesen, das er vom falschen, dem unverständigen Lesen unterscheidet, auch wenn diese Begriffsopposition so nicht wörtlich auftaucht. Dabei gruppieren sich die Themenfelder von SinnSinn, InterpretationInterpretation, Moral und Geschichte heraus. Schlegel formuliert einen „hermeneutischenHermeneutik Imperativ“44 – so wie er auch von einem „Imperativ der Progressivität“45 spricht –, der aber im Detail unausgeführt bleibt. Vielleicht hatte Schlegels Freund SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst diese Art von kategorischer Philologie im Sinn, die den Imperativ ‚Verstehe!‘ setzt, ohne ihn zu erklären, als er in seinem Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren VerächternÜber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) in der dritten Rede schrieb: „Mit Schmerzen sehe ich es täglich, wie die Wut des Verstehens den SinnSinn gar nicht aufkommen läßt“46. Und wenig später ist gar vom „Joch des Verstehens“47 die Rede, das der moderne Mensch zu tragen habe.48 Möglicherweise spielt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst mit der Formulierung Joch des VerstehensVerstehen

auf eine ähnliche Bemerkung LessingsLessing, Gotthold Ephraim an. Dieser hatte in seiner ersten Schrift mit dem Titel Eine ParabelEine Parabel (1778) gegen den Hamburger Hauptpastor Johann Melchior GoezeGoeze, Johann Melchior, der bekanntlich 1774 ein Verbot von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Epochenroman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers gefordert hatte, emphatisch LutherLuther, Martin als Zeugen mit den Worten angerufen:

„O daß Er es könnte, Er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! – Luther, du! – Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt, als von den kurzsichtigen Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg, schreiend aber gleichgültig daher schlendern! Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöset: wer erlöset uns von dem unerträglichen Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest; wie es Christus selbst lehren würde! Wer – –.“49

Bei Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich können wir im Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 267 lesen: „Je mehr man schon weiß, je mehr hat man noch zu lernen. Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen in gleichem Grade zu, oder vielmehr das Wissen des Nichtwissens“50. So gesehen seien Fragmente „Randglossen zu dem Text des Zeitalters“51. Schlegel geht immer davon aus, dass es ein besseres Verstehen gibt, das über dem Selbstverstehen des Autors liegt und das durch Kritik erschlossen werden kann.52 Er warnt an anderer Stelle im Athenäums-Fragment Nr. 25 davor, dass das Auslegen oft auch ein „Einlegen des Erwünschten oder des Zweckmäßigen“53 sei, und greift damit einen Generaleinwand gegen jegliches symbolischesymbolisch DeutenDeuten auf. AuslegenAuslegen sei das Erstaunen über das Wunder, „das man selbst veranstaltet hat“54. Nach dem Verständnis PlatonsPlaton ist das Staunen bekanntlich der erste Schritt und zugleich die unverzichtbare, notwendige Voraussetzung zum Philosophieren, wie er in seinem Dialog TheaitetosTheaitetos SokratesSokrates sagen lässt: „Denn dies ist der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen […]“55. SchlegelSchlegel, Friedrich operiert allerdings unscharf zwischen den beiden Reflexionsfeldern eines eingeschränkten Begriffs von PhilologiePhilologie und eines umfassenden Begriffs von Philologie. Wenn er etwa im Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 147 ausführt, klassisch zu leben und das Altertum in seine Lebenspraxis umzusetzen sei Gipfel und Ziel der Philologie, so drückt sich darin nicht nur das eingeschränkte Verständnis von Philologie als einer kritischen Auslegungskunst altphilologischer Texte, sondern auch eine lebensferne Idealisierung der AntikeAntike aus, oder in NietzschesNietzsche, Friedrich Worten, das ist „die unwahre Begeisterung für das Alterthum, in der viele Philologen leben“56. Ob nun ein TextText ein klassischer Text ist oder ein biblischer oder ein profaner, immer kann er der Exegese zugeführt werden.

Demgegenüber muss geltend gemacht werden, dass kein Text je gedeutet werden muss. Denn um es prägnant zuzuspitzen, ein Text ist ohne seinen Leser nichts. Die BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit des Textes ist natürlich der Ort seiner Ordnung, ihn nicht wörtlich zu nehmen heißt, ihn ortlos zu machen, ihn zum Schweben zu bringen und dem ThaumaThauma, dem Zauber des Erstaunens zu folgen. LesenLesen ist mitnichten die Addition von Buchstaben, insofern kann es kein wörtliches VerstehenVerstehen geben. Die Ordnung der Buchstaben ist nicht die Ordnung des Textes. Die Ordnung des Textes konstituiert sich nicht über die Materialität der Signifikanten, denn der Text braucht seine Leserinnen und Leser, um als Text erkannt zu werden. In Hinsicht auf die BedeutungBedeutung des BuchstäblichenBuchstäbliches und wörtlich Geschriebenen eines Textes mahnt aber Friedrich SpeeSpee, Friedrich in seiner Trvtz-NachtigalTrvtz-Nachtigal (1649): „Nun solle man aber auch im Lesen acht geben daß man keinen buchstaben außlasse oder auch hinzusetze“57. Unscharf bleibt bei Schlegel schließlich auch, ob diese Opposition von weitem und engem Verständnis der Philologie Schlegels Zweiteilung von progressiver und klassischer Philologie entspricht. Zur progressiven Philologie rechnet er die Geschichte der jüdisch-christlichen HermeneutikHermeneutik. Die progressive Philologie habe „mit Interpretazion heiliger Schriften angefangen“58. Kurz darauf definiert er die Philologie als eine notwendige Aufgabe der Menschheit (vgl. Nr. 123), was kulturgeschichtlichKulturgeschichte betrachtet zweifelsohne zutrifft. Ähnlich liest es sich in den Heften zur Poesie und LiteraturHefte zur Poesie und Literatur, die PhilologiePhilologie würde die kritische Anlage des Menschen kunstmäßig – und das heißt kulturmäßig – ausbilden.59 KulturKultur entsteht dort, wo VerstehenVerstehen entsteht, wo das LesenLesen von Gesten, Handlungen, Zeichen und nicht zuletzt Texten dieses Verstehen voraussetzt. SchlegelSchlegel, Friedrich federt diesen geweiteten Blick allerdings sofort wieder ab, indem er darauf hinweist, dass sich der Zweck der PhilologiePhilologie nicht bestimmen lasse (vgl. Nr. 135). Das Wort Philologie übersetzt er demgemäß mit Bildungsliebe oder Kenntnisliebe (vgl. Nr. 87). Aus der progressiven Philologie entwickelt sich „die vollendete, absolute Philologie“60, die sich zugleich aber selbst ‚annihiliert‘ (vgl. Nr. 158). Folgt die InterpretationInterpretation, so führt Schlegel in Nr. 210 aus, dem Prinzip einer interpretatio perpetua, also einer Interpretation von Satz zu Satz, so entspricht dies der Vorstellung von einer absoluten Erklärung und das bedeutet einer absoluten Erklärbarkeit. Das mache den Unterschied zwischen der klassischen Philologie, die er auch die grammatische nennt, und der progressiven Philologie aus. Sich selbst rechnet Schlegel zu den „interpretirenden Philologen“61 (Nr. 216), also zur progressiven Philologie.

Im vierten Teil Aus den Heften zur Poesie und LiteraturAus den Heften zur Poesie und Literatur mit dem Titel Zur Philologie. II prägt Schlegel einen fast schon magischen Begriff. In Nr. 12 schreibt er: „Die sogenannte divina critica ist schon gar nicht mehr Kritik. Es ist die absolute philologische Mimik, wenn sie nicht kritisch und mit scientifischem Rigorism und historischer Mikrologie getrieben wird. Es ist die philologische Magie. EXPERIMENTALphilologieExperimentalphilologie.“62 Doch was ist das Magische? Der BuchstabeBuchstaben bzw. der TextText oder die Tätigkeit des Philologen, gar der Philologe selbst? Gibt es einen objektivierbaren Zauber des Textes? Schlegels Aphorismus reflektiert unzweifelhaft eine Denkfigur der divinatorischen Kritik SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. In seinem Gespräch über die PoesieGespräch über die Poesie (1800) nimmt SchlegelSchlegel, Friedrich später dessen Begriff der „divinatorischen Kraft“63 auf. Alles Denken sei ein Divinieren und der Mensch fange eben erst an, sich dieser divinatorischen Kraft bewusst zu werden. Am Ende dieses Prozesses stünde eine neue Mythologie. Was besagt nun der Begriff der EXPERIMENTALphilologieExperimentalphilologie? Mimik (s.o.) bedeutet zunächst, dass die schleiermachersche HermeneutikHermeneutik nichts andres darstellt als Ausdruck, nicht aber Auslegungskunst, sofern sie nicht kritisch und nicht wissenschaftlich und mit historischer Genauigkeit ausgeübt wird. Sie ist somit Ausdruck als philologischer Gestus, der Autorität beansprucht oder wie SchlegelSchlegel, Friedrich in Nr. 13 in Zur Philologie. II schreibt: „Bey den Philologen gilt Autorität weit mehr als bey den Philosophen“64, da sich der PhilologePhilologie als absolut und göttlich verstehe. Wenn diese Divinatorik aber einem kritischen und konsequenten wissenschaftlichen und einem genauen historischen Verständnis folgt, so ist sie philologische Magie, eben ExperimentalphilologieExperimentalphilologie. Schlegel spielt mit der Idee einer „Philosophie der Philologie“65. HemsterhuisHemsterhuis, Tiberius, WinckelmannWinckelmann, Johann Joachim, GoetheGoethe, Johann Wolfgang, MoritzMoritz, Karl Philipp und HerderHerder, Johann Gottfried seien auf diesem Weg vorangegangen.66

Im Zentrum dieser Notizen steht zunächst der Begriff der Kritik. Die Textkritik – Schlegel spricht allgemein von Kritik oder von philologischer Kritik im Gegensatz zur philosophischen Kritik (vgl. Nr. 34) – ist das Kernstück dieser Philologie. Der Begriff der kritischen Philosophie (vgl. Nr. 37), den Schlegel auch verwendet, ist zu irreführend, um ihn weiter aufzugreifen, KantKant, Immanuel etwa wird als ein kritisierender Philosoph und nicht als kritischer Philosoph bezeichnet (vgl. Nr. 47). Daran schließt sich die aphoristische Reflexion über den SinnSinn an: „Die Frage vom Sinn eines Autors ist […] philologisch. Die Frage welcher der Sinn seyn kann logisch und grammatisch“67. Damit öffnet Schlegel für die methodologische Diskussion den verengten Blick auf einen Autorsinn (oder eine Autorintention) nun auf das weite Feld der Denkfigur eines Textsinns. „Es bleibt deshalb“, liest man bei Georg Wilhelm Friedrich HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich in seinen Vorlesungen über die ÄsthetikVorlesungen über die Ästhetik (1835), „nichts übrig, als daß der Gegenstand für den Sinn überhaupt vorhanden sei, und als die echte Betrachtungsweise des Schönen in der Natur erhalten wir dadurch eine sinnvolle Anschauung der Naturgebilde […] ‚Sinn‘ nämlich ist dies wunderbare Wort […]“, das uns alle verzaubere, es könne neben der sinnlichen Wahrnehmung auch meinen: „die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache“.68 Wie radikal sich da hingegen die Lyrikerin Friederike MayröckerMayröcker, Friederike (geb. 1924) positioniert, die schreibt: „(Die Worte müssen sich erst ihren SinnSinn finden, statt umgekehrt)“69.

„Was ist Interpretazion anders als mitgetheilte hermeneutische Kritik, Unterricht in der Kritik des Sinns“70, fragt SchlegelSchlegel, Friedrich weiter in Nr. 167. InterpretationInterpretation und Textkritik gehören zusammen und dürfen nicht voneinander getrennt werden, weil sie „unzertrennlich“71 sind. Folgt man dieser Reflexionsspur weiter, so heißt dies, dass Textkritik stets auch Interpretation ist. Die Summe von allen „mikrologischen Kenntnissen“, die denkbar sind, nennt Schlegel „das philologisch Absolute“.72 Das ist eine gedankliche Bezugsgröße, um die Unabschließbarkeit und zugleich den progressiven Charakter der philologischen Arbeit zu betonen. Jedes einzelne „Philologem“73 verzweigt sich nach unendlich vielen Seiten in entsprechend unendlich viele Richtungen (vgl. Nr. 79). Kehrt man diese Perspektive um, bedeutet das, dass es keine abschließende DeutungDeutung eines Textes geben kann. Schlegel sieht aber auch die Gefahr des autoritären Griffs nach Deutungshoheit und nach dem Anspruch auf die allein wahre Deutung eines Textes, wenn er schreibt, dass die eigentlichen kritischen Philologen nach einem absoluten Verstehen strebten (vgl. Nr. 120), denn damit würde Philologie sich selbst aufheben, wie er in Zur Philologie. I meint (vgl. Nr. 158). Die philologische Genauigkeit ist hermeneutischHermeneutik, kritisch, historisch und grammatisch (vgl. Nr. 108). Die „Gärten der Zeichen“74, wie es in Carl EinsteinsEinstein, Carl Roman BebuquinBebuquin (1912) zu Beginn des 20. Jahrhunderts heißen wird, sind aber, um wiederum ein Wort HölderlinsHölderlin, Friedrich aus seinem Gedicht Die TitanenDie Titanen (1802/06) aufzunehmen, „Unendlicher Deutung voll“75. Allerdings eröffnet dieser Hölderlin seine Hymne MnemosyneMnemosyne (1802/06) auch mit den Worten: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos“76. Diese anthroposemiotische Erweiterung, wonach wir Menschen selbst nicht deuten können – andererseits kann man sich aber mit NovalisNovalis auch die Frage stellen: „Ist nicht jeder Leser ein Philolog?“77 – konfrontiert uns mit einem logischen Problem. Selbst wenn wir deutungslose Zeichen sind, können wir dennoch gedeutet werden, da Zeichen extrinsisch immer deutbar sind, sonst wären sie als ein semiotisches Objekt nicht zu erkennen. Wir sind also Objekte der DeutungDeutung und zugleich sind wir auch als Deutende deren Subjekte. Objekt und Subjekt fallen in eins, das ist nicht nur ein logischer Widerspruch, sondern führt uns an die Grenzen des Vorstellbaren. In Analogie verhält es sich ebenso mit Texten. Wenn TexteText deutungslos wären, könnten sie von uns dennoch gedeutet werden. Anders als Menschen sind Texte aber niemals selbst Subjekte der Deutung, sondern immer nur deren Objekt.

SchlegelsSchlegel, Friedrich Aphorismen kann man durchaus als ein Plädoyer für die Deutungsvielfalt von Texten verstehen. Um also SinnSinn erfassen zu können, muss gelesen werden. Deshalb widmet sich Schlegel in den nachfolgenden Aphorismen dem LesenLesen als Rezeptionsakt. Lesen ist für ihn schlechthin eine philologische Haltung (vgl. Nr. 74), ein kontemplatives Lesen kennt er nicht. Im Gegenteil, Schlegel argumentiert in Nr. 82 und Nr. 83 wiederum anthropologisch, wenn er bemerkt, dass das Lesen nichts anderes bedeute, als den philologischen Trieb zu befriedigen und man nur aus Langeweile oder aus philologischem Interesse heraus lese. Für ihn ist klar, „ohne Philologie kann man wohl nicht lesen“78. Und dass Schlegel die Rezeptionsseite der LiteraturLiteratur durchaus im Blick hat, geht aus Aphorismus Nr. 155 hervor. Dort heißt es, es sei keine allgemeine Sache, zu bestimmen, wer das Publikum eines Textes gewesen sei. In Nr. 80 schreibt er: „Lesen heißt sich selbst philologisch affiziren, sich selbst philologisch beschränken, bestimmen.“79 In der PhilologiePhilologie dürfe man nicht nur textkritisch emendierend, sondern man müsse auch kursorisch lesen (vgl. Nr. 212).

In seinen Nachlassnotizen mit dem Titel Wir PhilologenWir Philologen (1875) geht Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich in wiederholten Anläufen mit dem Berufsstand der Philologen nicht nur hart und polemisch ins Gericht, sondern er vermag den „Geburtstag der Philologie“80 auch exakt anzugeben, es sei der 8. April 1777, an diesem Tag habe Friedrich August WolfWolf, Friedrich August das Kürzel studiosus philologiae (stud. phil.) erfunden.81 Dem Philologen – und das Fach PhilologiePhilologie meint bei ihm stets Altphilologie – bescheinigt NietzscheNietzsche, Friedrich zwar eine große Bescheidenheit, aber Konjekturalkritik und Emendationen sieht er, selbst Altphilologe, skeptisch. „Texte verbessern ist eine unterhaltende Arbeit für Gelehrte, es ist ein Rebusrathen; aber man sollte es für keine zu wichtige Sache ansehen“82. Zu dieser Art der Philologie, die dem Stufenschema von Textkritik, TextsinnTextsinn und Textdeutung folgt, gehört auch in Schlegels Verständnis vor allem die klassische Philologie oder Altphilologie. Sie richtet ihren Blick auf die Bedeutung der klassischen, antiken Texte, die stets zum Vergleich mit den modernen Texten herangezogen werden müssten (vgl. Nr. 53, 56 und Nr. 73). Diese Arbeit des Vergleichens hat SchillerSchiller, Friedrich einer harschen Kritik unterzogen. Unter Hinweis auf HerderHerder, Johann Gottfried schreibt er über das Geschäft der hämischen Vergleichung 1801 an GoetheGoethe, Johann Wolfgang, „dieses erbärmliche Hervorklauben der frühern und abgelebten Litteratur, um nur die Gegenwart zu ignorieren oder hämische Vergleichungen anzustellen!“83

Konzentriert sich die Kritik vor allem darauf, ob ein TextText historisch gesichert und textkritisch kommentiert ist, richtet die InterpretationInterpretation ihren Blick auf die Ebene des Textsinns.84 Dazu bedarf es der besonderen Fähigkeit der DivinationDivination. In Christoph Martin WielandsWieland, Christoph Martin Roman Geschichte des AgathonGeschichte des Agathon (2. Tl. 1767) ist im elften Buch das vierte Kapitel überschrieben mit den Worten: „Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte“. Und auch der Philosoph Johann Gebhard Ehrenreich MaaßMaaß, Johann Gebhard Ehrenreich gebraucht den philosophischen Begriff der Divinationsgabe in seinem Buch Versuch über die EinbildungskraftVersuch über die Einbildungskraft (1792). Als die divinatorische Methode bezeichnet wiederum SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst in seinem Buch Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue TestamentHermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament (1838) jenes Vorgehen, das, „indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht“85. Dem korrespondiert die komparative Methode, sie „setzt erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche, indem mit andern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird“86. Durch die DivinationDivination würden das Allgemeine und das Besondere miteinander durchdrungen.87 In der Dritten Rede. Über die Bildung zur Religion schreibt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst über die Wut des VerstehensVerstehen: „Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wut des Verstehens den SinnSinn gar nicht aufkommen lässt, und wie alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt desselben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerückt werde.“88 Und ähnlich heißt es wenig später: „So wurde freilich durch die Dichtung frühzeitig genug der Grund gelegt zu den Usurpationen der Metaphysik über die Religion: aber der Mensch blieb doch mehr sich selbst überlassen, und leichter fand ein gradsinniges, unverdorbenes Gemüt, das sich frei zu halten wusste von dem Joch des Verstehens und Disputierens, in späteren Jahren den Ausgang aus diesem Labyrinth.“89 Die Wut des Verstehens – NietzscheNietzsche, Friedrich wird in seiner MorgenrötheMorgenröthe (1881) von der „Wuth der Ausdeutung und Unterschiebung“90 und auch von der „Unsicherheit der Divination“91 sprechen – hebt sich deutlich von der Wertschätzung des NovalisNovalis ab. Für ihn ist der „Begriff von Philologie […] die geistige Reisekunst – die Divinationskunst“92, obwohl er die PhilologiePhilologie an anderer Stelle skeptisch auch eine „höchst fremde irdische Wissenschaft“Die Christenheit oder EuropaLuther, MartinBuchstaben93 nennt. Die Wut weicht einer Gelassenheit, und das Joch des Verstehens wird abgeschüttelt, wenn SchlegelSchlegel, Friedrich schließlich in seinem Roman LucindeLucinde (1799) fordert: „was man sagen will, darf man auch schreiben können“94. Das gleicht einem wohl kalkulierten Tabubruch.

Das „ἄλλον ὁρῶμεν λόγον“ (állon horōmen lógon, PhaidrosPhaidros 276 a 7) rät SokratesSokrates seinem Gesprächspartner PhaidrosPhaidros in dem gleichnamigen platonischenPlaton Dialog. Zu Deutsch wird dies mit den beiden Varianten wiedergegeben: „Kennen wir nicht eine andere Schrift“95 oder „nach einer anderen Rede sehen“96. Er setzt damit neben der einen noch eine andere Schrift oder neben der einen Bedeutung noch eine andere BedeutungBedeutung an, die von Zeichen generiert wird und die identifiziert werden kann. Letztlich geht es auch darum, das zu „lesen […], was nicht dort steht“97, wie es Gottfried KellerKeller, Gottfried im Brief an Paul HeyseHeyse, Paul vom 27. Juli 1881 umschrieben hat.

Die naheliegende Frage: „Wer spricht da?“98, die man mit BüchnersBüchner, Georg Leonce und LenaLeonce und Lena (1836) stellen kann, würde sogleich die Antwort BeckettsBeckett, SamuelFoucault, MichelTextus receptus99 heraufbeschwören: „Wen kümmerts, wer spricht?“ Damit wäre die Bedeutungslosigkeit dieser Fragestellung unterstrichen. FoucaultFoucault, Michel zitiert eingangs seines Vortrags Was ist ein Autor?Was ist ein Autor? (1969, veröffentlicht 1983) Samuel BeckettBeckett, Samuel, wenn er ihn mit diesen Worten eröffnet: „‚Was liegt daran wer spricht?‘“100, in einer anderen Übersetzung von Foucaults Text wird wiederum diese andere Übersetzung des Beckett-Zitats wiedergegeben: „Wen kümmert’s, wer spricht?“ Diese Frage schlug in den Geistes- und Kulturwissenschaften nachgerade die Karriere eines geflügelten Worts ein. Bei Beckett findet sich das Zitat in seiner Prosa Nouvelles et Textes pour rienNouvelles et Textes pour rien (1958; dt. Erzählungen und Texte um NichtsErzählungen und Texte um Nichts). Darin wird der dritte Text mit den Worten eröffnet: „Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht“101. Am Ende seines Vortrags zitiert Foucault nochmals dieselben Worte Becketts leicht variierend, so dass das Zitat seinen eigenen Text gleichsam einrahmt und leseappellativ zu verstehen ist. Ohne nun auf Foucaults Reflexionen über die Autorfunktion näher einzugehen, macht er deutlich, dass der durch Roland BarthesBarthes, Roland ausgerufene Tod des Autors nur eine provokante Metapher dafür ist, dass sich die Bedingungen der Diskurserzeugung und der Diskursverbreitung in der ModerneModerne grundlegend geändert haben. Jegliche Form von Biografismus wird nebensächlich angesichts der Aufwertung einer interpretativen Interaktion zwischen TextText und Lesenden. Donald DavidsonDavidson, Donald bringt dies zugespitzt auf den Punkt mit der Bemerkung: „Man kann zwar glauben, SchillerSchiller, Friedrich sei nicht der Autor der RäuberDie Räuber, ohne daran zu zweifeln, daß Schiller Schiller ist“102.

Es mag banal klingen, aber wir kommen nicht umhin, Texte zu deuten und sollten uns von daher nicht von SchillersSchiller, Friedrich englischer Königin Elisabeth seines Dramas Maria StuartMaria Stuart (1800) ängstigen lassen, die ausruft:

„Nichtswürdiger! Du wagst es, meine Worte

zu deuten? Deinen eignen blutgen Sinn

Hinein zu legen?“ (V. 3982ff.)

Auch der möglicherweise gut gemeinte Rat aus Robert WalsersWalser, Robert Roman Jakob von GuntenJakob von Gunten (1909): „Ah bah, laß das Deuten“103, hilft nicht wirklich. Denn selbst wenn man das Deuten ablehnt, muss man zuvor wenigstens angenommen haben, dass es ein Deuten gibt. Die Alternative zum Deuten ist, nicht zu deuten und nicht das Nicht-Deuten, ohne dass man sich dabei dem Verdacht eines verkrampften Suchens, eben dem walserschen „Hände-Ausstrecken nach einer Bedeutung“104, aussetzt. Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria hat 1893 anlässlich der Interpretation von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Gedicht Der WandrerDer Wandrer dies so formuliert: „Aber ich möchte mich verleitet fühlen, diesem Gedichte noch eine andere symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung zuzusprechen“Lappenberg, Samuel Christiansymbolische BedeutungsymbolischLambert, Johann Heinrich105, obwohl er weiß, wie er in der Ersten Duineser ElegieErste Duineser Elegie (1923) schreibt:

„daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind

in der gedeuteten Welt.“106

Die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ihrerseits ist dieser anderen, symbolischen Bedeutungsymbolische Bedeutung in der symbolischen Deutungsymbolische Deutung je auf der Spur.

Im zweiten Teil seines Buchs Kritik und WahrheitKritik und Wahrheit (1966) schreibt Roland BarthesBarthes, Roland (1915–1980) über die Offenheit eines literarischen Werks:

„Das Werk besitzt gleichzeitig mehrere Bedeutungen, und zwar aufgrund seiner Struktur, nicht infolge eines Unvermögens derer, die es lesen. Darin ist es symbolisch: nicht das Bild ist das SymbolSymbol, sondern die Vielfalt der BedeutungenBedeutung.

Das Symbol ist konstant.“107

BarthesBarthes, Roland führt weiter aus, im MittelalterMittelalter sei die Freiheit des Symbols in der Theorie von den vier Bedeutungen (wörtlich, allegorischAllegorie, moralisch, anagogisch) kodifiziert worden, die KlassikKlassik habe sie eingeschränkt, und jede Einschränkung sei bis heute eine gesellschaftlich indizierte. Darin drücke sich kein strukturales, sondern ein institutionelles Problem aus: „was auch die Gesellschaften denken oder verfügen, das Werk reicht über sie hinaus […]: ein Werk ‚dauert‘, […] weil es einem einzigen Menschen verschiedenartige Bedeutungen nahelegt, weil es immer die gleiche Symbolsprache durch verschiedenartige Zeiten hindurch spricht. Das Werk denkt, der Mensch lenkt.“108 In dieser Zuspitzung liegt natürlich der verführerische Gedanke einer Ontologisierung des Kunstwerks; an anderer Stelle spricht Barthes von einer „Ontologie der Bedeutung“109. Doch geht es ihm nicht um diese Gefahr einer falsch verstandenen Metaphysik des Textes, sondern um die BedeutungBedeutung und die Rolle des Lesers, sofern er sich nicht „durch die Zensurmaßnahmen der BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit“110 einschüchtern lasse. Über die Wissenschaft von der Buchstäblichkeit schreibt er: „Die PhilologiePhilologie hat den Zweck, die wörtliche Bedeutung einer Aussage zu fixieren; über die zweiten Bedeutungen hat sie jedoch keinerlei Macht“111. Um diese Aussagen einordnen zu können, ist es unerlässlich, Barthes’ kritische Essays heranzuziehen. So unterscheidet er etwa in der Rhetorik des BildesRhetorik des Bildes (1964) zwischen dem buchstäblichenBuchstäblichkeit und dem symbolischen LesenLesen eines Bilds, der Buchstaben eines Bildes sei dessen „buchstäbliche Botschaft“112 im Unterscheid zu dessen symbolischersymbolisch Botschaft. „Die buchstäbliche Botschaft erscheint als der Träger der ‚symbolischen‘ Botschaft“113. Und um die symbolischesymbolisch Botschaft decodieren zu können, bedarf es kulturellen Wissens. In Analogie zur Textdeutung lässt sich somit behaupten: Die BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit eines TextesText ist die Trägerin von dessen symbolischer Deutungsymbolische Deutung. BarthesBarthes, Roland differenziert in dem Essay Der dritte SinnDer dritte Sinn (1970) drei verschiedene Sinnebenen am Beispiel eines Fotogramms von EisensteinEisenstein, Sergej. Die informative Ebene, die symbolische Ebene (die gleichbedeutend ist mit dem entgegenkommenden SinnSinn) und den stumpfen Sinn. Die informative Ebene ist durch Kommunikation gekennzeichnet und wird von Barthes nicht weiter ausgeführt. Die zweite, symbolische Ebene ist die Ebene der BedeutungBedeutung. Barthes unterscheidet zwischen einer referenziellen Symbolik, einer diegetischen Symbolik und einer historischen Symbolik. Hier fließen „die Wissenschaften des Symbols (Psychoanalyse, Ökonomie, Dramaturgie)“114 mit ein. Die dritte Sinnebene ist die Ebene des symbolischen Sinns, der „intentional“ ist, „es ist ein Sinn, der mich, den Adressaten der Botschaft, das Subjekt der Lektüre, sucht, ein Sinn, der […] auf mich zugeht“115. Diese Intentionalität schränkt Barthes allerdings auf die Autorintention ein und lässt somit das Problem, dass der Text etwas anderes aussagen kann als sein Autor will, unkommentiert. Da dieser Sinn oder diese Botschaft vom Text aus auf mich zugeht, nennt Barthes diesen Sinn den mir als Leser entgegenkommenden Sinn. Der stumpfe Sinn hingegen erstrecke sich über KulturKultur, Wissen und Information und sei von moralischen und ästhetischen Kategorien unberührt.116 Dieser stumpfe Sinn enthält einen Anpassungsmodus, da er die Lektüre „abgleiten“117 lässt und einer kulturell genormten RezeptionRezeption anpasst. In dem Essay Der Geist des BuchstabensDer Geist des Buchstabens (1970) fragt Barthes unter Anspielung auf die für das neutestamentliche Textverständnis zentrale Bibelstelle: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor 3, 6)118, nach der Dialektik von BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit und DeutungDeutung. „Der Buchstabe tötet, und der Geist belebt? Das wäre einfach, wenn es nicht einen Geist des Buchstabens gäbe, der den Buchstaben belebt; oder: wenn der Buchstabe als solcher nicht das äußerste Symbol wäre“119. „Die ganze Welt fließt in den Buchstaben ein, der Buchstabe wird zu einem Bild im Teppich der Welt“120. Dieses Bild hebt die Bedeutung der Vernetzung von BuchstabenBuchstaben und SymbolSymbol hervor. Der Teppich der Welt ist ein Gewebtes und erfüllt damit die buchstäbliche wie die symbolische Bedeutung des lateinischen Worts textus als Gewebe, der TextText ist aus Buchstabe und Symbol gewebt. Der Buchstabe sei im Grunde nur ein „Brückenkopf, weil der Diskurs beginnen muß“121. In dem Essay Erté oder An den BuchstabenErté oder An den Buchstaben (1973) kommt BarthesBarthes, Roland darauf noch einmal zurück und spitzt nun zu, dass die Aufgabe des Buchstabens darin bestehe, „jede Symbolik zurückzuweisen“122. Die PhilologiePhilologie sei die strenge Hüterin eines wahren, kanonischen Sinns und ihre „erste leugnende Aufgabe“123 bestehe darin, keine symbolische Deutungsymbolische Deutung zuzulassen. Dass diese Beurteilung nicht nur historisch unpräzise ist und keineswegs für die Philologie in Gänze gilt, sondern allenfalls für eine bestimmte philologische Haltung, ist an dieser Stelle nicht entscheidend. Den Geist versteht Barthes nicht als Raum des Symbols, sondern des SinnsSinn. „Der Geist eines Phänomens, eines Worts, ist einfach sein Recht, mit dem Bedeuten zu beginnen (während die Buchstäblichkeit die Weigerung ist, sich auf einen Bedeutungsprozeß einzulassen)“124. Der Geist sichert ein „Recht auf Interpretation“125, das die Nacktheit des Buchstabens will. In der ModerneModerne wird der Buchstabe ein „Schnittpunkt von Symbolen“126. Barthes spricht von einem „Empirismusjoch“127, das Sprache lediglich als Instrument der Kommunikation begreife und, so kann man ergänzen, über den ästhetischenÄsthetik, also symbolischen Mehrwert hinwegsieht. Denn jeder Buchstabe ist „der Ausgangspunkt für ein symbolisches Abenteuer, für das der Leser […] in sich Spielraum lassen muß“128. Dieses Abenteuer benennt Barthes in einem Vortrag von 1974 auch als das semiologische Abenteuer, das letztlich immer darauf abziele, in das System des Sinns „Risse zu schlagen“ und aus dem „abendländischen Gehege“ herauszukommen.129 Sind es die Machenschaften des SinnsSinn, wie BarthesBarthes, Roland in einem gleichnamigen Essay von 1964 schreibt, denen wir als Textdeuter*innen auf den Grund gehen? Was er dort jedenfalls als Aufgabe der Linguistik bezeichnet, kann ohne weiteres als das generelle Selbstverständnis der PhilologiePhilologie begriffen werden, denn „BedeutungBedeutung wird zur Denkweise der modernen Welt“130.

AdornoAdorno, Theodor W. hatte in seiner aus dem Nachlass herausgegebenen Ästhetischen TheorieÄsthetische Theorie (1970) ebenfalls den Geist bemüht, um das Nichtfaktische an der Faktizität der Erscheinung des Kunstwerks hervorzuheben. Zwar gibt er zu bedenken: „Der ästhetische Begriff des Geistes ist arg kompromittiert nicht nur durch den Idealismus[,] sondern auch durch Schriften aus den Anfängen der radikalen Moderne“131. Dabei bewegt sich die Argumentation oft zirkulär nach dem Muster, wenn vom Geist eines Kunstwerks die Rede sein kann, dann muss es auch den Geist eines Kunstwerks geben. Die weitere Schlussfolgerung aber, die Adorno daraus zieht, offenbart das ganze Dilemma dieser Reflexion, die er in der Behauptung zuspitzt, „es sei nichts an den Kunstwerken buchstäblich, am letzten ihre Worte; Geist ist ihr Äther, das, was durch sie spricht, oder, strenger wohl, zur Schrift sie macht“132. Auf diese Weise wird die BuchstäblichkeitBuchstäblichkeit liquidiert, um die Herrschaft des Geistes auszurufen. Mehr noch, hier steht der Monarchie des Signifikanten die freie Republik der BedeutungenBedeutung unversöhnlich gegenüber. Bezogen auf die Weisen des VerstehensVerstehen führt dies zu problematischen Verallgemeinerungen, wie sie etwa in Hinsicht auf KleistsKleist, Heinrich von Erzählung Das Erdbeben in ChiliDas Erdbeben in Chili (1807) vorgetragen wurden; „um der Einheit der Erfahrung willen“ würden Interpretationen Fakten „im Hinblick auf ihre transzendente Bedeutsamkeit auslegen“.133

Die Reflexion der Begriffe SymbolSymbol und AllegorieAllegorie führt unweigerlich zu Paul de ManMan, Paul de (1919–1983) und zum Dekonstruktivismus. Nicht aber, um die Gemeinsamkeiten zu betonen, die ich im Übrigen auch gar nicht sehe, sondern um die Unterschiede herauszuarbeiten zwischen einer dekonstruktivistischen Lektüredeutung und einer POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, wie sie hier vorgestellt wird. „Wo immer der LiteraturtheorieLiteraturtheorie ein Schritt gelingt, ist es ein Schritt aus der Reihe ihrer eigenen kanonischen Verfahren“134. Mit diesen Worten wird die Einleitung unter dem Titel Unlesbarkeit zu de MansMan, Paul de Buch Allegorien des LesensAllegorien des Lesens (1979) eröffnet. Damit wird inkludent angenommen, dass der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft innerhalb literaturtheoretischer kanonischer Verfahren kein Schritt gelingen könne, also kein Fortschritt möglich sei. Das ist Ausdruck einer Voreingenommenheit, die weit vor einer empirischen Evidenz liegt. Mit dem Vorwurf, die Literaturwissenschaft produziere Gewaltverhältnisse, „wenn sie ihre Form-, Geschichts- und Sinnbegriffe auf den Korpus der Literatur appliziert“135, sieht sich diese auf solche Art gescholtene Wissenschaft konfrontiert. Wenn aber jegliche Arbeit mit dem Text als Ausdruck eines Gewaltverhältnisses verdächtigt wird, gelingt es nicht mehr, in irgendeiner Form gewaltfrei mit dem Text zu arbeiten. Selbst die bloße LektüreLektüre, das bloße Rezitieren eines Textes wäre demnach bereits Ausdruck dieses Gewaltverhältnisses, da dem Rezeptionsakt ein Verstehenswille zugrunde liegt. Das entspricht durchaus einem klassischen Totschlagargument, um sich den Weg frei zu machen für die Behauptung und die Beanspruchung des einzig wahren und einzig richtigen Umgangs mit Texten.

Im Fahrwasser einer dekonstruktivistischen Lektüre eines Textes kann es kein gelingendes InterpretierenInterpretieren geben. Was ein TextText sage, sei nicht das, was er bedeute, wird behauptet.136 Aber wie soll man das Sagen und das Bedeuten voneinander trennen können? Kann eine Aussage frei von Bedeutung sein, also B/bedeutungs-los? Die Semiotik könnte hier die nötige Erdung schaffen.137 Dem Bemühen des Interpretierens geht es in erster Linie nicht um den Anspruch, eine Erkenntnistheorie zu liefern, obwohl auch das immer wieder von der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft selbst behauptet oder bestenfalls ihr unterstellt wird. Und damit ist bereits ein entscheidender Widerspruch zu de ManMan, Paul de formuliert, eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT beansprucht nicht, Erkenntniskritik zu generieren. Zudem argumentieren de Man und der literaturtheoretischeLiteraturtheorie Dekonstruktivismus auf der Basis der abendländischen binären Logik, wonach es nur wahr und falsch, nur ein Eines und ein Anderes gibt, nicht aber Zwischenräume, Grauzonen, Terrae incognitae. Das ist mit DerridasDerrida, Jacques philosophischem Dekonstruktivismus als der Referenzbasis dieser Argumente nur schwer zu vermitteln.Hermeneutik138 De Man gehe es um die „Entdeutung der einzelnen Bedeutungselemente sprachlicher Äußerungen“139, Texte „arbeiten“140 bereits selbst an ihrer Dekonstruktion, heißt es. Wie aber kann ein Text arbeiten, ohne ihm nicht a priori einen Subjektstatus zu prädizieren? Die dekonstruktive Lektüre zeige: „Text und Lektüre kommunizieren nicht im Medium der Bedeutung, sondern dort, wo sie aussetzt“141. Wo es aber keine BedeutungBedeutung gibt (oder geben soll), kann auch nicht bedeutungsvoll kommuniziert werden. Der Ausdruck Unlesbarkeit wird einem Gedicht Paul CelansCelan, Paul entlehnt und dahingehend generalisiert, dass das Gedicht „unlesbar, unübersetzbar in ein Bedeutungskontinuum […] und also lesbar nur in seiner Unlesbarkeit“142 sei. Wenn aber LiteraturLiteratur auf diese Weise als unlesbar bezeichnet wird, stellt sich doch die Frage, wie kann derjenige, der das sagt, von der Literatur wissen, dass sie unlesbar ist? Die These von der Unlesbarkeit findet spätestens dort ihre Grenze, wo es nicht mehr nur um das traditionelle Geschäft der Literaturwissenschaft, sondern um Handlungen, Gesten, künstlerische Ausdrucksformen oder andere Zeichensysteme wie beispielsweise die Brailleschrift oder die Notenschrift etc. geht, die alle gelesen werden können, da sonst keine Kommunikation statthat. In seinem Gedicht Ein LeseastEin Leseast schreibt CelanCelan, Paul:

„Ein Leseast, einer,

die Stirnhaut versorgend – als schriebst du

Gedichte –“143.

Das Bild eines Astes evoziert das Bild eines Baums, dessen Teil der Ast ist oder gewesen ist. Der unbestimmte Artikel kann auch als ein Indefinitpronomen im Sinn von irgendeiner oder auch als ein Zahlwort gelesen werden. Unlesbar ist selbst jene DeutungDeutung nicht, die dies leugnen würde. Es gibt mehr als nur einen Horizont des Autors und einen Horizont des Lesers, sondern – um es nochmals mit Celan auszudrücken – zahlreich sind die „Binnenland-Horizonte“144.

De MansMan, Paul de Verdienst wird darin gesehen, dass sich seine Arbeiten am konsequentesten von „subjektivitäts- und sprachontologischen Restriktionen befreien“145 würden, um dann aber durch die Hintertür neue ontologische Behauptungen einzuführen, wie unter anderem die Ausführungen zur Allegorie belegen. „Die Sprache der Allegorie“, so wird de Man interpretiert, sei die „Rhetorik einer Ontologie des endlichen Seins“.146 Ist aber ein literarischer TextText tatsächlich eine Allegorie seiner eigenen Unlesbarkeit, erzählt die AllegorieAllegorie des LesensLesen ernsthaft von der, wie de Man meint, „Unmöglichkeit des Lesens“147? Zustimmen kann man de Mans Zweifel daran, dass es nicht einfach nur zwei Bedeutungen eines Wortes oder eines Textes gebe, die er die buchstäbliche Bedeutungbuchstäbliche Bedeutung und die figurative Bedeutung nennt.148 Rhetorik sei die „radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrung“149. Verirrung ist aber nur dort möglich, wo über Richtigkeit und Wahrheit ein Urteil herrscht. De ManMan, Paul de reklamiert somit das für sich, was er den HermeneutikenHermeneutik aller Zeiten vorwirft, den Anspruch auf Wahrheit zu erheben und den Thron des richtigen VerstehensVerstehen zu besetzen. Dekonstruktion zeigt sich somit nicht als revolutionäre Basisdemokratie, sondern als Verfechterin monarchischen Kalküls. An die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft adressiert meint de Man, die Differenz zwischen ihr und der Literatur sei „Trug“150. Wenn es demnach keinen Unterschied – wobei zu fragen wäre: in welcher Hinsicht? – zwischen LiteraturLiteratur und Literaturwissenschaft gibt, ist in der Binnensicht der Dekonstruktion auch die Literaturwissenschaft unlesbar, B/bedeutungs-los, eben kommunikationslos. Den Gegenbeweis tritt de Man aber unwillentlich selbst an, indem er nämlich über diese ‚Losigkeit‘ schreiben kann und zwar sehr beredt.

Der Philosoph Jacques DerridaDerrida, Jacques (1930–2004) entwickelt unter anderem in seiner GrammatologieGrammatologie (1967) ein Verfahren zum Textverstehen, das er Dekonstruktion nennt. Seine Ausführungen sind vor allem eine gründliche Reflexion der Voraussetzungen und Begleitumstände eines solchen Verfahrens in erkenntnistheoretischer Absicht. Der Philosoph verfolgt mithin ein anderes Ziel als ein Literaturwissenschaftler wie de Man. Der ‚eigentliche‘ SinnSinn der Schrift (Derrida setzt das Epitheton selbst in Anführungszeichen) sei der einer ersten Metapher, denn Schrift sei sinnlich wahrnehmbar und endlich, sie werde „von der KulturKultur, der Technik und dem künstlich Gefertigten her gedacht“151. Derrida differenziert zwischen dem eigentlichen und dem nicht-eigentlichen, dem figürlichen Sinn. Aus der Sicht der bisherigen hermeneutischen Textverstehensverfahren wird versucht, den eigentlichen Sinn des figürlichen Sinns zu decodieren. Derrida setzt dem eine radikal andere Sicht entgegen. Der eigentliche Sinn „müßte als die Metaphorizität selbst bestimmt werden“152. Somit wäre der eigentliche Sinn ebenfalls ein figürlicher Sinn und in der Summe gäbe es lediglich diesen einen, figürlichen Sinn eines TextesText, da der eine, figürliche SinnSinn, der ursprünglich der eigentliche Sinn war, nicht mehr vom anderen, figürlichen Sinn getrennt werden kann. Das Problem von DerridasDerrida, Jacques Ansatz liegt darin, dass er sein Kunstverständnis auf literale Zeichen stützt. Nicht-sprachliche und nicht-schriftliche Zeichen werden nicht berücksichtigt. Sein Arbeitsvorhaben umschreibt er mit dem Willen, „die Dekonstruktion der größten Totalität – den Begriff der episteme und die logozentrische Metaphysik – in Angriff zu nehmen. In ihr sind, ohne daß die radikale Frage nach der Schrift je gestellt worden wäre, alle abendländischen Methoden der Analyse, der Auslegung, der Lektüre und der Interpretation entstanden“153. Das Signifikat sei „ursprünglich und wesensmäßig“154 Spur und befinde sich seit jeher in der Position des Signifikanten. Ist diese Kampfansage an die logozentrische, abendländische Metaphysik aber nicht auch schon ein metaphysischer, logozentrischer Akt, der das voraussetzt, was er zum Gegenstand seiner Dekonstruktion erhebt? Ausgehend von einer intensiven Rousseau-Lektüre kommt Derrida zu dem Schluss, „ein Text-Äußeres gibt es nicht“155. Eine extrinsische Wirklichkeit – Derrida führt das am Beispiel von RousseausRousseau, Jean-Jacques Begriff der wirklichen Mutter aus – gibt es nicht, sondern Sinn und Sprache offenbaren die Schrift „als das Verschwinden der natürlichen Präsenz“156, das Verschwinden dessen, was die Wörter wirklich bedeuten. Derrida betont explizit, dass er es für unmöglich hält, durch eine Interpretation oder einen Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen, denn so würde die Schrift durch die Lektüre-Schrift zerstört.157 Die LiteraturLiteratur habe sich aber immer dieser „transzendenten Lektüre“158, die die Erforschbarkeit des gerade infrage gestellten Signifikats darstelle, gewidmet. Derrida zitiert einen Aphorismus von Edmond JabèsJabès, Edmond: „Der Garten ist Worte; die Wüste Schrift. In jedem Sandkorn ein überraschendes Zeichen“159. Vielleicht hat Martin WalserWalser, Martin recht, wenn er meint: „Wir sind alle immer mit der Sinnlieferung beschäftigt […]. Die ganze Welt ein Sinnlieferungsgetobe […]. Die Welt will alles sein, aber nicht sinnlos.“160 Wir müssen den Signifikanzen eines TextesText nicht folgen, aber wir sollten sie zum Anlass nehmen, über die Bewahrung dieses Textimpulses nachzudenken.

Eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT muss eine versuchsweise Klärung des Symbolbegriffs herbeiführen, und damit ist auch eine Reflexion des Begriffs der Allegorie notwendig, da beide Begriffe begriffsgeschichtlich gesehen zusammengehören. Die AllegorieAllegorie wurde treffend als „Agentur des Doppelsinns“161 bezeichnet. Man kann es auch so formulieren, die Allegorie folgt einer Poetik, einer Festlegung der BedeutungenBedeutung. Das SymbolSymbol hingegen ist offen, festlegungsoffen, es repräsentiert BedeutungsoffenheitBedeutungsoffenheit, und es geht dabei nicht um eine Theorie des Symbols, sondern um symbolische Deutungsymbolische Deutung, also eine DeutungDeutung, die sich unablässig der Bedeutungsoffenheit des TextesText versichert. Während die Allegorie festgelegt ist auf definierte bzw. kulturell codierte Deutungsperspektiven und somit objektverhaftet ist, kennzeichnet die Bedeutungsoffenheit gerade die Inkongruenz von Ausdruck und Bedeutung, sie ist subjektverhaftet. In Darstellungen zur Geschichte des Allegoriebegriffs wird regelmäßig auf Walter BenjaminsBenjamin, Walter Allegorieverständnis verwiesen.162 Dabei ist seine Festlegung entscheidend: „Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten“163. Diese Offenheit für die Bedeutungsoffenheit ist Grundvoraussetzung, um die Geschichte der Allegorie und auch der Allegorese verstehen zu können. Benjamin spricht von den „Requisiten des Bedeutens“164, Allegorie sei sowohl Konvention als auch Ausdruck. Doch jenseits der historischen Ableitung sind Benjamins Ausführungen über die Allegorie für eine POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT, die sich mit einer symbolischen Deutbarkeit von Texten befasst, nicht zielführend. Theagenes von RhegionTheagenes von Rhegion schrieb gegen Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts ein Buch über HomerHomer, worin er Homer gegen Missdeutungen verteidigte, indem er die Allegorese zur Anwendung brachte.165 Die antikeAntike Begriffsbestimmung von AllegorieAllegorie stammt von HeraklitHeraklit, der knapp und präzise in seinen Quaestiones HomericaeQuaestiones Homericae aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert erklärt: „Eine Wendung, die zwar eine Sache benennt, aber auf eine andere Sache verweist als sie sagt, wird dem Begriff entsprechend Allegorie genannt“TertullianOrigenesPaulus166. Über die diversen Lehren der differenten Schriftsinne, die von der dogmatischen Prämisse einer kanonisierten Wahrheit ausgehen, kann man resümieren: „Da der zu eruierende SinnSinn verborgen, verschlüsselt, geheim sein soll, wohnt allen Interpretationspraktiken diesen Typs zudem eine fragwürdige Tendenz zum Elitismus inne. […] Bekanntlich sind derlei Elitismen zu ständigen Begleitern der Geschichte der Interpretationspraxis und der Hermeneutik geworden“167.

Der Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla BalázsBalázs, Béla (1884–1949) veröffentlichte 1924 das für die FilmästhetikFilm des frühen 20. Jahrhunderts wegweisende Buch Der sichtbare MenschDer sichtbare Mensch. Er selbst meint mit Blick auf sein Werk, das er eine Kunstphilosophie des Films nennt,

„ich weiß, daß die Theorie gar nicht grau ist, sondern für jede Kunst die weiten Perspektiven der Freiheit bedeutet. Sie ist die Landkarte für den Wanderer der Kunst, die alle Wege und Möglichkeiten zeigt, und was zwingende Notwendigkeit zu sein schien, als einen zufälligen Weg unter hundert anderen entlarvt. Die Theorie ist es, die den Mut zu Kolumbusfahrten gibt und jeden Schritt zu einem Akt freier Wahl macht“168.

Die Theorie verleihe den Dingen erst ihre Würde, eine Würde der Bedeutsamkeit und „Träger eines SinnsSinn“169. Sinngebung sei nicht eine rezeptive Haltung der Wissenschaft und damit Merkmal der ästhetischen Erfahrungästhetische Erfahrung, sondern sie sei „Selbstwehr gegen das Chaos“170. Und diese Selbstwehr gehe vom Künstler aus. Die Sinngebung als Merkmal einer produktionsästhetischenProduktionsästhetik Haltung erfolgt also durch den Künstler bzw. Autor, so lässt sich dies präzisieren. BalázsBalázs, Béla reklamiert das junge Medium des FilmsFilm für eine allgemeine KulturgeschichteKulturgeschichte. Man dürfe keine Kulturgeschichte mehr schreiben, „ohne ein großes Kapitel dem Film zu widmen“171. An die Regisseure „und alle anderen Freunde vom Fach“ gewandt, sagt er: „Ihr schafft den Sinn, ihr braucht ihn nicht zu verstehen“.172 Regie, Inszenierung, Dramaturgie etc. haben demnach dieselben produktionsästhetischen Weihen erfahren wie die Künstler selbst. Im Kapitel Der sichtbare Mensch schreibt Balázs: „Das Wort hat den Stein […] zerbrochen“; so sei aus „dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen KulturKultur eine begriffliche“ geworden.173 Das Wort habe seit der Erfindung des BuchdrucksBuchdruck als mediale „Hauptbrücke“174 in der Kommunikation zwischen Mensch und Mensch gedient. Wenn wir also, um das Wort von LacanLacan, Jacques aufzunehmen, als das Geschäft der Philologie annehmen, es sei das Steine Klopfen, dann bedeutet das in der Lesart von Balázs, dass nicht wir es sind, die Steine zerbrechen, sondern unsere Worte dies tun. Regisseure und Schauspieler begreift Balázs folgerichtig als „Interpreten eines Textes“175. Im Film habe alles eine „symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung“ – eine Ähnlichkeit mit Erich AuerbachsAuerbach, Erich Begriff der „symbolische[n] Ausdeutung“176 ist nicht gegeben –: „Man könnte einfach ‚Bedeutung‘ sagen. Denn ‚symbolisch‘ heißt ja soviel wie Bedeutung haben, über seinen eigenen SinnSinn hinaus noch einen weiteren Sinn meinen. Das Entscheidende dabei für den Film ist, daß alle Dinge, ohne Ausnahme, notwendigerweise symbolisch sind“177. Alles mache auf uns einen „physiognomischen Eindruck“178, und dieses Physiognomische hafte jeder Erscheinung an. Es sei eine notwendige Kategorie der WahrnehmungWahrnehmung. Anders gesagt wird auf diese Weise das Symbolische zu einer zentralen Bestimmung des rezeptiven Akts. Ästhetische Erfahrungästhetische Erfahrung, so ließe sich verallgemeinern, ist das Medium, Symbolisches zu schaffen. Das SymbolSymbol eignet nicht als Definitionsmerkmal den Objekten selbst, sondern wird zu einer ausschließlichen Bestimmung des deutenden Subjekts. BalázsBalázs, Béla unterläuft allerdings gleich darauf diese begriffliche Bestimmung und semiontologische Reflexion, wenn er festhält, dass die Dinge ihre eigene WirklichkeitWirklichkeit besäßen „und außerdem noch eine weitere Bedeutung“Musil, Robert179.

Friedrich SchillerSchiller, Friedrich spricht in seiner Kritik Über Matthisons GedichteÜber Matthisons Gedichte (1794) von einem symbolischen Akt, der erforderlich sei, um die Analogie zwischen intrinsischem Eindruck und extrinsischem Ausdruck in einem Werk sichtbar machen zu können. Bei der Gegenüberstellung von MusikMusik und Malerei argumentiert Schiller, dass die künstlerischen Ausdrucksbewegungen in Komposition und Gemälde analog zur inneren Natur des Künstlers dessen innere Verfasstheit wiedergeben, „Notwendigkeit und Bestimmtheit [gehen] auch auf die äußern Bewegungen, wodurch sie ausgedrückt werden, über“180. Musik und Malerei, Schiller grenzt diese sehr stark auf die Landschaftsmalerei ein, seien Künste, welche die „Darstellung des Empfindungsvermögens, mithin Nachahmung der menschlichen Natur“181, zum Gegenstand hätten. Die Übertragung innerer Empfindungen auf die äußeren Ausdrucksbewegungen in der Analogie geschehe mit Hilfe eines „symbolischen Akts“182. Da auch die Dichtung den inneren Menschen „zu seinem Objekt macht“183, gilt dieses ästhetischeÄsthetik Verfahren für die Musik, die Malerei und die LiteraturLiteratur. Anders gesagt: Literatur braucht diesen symbolischen Aktsymbolischer Akt, um das sein zu können, was sie ist, Literatur. Schiller konzediert also der Literatur ihre symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung, da andernfalls die Rede vom symbolischen Akt gegenstandslos wäre, durch den die Literatur ihre symbolische Bedeutung ja erst erfährt. In seinem Essay Über den Gebrauch des Chors in der TragödieÜber den Gebrauch des Chors in der Tragödie (1803), welcher die Braut von MessinaBraut von Messina einleitet, schreibt Schiller kurz und bündig: „alles ist nur ein Symbol des Wirklichen“184.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt die höchst disparate Theorie der symbolischen Deutungsymbolische Deutung eine entscheidende Erweiterung. Durch FreudsFreud, Sigmund TraumdeutungTraumdeutung (1900), von der in den ersten sechs Jahren nach Erscheinen nur 351 Exemplare verkauft worden waren, wird der Begriff des SymbolsSymbol und die Technik seiner DeutungDeutung als ein psychoanalytisches Verfahren fest im Wissenschaftsdiskurs implementiert. So anregend Freuds Buch auch und gerade für die Literatur der Wiener und Berliner ModerneModerne gewesen ist, so klar muss gesagt werden, dass die psychoanalytische, symbolische Traumdeutung wenig mit einer POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEITPOETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT zu tun hat. Legt sich die Traumdeutung auf eine (in der Regel einzige) Deutbarkeit fest, so plädiert die POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT ja gerade für die Vieldeutbarkeit. Damit berührt sie einen Begriff, der in Linguistik, LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und Philosophie Gegenstand zahlreicher Debatten gewesen ist, den Begriff der Ambiguität.185 Als Terminus technicus ist Ambiguität historisch in der antiken RhetorikRhetorik verwurzelt. Die Grenzen der Bedeutungen von Zweideutigkeit und Mehrdeutigkeit sind im geschichtlichen Verlauf fließend, aus Sicht der Rhetorik sollte Ambiguität strikt vermieden werden oder allenfalls in der Gerichtsrede statthaben. Während AristotelesAristoteles – im Gegensatz zu PlatonPlaton, der in seinem Dialog PhaidrosPhaidros die AmbiguitätAmbiguität wie auch die Rhetorik schlechthin einer grundlegenden Kritik unterzieht, worin SokratesSokrates seinen Dialogpartner PhaidrosPhaidros bittet, eine rhetorische Zweideutigkeit im Sinn einer Doppelrede regelrecht zu inszenieren186 – und QuintilianQuintilian (besonders im 9. Kapitel des 7. Buchs seiner Institutio OratoriaInstitutio Oratoria) den Begriff der Amphibolie nahezu synonym mit Ambiguität gebrauchen, verwenden die meisten anderen Rhetoriker, Theologen und Philosophen wie CiceroCicero, Augustin, Erasmus von RotterdamRotterdam, Erasmus von, Blaise PascalPascal, Blaise oder Traugott KrugKrug, Traugott im 19. Jahrhundert den Begriff der Ambiguität. Auch hier liegt das Ziel der Textauslegung in der Überwindung der Zweideutigkeit durch die Suche nach dem wahren SinnSinn eines TextesText. Man kann dies zu Recht als die „philosophische Tradition der Ambiguitätsbändigung“187 bezeichnen. Eine Renaissance erfährt der Begriff im französischen Existenzialismus und schließlich in der Linguistik. Dass die AmbiguitätAmbiguität im Sinne von Mehrdeutigkeit als Merkmal modernerModerne LiteraturLiteratur und Kunst verstanden werden kann, ist unumstritten.188 Die daraus abgeleitete Lesart von Ambiguität als Mehrdeutigkeit eines TextesText wäre unter dem Aspekt einer POETIK DER BEDEUTUNGSOFFENHEIT dadurch zu ergänzen, dass Ambiguität als Mehrdeutbarkeit eines Textes gilt. Mehrdeutigkeit findet in der Kommunikation zwischen Autor*in und Leser*in statt. Hier wäre aber zu präzisieren: die sich tatsächlich in der Kommunikation zwischen Text und Lesern*innen ereignet.AmbiguitätÄsthetik189 Aus dieser hermeneutischen Mehrdeutigkeit in der Interferenz zwischen Autor*in/Text und Leser*in leitete sich bekanntlich die Lehre vom vierfachen SchriftsinnSchriftsinn her.Schriftsinn190 Die HermeneutikHermeneutik der SpätantikeAntike und des MittelaltersMittelalter variierte zwar die Theorien des mehrfachen Schriftsinns und die Anzahl der Sinnebenen, die von dem dreifachen Schriftsinn beim Kirchenvater OrigenesOrigenes (185–254) ihren Ausgang nahm, es blieb aber ein Grundmuster erhalten, das sich in folgendem populären, ursprünglich auf AugustinusAugustinus zurückgehenden Distichon von Nikolaus von LyraNikolaus von Lyra (um 1270/75–1349) in seinem Kommentar zum GalaterbriefGalaterbrief in Form eines Chiasmus widerspiegelt191:

„Littera gesta docet,

quid credas allegoria,

moralis quid agas,

quo tendas anagogia.“192

„Der buchstäbliche Sinn lehrt das Tatsächliche,

der allegorische Sinn das, was du glauben sollst,

der moralische Sinn das, was du tun sollst,

der anagogische Sinn das, wonach du trachten sollst.“193

Die ursprüngliche Formulierung mit einem etwas abweichenden Wortlaut geht auf Augustinus de Dacia, der sie um 1260 zu Papier brachte, zurück.194 Der Kirchenvater CassianCassian (um 360 – um 435) präzisiert die Verstehensweise des vierfachen SchriftsinnsSchriftsinn bei der AuslegungAuslegung biblischer Texte.MittelalterSymbol195 Erstens nennt er die historische Auslegung, die gleichbedeutend ist mit dem wörtlichen, buchstäblichenbuchstäblich Sinn, zweitens den allegorischenAllegorie Sinn, der das jenseits der WirklichkeitWirklichkeit und ihrer Beschreibung im BuchstäblichenBuchstäblichkeit Liegende als ein anderes Geheimnis offenbart, drittens den anagogischen Sinn, der als ein heilsgeschichtlicher Sinn von den Geheimnissen geistlicher Mysterien „zu gewissen höhern und dunklern Geheimnissen des Himmels aufsteigt“196, und der tropologische Sinn, der die moralische Bedeutung des Textes erarbeitet. Die Verschiedenheit dieser vier Textsinnebenen wird in der Regel an einem klassischen Beispiel veranschaulicht, das CassianCassian ebenfalls in den Collationes PatrumCollationes Patrum (14, 8) anführt.197 Im buchstäblichenBuchstäblichkeit Sinn sei Jerusalem eine Stadt, im allegorischenAllegorie SinnSinn bedeute Jerusalem die Kirche Christi, im anagogischen Sinn bezeichne Jerusalem die himmlische Stadt Gottes und im tropologischen Sinn bedeute Jerusalem die Seele des Menschen. Cassian stützt sich bei dieser Auslegung auf den Ersten KorintherbriefErster Korintherbrief des PaulusPaulus, Kapitel 14: „Nun aber, liebe Brüder, wenn ich zu euch käme und redete in Zungen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht mit euch redete in Worten der Offenbarung oder der Erkenntnis oder der Prophetie oder der Lehre?“ (1. Kor 14, 6).198 AlanusAlanus (um 1120–1202) spricht sogar von der „locutio symbolica“199, der symbolischen Redesymbolische Rede.

Der Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris am 15. April 2019 hat die kollektive, mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des SymbolbegriffsSymbol in Erinnerung gebracht. Auf die Frage, was ihm Notre-Dame bedeute, antwortet Peter HandkeHandke, Peter: „Als Symbol ist es ein gewaltiger Verlust. Symbole sind vielleicht die Materie, die nicht wenige von uns noch zusammenhält. Wenn die Symbole zusammenbrechen, dann merkt man auch, was überhaupt zusammenbrechen kann“200. Übertragen auf einen literaturtheoretischLiteraturtheorie relevanten Symbolbegriff kann dies heißen:

„Symbolische Deutungsymbolische Deutung beruht nun auf Grundmaximen literarischer HermeneutikHermeneutik, daß nämlich alle Elemente eines Textes thematisch kohärent sind, daß sie alle Teile eines zugrundeliegenden, regulativen thematischen Prinzips sind, daß sie alle, auch das beiläufigste, bedeutungsvoll sein können und daß mit dem, was in und mit dem literarischen Text gesagt wird, stets auch etwas über die Welt des Menschen, die condition humaine gesagt wird“201.

Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich kritisiert die PhilologiePhilologie des Christentums in der einschlägigen Nummer 84 des ersten Buchs der MorgenrötheMorgenröthe mit heftigen Worten. Bei der christologischen Bibelinterpretation herrsche eine „Willkürlichkeit der Auslegung“ des Alten Testaments, die Menschen lernten dadurch das Schlecht-Lesen, und Nietzsche nennt es das „unerhörte philologische Possenspiel“.202 Ein Philologe sei „ein Lehrer des langsamen Lesens […]. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes“203, mitten im Zeitalter von Hast und Eile sei das gute LesenLesen und das bedeutet für ihn das langsame Lesen unverzichtbar. Und wenn Nietzsche im Nachlass schreibt: „Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam […]“204, so lässt sich mit einem Zitat von Roland BarthesBarthes, Roland daran anknüpfen: „Ich schreibe, weil ich gelesen habe“205, und da ich schreibe, lese ich. Immerhin attestiert Nietzsche allen Philologen einen „Sinn für das Symbolische“206, wie er auf einem Nachlassblatt notiert. Schon NovalisNovalis hatte eine einfache Definition empfohlen: „Alles was von Büchern handelt ist philologisch“207. Demnach ist auch alles, was Texte interpretiert, philologisch, auch wenn in dem Wirtembergischen Briefe vom 10. März 1780 in SchillersSchiller, Friedrich Wirtembergischen Repertorium der LitteraturWirtembergisches Repertorium der Litteratur (1782) gewarnt wurde, die Philologie sei „keine Brodwissenschaft“208. Vielleicht sollten wir uns an den amerikanischen Philosophen Nelson GoodmanGoodman, Nelson (1906–1998) halten, er nennt den Begriff SymbolSymbol einen farblosen Ausdruck, der „nichts Gewundenes oder Geheimnisvolles“209 an sich habe. „Die vieldiskutierte Frage, ob ein Kunstwerk ein Symbol ist, scheint mir daher besonders fruchtlos zu sein. Ein Werk kann […] auf verschiedenartige Weise etwas anderes symbolisieren“210. Und die Tatsache, dass es beispielsweise das Bild eines Pegasus gibt oder es einen solchen repräsentiert, erlaubt nicht den Schluss, dass es etwas gibt, das ein Pegasus ist oder es einen solchen repräsentiert, ihn also auch wirklich gibt.211 Die Kontroversen in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft um die eine, richtige InterpretationInterpretation können nicht verbergen, dass sie stets Interpretationen eines einzigen Textes sind. Konfligierende Interpretationen eines Textes, so GoodmanGoodman, Nelson in dem Kapitel Die richtige Interpretation, beziehen sich auf denselben TextText, sie verleihen ihm SinnSinn. Aber ein „Werk zu verstehen, kann etwas anderes sein als zu verstehen, was der Autor mit ihm beabsichtigte“212. Goodman bringt es auf die pragmatische Formel: „Literarische Texte sind offen für eine Vielzahl von Interpretationen“213. Worauf er hinaus will, ist dies: Das Werk ist nicht seine Interpretation.

Erste Fuge – Das Problem der Interpretation, genauer das Problem der Angemessenheit differenter Deutungen eines Textes tritt besonders augenfällig bei der DeutungDeutung religiöser und nicht-religiöser Texte hervor. Sechs Thesen, die das Reflexionsfeld abstecken, lassen sich dazu generieren.

These eins: Eine falsche Analogie ist es, wenn man Theologie und LiteraturLiteratur auf dieselbe Ebene stellt und antinomisch oder komplementär versteht. Eigentlich müsste es heißen: Religion und Literatur oder Theologie und Literaturwissenschaft, aber nicht Religion und Literaturwissenschaft oder Theologie und Literatur. Das bedeutet, die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Texten begegnet der wissenschaftlichen Beschäftigung mit paganen, eben nicht religiösen Texten. Und diese Fragestellung sucht vordringlich nicht nach der Bibelrezeption in der LiteraturLiteratur, nach dem Gottesbild in der Dichtung oder der Rezeption des Christentums bei einzelnen Autoren. Berechtigt sind diese Fragen natürlich allemal und in ihren Ergebnissen auch durchaus interessant. Aber unsere erste Frage lautet: Was geschieht, wenn ich mit den Mitteln der theologischen Textdeutung einen nicht-religiösen Text lese, und die zweite Frage heißt: Was geschieht, wenn ich mit den Mitteln der Literaturwissenschaft einen religiösen Text lese? Kann ich die Bibel wie einen Roman oder ein Gedicht oder einen dialogischen Text interpretieren? Es geht also nicht darum, dass die Theologie in Historie oder in LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft aufgelöst werde.214

These zwei: Obwohl immer wieder behauptet, ist LiteraturLiteratur keine eigene, spezifische Erkenntnisweise, möglicherweise eignet ihr eine eigene Erkenntnisweise. Diejenigen, die jene Ansicht vertreten, sind die Beweise schuldig geblieben, und selbst die Philosophie hielt es für unnötig, sich mit dieser Fragestellung weiter zu befassen. Fiktionalität, wenn wir so Literatur verstehen, ist keine eigene Erkenntnisform, sondern eine Erfahrungsweise und zwar die Erfahrungsweise einer wirklichen Erfahrung insofern, als die Fiktion uns lehrt, es gibt ein Denken jenseits mathematisch-naturwissenschaftlicher Gegebenheiten. Und eine mögliche Erfahrungsweise insofern, als Fiktion Erfahrung zu beschreiben vermag, die noch nicht stattgefunden hat, aber möglich ist.

These drei: Theologie und Literaturwissenschaft haben eines gemeinsam, beide Wissenschaften müssen Texte deuten. Das Deuten literarischer TexteText ist kein AusdeutenAusdeuten von historischen Fakten, kein Erbsenzählen biografischer Einzelheiten. Das mag zwar alles auch zur Textdeutung zählen, aber die Textdeutung einzig und allein darauf zu reduzieren hieße, Literatur als eine andere Form von Dokumenten zu verstehen. Wer heißt uns literarische Texte als historische Dokumente lesen? Wer heißt uns die Fiktionalität eines Textes ignorieren? Wer heißt uns dem Dichter den Willen zur freien Gestaltung abzusprechen? Wer heißt uns davon auszugehen, dass ein Text nur eine einzige Bedeutung habe?

These vier: Die Literaturwissenschaft arbeitet in der Regel wie die Theologie mit der Lehre von einem zweifachen TextsinnTextsinn. In dieser Hinsicht ist das Selbstverständnis beider Wissenschaften der HermeneutikHermeneutik verpflichtet, die alle antihermeneutischen Rempeleien und Affekte unbeschadet überstanden hat. Wie anders wäre sonst zu erklären, dass immer noch über Texte, biblische wie literarische, geredet wird? Die Lehre vom mehrfachen SchriftsinnSchriftsinn geht davon aus, dass jedem Text (profaner oder religiöser Natur) ein buchstäblicherbuchstäblicher Sinn Sinn (Sensus litteralis) und ein übertragener SinnSinn (Sensus spiritualis) eingeschrieben ist. Je nach philologischer oder theologischer Schule können durchaus mehrere SchriftsinneSchriftsinn entwickelt werden. Für unseren Zusammenhang sind die beiden genannten wichtig. Folgen wir dem buchstäblichen SinnSinn eines Textes, so erschöpft er sich im Begreifen der Siginfikantenketten, also der Abfolge der Materialität der Zeichen. Der Sensus spiritualis hingegen intendiert eine symbolische Bedeutungsebenesymbolische Bedeutung des Textes, die sich eben nicht in der Materialität der Zeichen erledigt. Von dieser Grundunterscheidung lebt jegliche Textinterpretation, RilkeRilke, Rainer Maria hatte dies die symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung genannt.215 So kann beispielsweise die Prometheus-Figur in GoethesGoethe, Johann Wolfgang PrometheusPrometheus-Gedicht im buchstäblichen Textsinnbuchstäblicher Sinn als Göttersohn und damit als mythologische Figur verstanden werden. Im übertragenen TextsinnTextsinn kann Prometheus modellhaft als Künstler und Vertreter einer Genieästhetik begriffen werden. Die kräftige Bildsprache der LiteraturLiteratur, die Möglichkeit zur AllegorisierungAllegorisierung in einem literarischen oder einem religiösen Text, leistet ihr Übriges, mehr als nur eine einzige Eindeutigkeit des Textsinns zu behaupten. So lässt sich SchlegelsSchlegel, Friedrich Aphorismus verstehen, wonach die Frage, was ein Werk sei, unendlich ist216.

These fünf: Man darf sich einer Frage des Philosophen Martin HeideggerHeidegger, Martin erinnern, die er anlässlich seiner Lektüre von HölderlinsHölderlin, Friedrich Gedicht AndenkenAndenken aufgeworfen hat: „Weshalb sollen die geschichtlichen Bedingungen historisch zugänglicher sein als das geschichtlich Bedingte?“217 Auch wenn man Heideggers Philosophie im weiteren Verlauf nicht mehr folgt, so bleibt in dieser fast schon rhetorisch zu nennenden Frage doch eine entscheidende Erkenntnis. Der Glaube an eine alleinige Wahrheit in der Geschichte entspricht dem Glauben an eine alleinige Wahrheit im Text. Die Theologie beansprucht im Wort Gottes diese Wahrheit, die LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft weist diesen Anspruch im paganen Text zurück. Beide Wissenschaften begegnen sich dort wieder, wo es um die Rekonstruktion der Eindeutigkeit der Wahrheit oder des Wortes Gottes geht und in der Erkenntnis, dass diese Eindeutigkeit, sobald Menschen sie zu erkennen beginnen, stets mehrdeutbar wird. Das wiederum belegt die Geschichte, die eine Geschichte unterschiedlichster Deutungen bleibt. In der Bedeutung eines Textes steckt bereits dessen DeutungDeutung – und dies nicht nur sprachlich. Und wenn ein Text vielerlei Bedeutung beansprucht, dann kann er durchaus auch vielerlei Deutungen hervorbringen. Oder anders: Wenn ein TextText vielerlei Bedeutungen hervorbringt, dann kann er auch vielerlei Deutungen beanspruchen. Man muss den Text von seinem Autor entkoppeln, will man die Vielfalt der Deutungen erkennen. Einen Text nur mit der Brille seines Autors zu lesen, dieser biografische Zugang zur Textlektüre ist legitim und mag verlockend sein, zeitigt aber eben nur diese eine, einzige DeutungDeutung. Die BedeutungBedeutung eines Textes – und ich spreche nicht von der Bedeutung eines Wortes – ist der Effekt seiner Deutung. Wie könnte Gott zu uns reden, wenn wir nicht lesen könnten? Gottes Wort ist streng genommen Gottes Text. Nur die zehn Gebote werden von Gott selbst auf zwei steinerne Tafeln geschrieben (vgl. 5. Mos 5, 22). Wer aber konnte sie lesen? Das Wort bedarf der AuslegungAuslegung, das Gottes-Wort ebenso wie das Menschen-Wort. Wiederholt sich im Streit um die richtige Textdeutung nicht je und je der reformatorische Abendmahlsstreit, ist der SinnSinn des Autors bzw. des Textes buchstäblichbuchstäblicher Sinn existent oder symbolisch zu begreifen? Ein Psalm kann beispielsweise ein Gedicht sein und ein Gedicht kann ein Gebet sein. Die literarische Form allein entscheidet nicht über seine Deutungsmöglichkeit. Auch die sprachliche Gestaltung eines Textes erschöpft nicht seine Deutbarkeit. Zur Bedeutung eines Psalms, als Gedicht oder als Gebet, muss die Deutungsarbeit des Lesers hinzukommen. Ohne seine Leser und Leserinnen ist der Text nichts. So wie Gott den Menschen braucht, um seine Verheißung zu erfüllen. Und er braucht nicht den einen, einzigen Menschen, sondern er braucht alle Menschen in ihrer Vielfalt, mit allen nationalen, sozialen, familialen, sprachlichen, kulturellen, konfessionellen, ja religiösen Eigenheiten.

These sechs: Die Kontroverse um Werktreue ist nicht nur Teil einer literaturwissenschaftlichen Debatte. Von Seiten der Theologie wird dieses Problem noch verschärft durch die sogenannten Urtexte, die zuerst einmal ein „rechtes Dolmetschen“ (LutherLuther, Martin) erfordern, was jede Diskussion um Recht oder Unrecht einer Lehre von der Verbalinspiration aushebelt. Analog dazu kann man aber schlussfolgern, dass es von Seiten der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft eine Art Theorie der Literalinspiration gibt. Danach läge die Erwartung darin, dass wir Leser und Leserinnen erfüllt seien oder erfüllt zu sein vermögen von der buchstäblichen Bedeutung eines Textes, ohne dessen Spiritualsinn, dessen Deutungsmöglichkeiten zu würdigen. Die Leser und Leserinnen eines Textes müssen erfüllt sein von der Wirklichkeit von dessen Literalsinn, von seinen Deutbarkeiten, um die Möglichkeiten des Spiritualsinns erfahren zu können.

Zweite Fuge – Der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft wird je schon vorgeworfen, sie bewege sich zwischen Stümperei und Professionalität.

Man darf sich angesichts der Tatsache, dass der Präsident einer deutschen Hochschule einem professionellen Wissenschaftler für deutsche Literatur die Frage stellt, weshalb er seinen Unterricht angesichts der Fortschritte in Internationalisierung und Globalisierung nicht in Englisch halte, denn nur so könne diese Universität einen Spitzenplatz im nationalen Ranking der Hochschulen erlangen und damit ungehinderten Zugang zu den Fleischtöpfen der Finanzierung oft sinnentleerter Projektemacherei bekommen – man darf die Frage aufwerfen: in welchen Zeiten leben wir? Die Sprechblasen sind zur Genüge bekannt, sie haben nachhaltig mit zur Insularisierung der Literaturwissenschaft im Chor der Geisteswissenschaften beigetragen. Die größte Bedeutung der Literaturwissenschaft liegt in ihrer historischen, kulturellen und sozialen Gedächtnisleistung. Direkt oder indirekt rekurrieren alle Wissenschaften im weitesten Sinne auf diese mnemokulturelle FunktionFunktion. Dabei kann die Literaturwissenschaft im Prozess von Informations- und Wissenstransfer zwei Funktionen mit unterschiedlichen Folgen übernehmen. Einmal kann sie für die Verknappung von Informationen und Wissen sorgen, sie kann einen Autor beispielsweise regelrecht sperren, was zur Bildung von Informationsmonopolen und Herrschaftswissen führt; allein die Ankündigung einer bestimmten Ausgabe eines Autors vermag die Forschung geradezu zu lähmen. Wird diese Art einer restriktiven Wissenschaftspolitik verfolgt, befördert dies letztendlich den viel beklagten Prozess der Insularisierung der Literaturwissenschaft, es bedeutet ihr Verschwinden in zunehmender Bedeutungslosigkeit und es kommt einer Ästhetisierung ihrer gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit gleich. Aber auch die gegenteilige Funktion ist denkbar, wenn die Wissenschaft durch ihre wissens- und informationsdistributive Funktion forschungsstimulierend und forschungsfördernd wirkt. In einer modernen Mediengesellschaft bewahrt die Literaturwissenschaft damit Kommunikationsstrukturen, die innerhalb des historisch-gesellschaftlichen Prozesses ursprünglich fortschrittlich waren, die Emanzipationscharakter für eine gesellschaftliche Schicht hatten und die sich zu Verständigungsformen einer gesellschaftlichen Elite entwickelten. Dem zunehmenden Prozess einer Insualisierung der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft wäre möglicherweise zu begegnen, wenn sich die Literaturwissenschaft in den Kontext einer kritischen Gesellschaftstheorie stellen würde, trotz Digitalisierung oder gerade wegen ihr, und so verhindert werden könnte, dass diese Wissenschaft die gesamtgesellschaftliche Entwicklung bloß nachvollzieht und sie nicht auch kritisch begleitet.

Die Literaturversteher, zu denen alle zu rechnen sind, die sich professionell mit dem Deuten von literarischen Texten befassen, sind eine Spezies, die in ihrer Selbstwahrnehmung schwankt. Manche verstehen sich als der bessere Autor. Sie wissen genau, was der Autor meinte, wollte, beabsichtigte, und enden meist in der Diskussion über die Intention des Textes. Den TextText besser zu verstehen als seinen Autor, das ist das erklärte ehrgeizige Ziel dieser Literaturdeuter, und sie haben in SchlegelSchlegel, Friedrich einen kapitalen Vertreter der Zunft.

Mit der Frage nach dem VerstehenVerstehen von LiteraturLiteratur ist implizit auch die Frage nach dem Nutzen der Literaturwissenschaft in ihrer professionellen, hochschulindizierten Form verbunden. Stellen wir also die Gretchenfrage des zweckrationalen Ökonomismus, der inzwischen längst Wissenschaft und Bildung infiziert hat: was hat uns das Literaturverstehen gebracht? Die Antwort klingt bestechend einfach. Das wissenschaftliche Literaturverstehen hat uns immerhin ein selten vollkommen geformtes Mineral zu Tage gefördert. Spanische Wissenschaftler haben bei Restaurierungsarbeiten in einer Madrider Bibliothek in alten Folianten sogenannte framboide Pyrite entdeckt.218 Pyrite sind Verbindungen aus Eisen und Schwefel, eher bekannt unter dem volkstümlichen Begriff Narrengold, und kommen in Hydrothermalquellen oder Sedimentgesteinen vor. Die Pyritkügelchen in den Büchern entstehen aus Ingredienzien der Tinten, die im 16. und 17. Jahrhundert verwendet wurden. Die zwischen den Seiten herrschende Sauerstoffarmut begünstigt das Wachstum. Möglicherweise helfen ein paar Bakterien mit, die sich von der Cellulose der Buchseiten und von Tintenbestandteilen ernähren. Die Pyrite haben eine nahezu vollkommene Kugelform und erreichen einen Durchmesser von bis zu 140 Mikrometern. Die Entdecker ziehen daraus den Schluss, dass in den Archiven der Madrider Bibliothek über Jahrhunderte hinweg ideale Bedingungen zum Wachstum der Pyrite geherrscht haben müssen. Dann sind Bücher also doch zu etwas nütze, Buchstaben geben Bakterien etwas zu fressen. Allein, von dieser Meldung kann eine Wissenschaft nicht leben, die Entdeckung ist qualitativ zwar wertvoll, quantitativ aber eher bescheiden.219 Der Haken dabei ist, dass von Tinte und nicht von Druckerschwärze die Rede ist und es sich also um handgeschriebene Bücher und nicht um gedruckte handelt. LiteraturLiteratur verstehenVerstehen heißt in aller Regel (die Mediävisten und Kodikologen mögen es verzeihen) Druckwerke zu verstehen, gedruckte Texte zu deuten.

Der Wille zum Verstehen treibt allerdings einige Literaturversteher dazu, sich in einer Haltung zu berauschen, die am Ende nicht nur den Autor, sondern sogar den Text selbst überflüssig zu machen scheint. Diese Überlegungen zu Ende gedacht, führen fast zwangsläufig zu den Umrissen einer triangulären HermeneutikHermeneutik, die sich auf drei zentrale Thesen stützt. These eins: Der Literaturversteher (Interpret) übernimmt die Funktion des Vaters, der sich des Textes bemächtigt. Der Text wird zum Kind, der Autor zur Mutter, welche den Text gebiert. These zwei: Der Literaturversteher übernimmt die Funktion der Mutter, welche den Text als Kind in der DeutungDeutung nochmals gebiert. Der Autor erscheint dabei als Vater oder als Kind, der Text wird dann zum Vater. Der Autor wird verkleinert, der Text selbst wird zum Übervater, in dessen Dienst alles steht, was zu einer Apotheose des Textes führt, der am Ende als TextText an sich, als reiner Text ohne soziale oder psychische Einschreibungen erscheint. These drei: Der Literaturversteher übernimmt die Funktion des Kindes, das sich verkleinert und in eine ödipale Beziehung zum Text als Vater tritt. Der Autor ist die Mutter oder der Text übernimmt die Funktion der Mutter, die das Kind, den Literaturversteher, gebiert, der Autor übernimmt somit die Funktion des Vaters.220 Um die symbolische Bedeutungsebenesymbolische Bedeutung ringt der Literaturversteher. Der geschulte Sinnsucher und Hermeneutiker SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst schrieb am 1. März 1808: „Vor wenigen Jahren noch hätte ich es für unmöglich gehalten, […] auf dem Gebiet der PhilologiePhilologie aufzutreten. Aber die Virtuosen in diesem Fache sind so sparsam mit ihren Arbeiten, daß die Stümper wohl auch herbeigeholt werden müssen“221. Stümperei oder nicht?

Mit dem von mir 2003 vorgestellten Modell eines anagrammatischenAnagrammatik LesensLesen ist der Appell zu einer Mikrologie der Ränder verknüpft. Das bedeutet nun nicht, die Arbeit der Kleinlichkeitskrämer – als die man die Mikrologen verstehen kann – gutzuheißen, sondern mikrologische Lektüre heißt Tiefenlektüre. Und genaue LektüreLektüre heißt nicht, sich vom Murmeln des TextesText einlullen lassen. Die Mikrolektüre des Textes setzt sich fort in der Makrolektüre des Kontextes. Heinrich von KleistKleist, Heinrich von schreibt in seinem 1805/06 entstandenen und zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim RedenÜber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: „Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir […], mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht ein scharfdenkender Kopf zu sein […]. Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen“222. Das anagrammatische Lesen setzt sich in Dialog mit dem eigenen Anderen, es stellt sich dem Paradox der Unlesbarkeit des Lesbaren. Und lesbar ist alles, was der Fall ist. Das bedeutet, die wahrheitswillige Lesbarkeit von Welt aufzugeben. Paul CelanCelan, Paul nennt dies in seinem Gedicht UnlesbarkeitUnlesbarkeit die „UNLESBARKEIT dieser / Welt. Alles doppelt.“223 Unica ZürnZürn, Unica spricht in ihrem Gedicht Das Geheimnis findest Du in einer jungen StadtDas Geheimnis findest Du in einer jungen Stadt von der „Geheimsignatur? Jadestein? Du findest den SinnSinn.“224 Ist anagrammatisches Lesen demnach also eine Geheimsignatur, welche die Unlesbarkeit der Welt und ihre Doppelcodierung von eigentlicher und uneigentlicher Rede weihevoll zelebriert, die lesbar macht das Unlesbare, die Sinn erschließt, wo Sinn erwartet wird? Über den Sinn oder genauer über den „Unsinn, Text auf ein Sinnkonstrukt zu reduzieren“225, also über den Unsinn, über den Sinn zu reden, wäre zu reden. „Der Sinn, das ist das Unmögliche für das mögliche Denken“, meint René MagritteMagritte, René, und weiter: „Auf die Frage: ‚Was ist der ‚Sinn‘ dieser Bilder?‘ antworten zu können, hieße so viel wie den Sinn, das Unmögliche, auf ein mögliches Denken zurückzuführen. Auf diese Frage antworten zu wollen, hieße, anzuerkennen, daß sie einen gültigen ‚Sinn‘ hat“.226 In diesem Zusammenhang sei auch an das Wort des NovalisNovalis erinnert: „Der SinnSinn der Welt ist verlohren gegangen. Wir sind beym BuchstabenBuchstaben stehn geblieben“227. Auf Sinn zu verzichten rührt an die Grundfesten jenes Textverständnisses, worauf wir konditioniert sind, durch kulturellen Gebrauch, durch schulische Bildung und durch Hochschulausbildung. Aber Philologen sind keine Apportierhunde, die nur das aus dem Text heraustragen und dem Leser zu Füßen legen zum geflissentlichen Gebrauch, was dieser zuvor mit seiner Deutungsbüchse erlegt hat. Um wiederum ein Paradox zu bemühen, denn all unser linguistisches, literaturwissenschaftliches, sprachphilosophisches, ja empirisches Wissen spricht dagegen: In der literaturwissenschaftlichen Praxis ist Sinn die Abwesenheit von BedeutungBedeutung. So stellt sich die Frage (in schillerscherSchiller, Friedrich Abwandlung): Was ist und zu welchem Ende betreibt man anagrammatischesAnagrammatik Lesen? Das anagrammatische LesenLesen macht die Verschiebungen und Verwerfungen deutlich, die der Text in unserem Diskurs über den TextText aufdeckt. Es verzichtet darauf zu fragen, was der Autor gemeint habe, es zerbricht die Vorherrschaft der Autorintention und hört stattdessen darauf, was der Text in uns zum Sprechen bringt. Die Frage nach der Autorintention ist ohnehin eine Erblast des hermeneutischen Sündenfalls, sie unterschlägt, dass Intentionalität literarisch als Rollenspiel inszeniert wird, denn in der Literatur ist nichts Zufall, außer der Zufall selbst.

Seiner rhetorischen Bedeutung nach erfüllt das klassische AnagrammAnagramm, das so alt ist wie die Schriftkultur selbst, die Funktion des delectare, der Unterhaltung, ebenso wie des Änigmatischen, des Rätselhaften, des Verweisens auf Horizonte, die nie begangen, die nie verstanden werden können, deren Vorhandensein aber der Anagrammatiker annimmt. Der Begriff des Anagramms sichert somit auch die Bedeutung der ästhetischen Lust für das LesenLesen. Roland BarthesBarthes, Roland spricht von Textlust und Textbegehren, an diese Denktradition gilt es wieder anzuknüpfen. „Lesen heißt, das Werk begehren“228, schreibt er in Kritik und WahrheitKritik und Wahrheit. Anagrammatisch lesen bedeutet, diesem BegehrenBegehren eine Sprache verleihen. Die Frage heißt nun nicht mehr: was sagt uns der TextText, sondern sie lautet: was sagen wir zu einem Text? Was lässt der Text in uns sprechen? Welche historischen Voraussetzungen und Verschränkungen nehmen wir wahr, welche Bezüge vermögen wir herzustellen? Welche Digressionen werden sichtbar? FoucaultFoucault, Michel spricht davon, dass es darum gehe zu erkennen, „was im Text als Loch, als Abwesenheit, als Lücke markiert ist“.229

Sinnlos ist nicht sinnfrei und sinnlos ist nicht sprachlos. Sinnfrei ist demnach nicht nicht-sprachlich. Ersetzen wir sinnfrei durch un-sinnig. Un-Sinn ist durchaus sprachlich. In der herkömmlichen Ordnung des Textes und seiner Auslegungen wird diese Sinnfreiheit als Un-Sinn begriffen. Die Sprache ist nicht an die Leibeigenschaft des Sinns gekettet. Der SinnSinn ist der Effekt, den Sprache in der Ordnung des Textes freisetzt und zugleich zeitigt. Es gibt aber einen Sinn diesseits der Sprache, der genauso wenig zu begreifen nötig ist wie die physische Präsenz eines Sprechers oder Schreibers oder die Annahme einer Autorinstanz. DescartesDescartes, René können wir lesen, ohne dass Descartes anwesend ist. Vielleicht meint das Roland BarthesBarthes, Roland, der im Text „eine menschliche Form“ sieht, „er ist eine Figur, ein AnagrammAnagramm des Körpers“.230 Wir haben lediglich im Laufe der Zeit gelernt, geschickt, gekonnt, vertraut mit diesen Annahmen umzugehen, sie als unverzichtbare Voraussetzungen von Textverstehen dauerhaft zu inthronisieren. Das anagrammatische Lesen überführt die Logizität der Zeichen in die Zeichenhaftigkeit der Un-Logik. Anagrammatisches Lesen verzichtet auf die Sinnannahme. Das andere Signifikat, welches das Signifikat des Anderen ist, das nicht im Text sich verborgen hält, wie SaussureSaussure, Ferdinand de, de ManMan, Paul de, DerridaDerrida, Jacques und auch BaudrillardBaudrillard, Jean annehmen, konstituiert sich erst im anagrammatischen Lesen. Und anagrammatisches Lesen lässt sich nur in der Abweichung vom vorgegebenen Signifikanten, im Willen zum Signifikat des Anderen ins Werk setzen. Dies ist das ThaumaThauma des Textes, nach jenem griechischen Wort, das Verwunderung und Erstaunen bedeutet. Ein TextText – und nicht nur ein lyrischer – versetzt uns in Erstaunen, da er uns zu zwingen vermag, mit ihm zu kommunizieren, obgleich wir wissen, dass wir nur mit uns selber sprechen. Das Zwiegespräch mit dem TextText ist ein Dialog mit uns selbst als einem fiktiven Anderen.

Ein anderer Theorieansatz bringt das anagrammatische Lesen in Bewegung. Die Art von historischer Diskursanalyse, wie sie FoucaultFoucault, Michel in den beiden Vorträgen Was ist ein Autor?Was ist ein Autor? (1969) und Die Ordnung des DiskursesDie Ordnung des Diskurses (1970) skizziert, „enthüllt nicht die Universalität eines Sinnes, sondern sie bringt das Spiel der […] aufgezwungenen Knappheit an den Tag“231, worunter Foucault die Reduktion auf einen SinnSinn oder auf wenige verbindliche Sinnauslegungen versteht. Er spricht in diesem Zusammenhang kritisch von der Monarchie des Signifikanten, der man sich verweigern müsse. Dieser Aufruf zum hermeneutischen Jakobinismus, der Zweifel am Absolutismus der Textdeutung hegt, hat bis heute nichts von seinem Charme verloren. Dieser Zweifel ist Voraussetzung für Textarbeit. Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich beispielsweise ist ein solcher Zweifler, unendlich und unabschließbar seien die DeutungenDeutung, Unendlichkeit also das Geschäft des PhilologenPhilologie, die Frage nach der intentio operis sei, im Gegensatz zur Frage nach dem Autorwillen, unerschöpflich.232 Gilt also das Interesse der Philologie dem Werk, so ist ihr Geschäft unabschließbar. Man kann dies zuspitzen, der Autor als Subjekt muss den Philologen nicht interessieren. Diese Arbeit überlassen wir den Biografisten. Das scheint BarthesBarthes, Roland gemeint zu haben, als er schrieb: „ganz verloren mitten im Text (nicht hinter ihm wie ein Deus ex machina) ist immer der andere, der Autor“, und ergänzend oder vielmehr metaphorisch überspitzt er: „Als Institution ist der Autor tot: als juristische, leidenschaftliche, biographische Person ist er verschwunden“.233 Und schon gar nicht darf dem Werk ein Subjektstatus verliehen werden, da dies eben jenen Abweichungscharakter von Texten auslöscht. Viel eher muss die Fragestellung umgekehrt werden: Weshalb interessieren wir uns so stark für eine, weshalb verbeißen wir uns regelrecht in eine Textsinnsuche, weshalb bedürfen wir eines Subjekt gewordenen Textes? Der Verdacht drängt sich auf, dass dieser Subjektsuche die Projektion eines Wahrheitswillens zugrunde liegt. Erschöpft sich die Bedeutung des Textes also nur in einer philologischen Erlösungsfantasie? FoucaultFoucault, Michel spricht in der Ordnung des DiskursesOrdnung des Diskurses vom „großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses“, er nennt es auch „das große Wuchern“.234 Was aber ist das Andere des Diskurses, welches das Rauschen bricht, es überhaupt erst vernehmbar macht? Das Andere des Rauschens ist der TextText. Anagrammatisches Lesen transformiert dieses Rauschen in SchriftSchrift. Und wieder sei die Literatur bemüht, die diesen Zusammenhang aufs Neue aufdeckt. Bei HerderHerder, Johann Gottfried liest man: „Es ist fast unvermeidlich, daß eben das Höhere, Weitverbreitete unsres Jahrhunderts auch Zweideutigkeiten der besten und schlimmsten Handlungen geben muß, die bei engern, tiefern Sphären wegfielen. Eben daß niemand fast mehr weiß, wozu er würkt: das Ganze ist ein Meer, wo Wellen und Wogen, die wohin? aber wie gewaltsam! rauschen – weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme?“235 Thomas MannMann, Thomas schreibt im Schlusssatz seiner Erzählung Schwere StundeSchwere Stunde (1905): „Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist“236. Und George BatailleBataille, George hat in der Erzählung Madame EdwardaMadame Edwarda seines Obszönen WerksObszönes Werk (dt. 1972) exakt den Zusammenhang zwischen Textbegehren und Körperbegehren beschrieben, wenn man das Rauschen in der Muschel als ein Echo des BegehrensBegehren lesen will: „Schließlich kniete ich nieder, ich schwankte, und ich legte meine Lippen auf die lebendige Wunde. Ihr nackter Schenkel liebkoste mein Ohr: mir war, als hörte ich das Rauschen einer Meereswoge, das gleiche Geräusch, das man vernimmt, wenn man das Ohr an eine große Muschel legt“237. Natürlich ist dies alles ein metonymisches Sprechen, da es ja nach den zuvor gemachten Einschränkungen nicht mit Prädikationen heißen kann ‚der Text ist …‘ oder ‚der Diskurs ist …‘. Doch es bleibt schwierig, einer Substanzialisierung des Text- und Diskursbegriffs zu entgehen. Vielleicht sollten wir es mit Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich LucindeLucinde (1799) halten: „Lieber erst den Diskurs, und hernach die Götter“238. Was die LiteraturLiteratur längst schon vollzogen hat, beginnend mit den großen Dichtern der frühen klassischen ModerneModerne von MallarméMallarmé, Stéphane, über BennBenn, Gottfried bis hin in unsere Tage zu Friederike MayröckerMayröcker, Friederike und Ernst JandlJandl, Ernst, das mangelt der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, nämlich die Abkehr vom Sinnverständnis, der Verzicht auf ein Gefangensein und Befangensein im Sinndenken. Wer wollte beispielsweise angesichts von Kurt SchwittersSchwitters, Kurt UrsonateUrsonate (1932) noch von SinnSinn reden? Dieser Text ist nicht unsinnig, nicht sinnlos, sondern sinnfrei. AnagrammatischesAnagrammatik LesenLesen lässt die Einsicht zu, dass Literatur nicht meint, was sie ist, sie spielt mit, nein sie lebt nachgerade von der Abweichung. Über diese Erkenntnis konstituiert sich das, was wir auf einer anderen Diskursebene die Fiktionalität der Texte nennen.

Digressives Lesen ist eine notwendige Voraussetzung für anagrammatisches Lesen. Denn ein TextText ist das Produkt dessen, wovon er abweicht, was er nicht enthält, was er verschweigt, was er in die Peripherie drängt, was er der Verschiebung unterwirft. Wir sprechen gerne davon, ‚auf den Text selbst zurückzukommen‘. Das aber heißt, auf das zurückzukommen, was im Text als Abwesenheit markiert ist. Und diese Rückkehr zum Text ist kein geschichtlicher Zusatz, sondern verändert den Text notwendigerweise. Der Ort der Sinnproduktion ist im herkömmlichen philologischen Verständnis das schreibende Subjekt. Anagrammatisches Lesen kehrt dies um, demnach ist das Subjekt eine Metapher für die Abwesenheit von Sinn, kunstvoll camoufliert als Sinnschöpfungsinstanz. Das anagrammatische Lesen verzichtet auf die Operation einer Subjektwerdung des Textes, denn gerade hierin erweist sich die grundlegende Differenz zwischen fiktionalen Texten und den Diskursen der abendländischen Philosophie. Es geht keineswegs darum, die Instanz eines schöpferischen Individuums von Texten infrage zu stellen. Selbst wenn DerridaDerrida, Jacques in seinem Buch Die Schrift und die DifferenzDie Schrift und die Differenz (1967) schreibt, „das ‚Subjekt‘ der Schrift existiert nicht, versteht man darunter irgendeine souveräne Einsamkeit des Schriftstellers“239, so bedeutet das nicht, dass er oder andere Theoretiker die Existenz der schreibenden Hand leugneten. Sondern, um in diesem Bild zu bleiben, die Hand, welche schreibt, wird stets geschrieben von einer Hand, die schreibt. Maurits Cornelis EscherEscher, Maurits Cornelis hat dieses Paradoxon in einer Lithografie mit dem Titel Zeichnende HändeZeichnende Hände (1948) bildlich exakt dargestellt.

Eines der eindrucksvollsten Textzeugnisse über die Bedeutung des Wortes findet sich am Beginn des Johannes-EvangeliumsJohannes-Evangelium. Die Parallele zur alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte des Beginnens als Wortschöpfung unterstreicht die Bedeutung der Arbeit am Wort: en archä än ho logos – in den Anfang eingegraben, nicht am Anfang, war das Wort, sondern im Anfang, der gewiefte Diskursanalytiker sagt nun: im Anfang war die Rede. Im Anfang war die Rede, und es war nicht die Rede vom SinnSinn. Gefangen im Käfig der Sinnsuche drapieren wir die Wände unseres engen Raums mit Phantasmen der Großwildjagd; Freiheit, Abenteuer, Wildnis – so sehen wir die Texte, die gefangen, gebändigt und verstanden gehören, schlimmstenfalls erlegt, und wir setzen in imperialer Geste den Fuß auf unsere Jagdtrophäe, lassen uns abbilden und nennen das Ganze Interpretation. Und dabei ist InterpretationInterpretation nichts anderes, als, wie Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich sagte, Kritik des Sinns,240 und Kritik bedeutet für ihn „[…] einen Autor besser verstehn als er sich selbst verstanden hat“241. Diese Ansicht hat eine lange Tradition. HerderHerder, Johann Gottfried meint 1778: „Das Leben eines Autors ist der beste Commentar seiner Schriften“242. Und HamannHamann, Johann Georg schreibt in seiner Aesthetica in nuceAesthetica in nuce (1762): „Der Autor ist der beste Ausleger seiner Worte“243. AnagrammatischesAnagrammatik LesenLesen kehrt diese Perspektive um. Es verzichtet auf den Superlativ eines besten VerstehensVerstehen, eines besten Kommentars und eines besten Auslegers und setzt stattdessen das Zweifeln, das dem Erstaunen entspringt, ins Recht. Der Zweifel an der Autorität des Autors wurde und wird stets verstanden als Zweifel an der Autorität der PhilologiePhilologie als Wissenschaft, die diese Wissenschaft aber gar nicht benötigt.

Das anagrammatische Lesen nimmt seinen Ausgangspunkt von einer sehr genauen LektüreLektüre des Textes. Anagrammatisch lesen muss heißen, unaufhörlich die Frage nach der Grenze zu stellen, nach der Grenze zwischen BeschreibungBeschreibung und DeutungDeutung. Die positivistischen Kenntnisse sind hier ebenso unverzichtbar wie es literaturgeschichtlichesLiteraturgeschichte Detailwissen ist. Nicht das Wissen ist anagrammatisch, sondern die Art seiner Anwendung. Anagrammatik ist ein Anwendungsverfahren, man kann nicht anagrammatisch wissen, aber durchaus anagrammatisch Wissen lesen. Anagrammatik betrifft also den Modus des Umgangs mit Wissen oder TextText, und nicht den Modus seiner Darstellung oder seiner Vernichtung. Die Wörtlichkeit des Textes ist natürlich der Ort seiner Ordnung, ihn nicht wörtlich zu nehmen heißt, ihn ortlos zu machen, zum Schweben zu bringen und dem ThaumaThauma, dem Zauber des Erstaunens zu folgen. LesenLesen ist keineswegs die Addition von BuchstabenBuchstaben, insofern gibt es ein wörtliches Verstehen nicht. Der Begriff anagrammatisches Lesenanagrammatisches Lesen selbst ist metonymisch zu verstehen. Zweifel können angebracht sein, ob es eine buchstäbliche Bedeutungbuchstäbliche Bedeutung eines Wortes überhaupt gibt. Das wäre eine An-sich-Bedeutung, die weit über kulturelle und gesellschaftliche Konventionen hinausginge, wesenhaft, metaphysisch, eigentlich aber mythologisch, mythopoetisch, letztlich geht es schlicht darum, Denkgewohnheiten aufzubrechen, zumindest zu erschüttern. Im Text lesen ist eine Metonymie, da es den TextText nicht gibt. Die Ordnung der Buchstaben ist nicht die Ordnung des Textes. Denn um es noch einmal zu sagen: Die Ordnung des Textes konstituiert sich nicht über die Materialität der Signifikanten, der Text ist ohne seine Leser*innen nichts. Deshalb, so wäre zu hoffen, braucht man die Literaturversteher, die nur eine andere Art von Lesern und Leserinnen sind.

Dritte Fuge – Die KulturtechnikKulturtechnik des Wissenserwerbs wird in der AllegorieAllegorie von den zwei Nachtigallen treffend dargestellt.

Nachdem der Nürnberger Schuhmachermeister und Dichter Hans SachsSachs, Hans (1494–1576) seine zunächst abwartende und beobachtende Haltung gegenüber der politisch-reformatorischen Entwicklung in Stadt und Land aufgegeben hatte, veröffentlichte er fünf Texte, die Partei nehmen für LutherLuther, Martin und die Reformation. Man kann davon ausgehen, dass Sachs nicht nur über sehr gute Bibelkenntnisse verfügte, sondern dass ihm die aktuellen Schriften Luthers bestens vertraut waren.

Aus dem Jahr 1523 stammen das Meistersanglied Das Walt gotDas Walt got und das Spruchgedicht Die Wittenbergisch NachtigallDie Wittenbergisch Nachtigall. Die vier Reformationsdialoge Disputation zwischen einem Chorherren und SchuchmacherDisputation zwischen einem Chorherren und Schuchmacher, Ein gesprech von den Scheinwercken der GaystlichenEin gesprech von den Scheinwercken der Gaystlichen, Ein Dialogus […] den Geytz […] betreffendEin Dialogus […] den Geytz […] betreffend, Ain gesprech eins Evangelischen christen mit einem LutherischenAin gesprech eins Evangelischen christen mit einem Lutherischen erschienen 1524. Überdauert hat einzig sein Spruchgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall, das fest verwurzelt ist in der Geschichte der deutschen Literatur.

Das Walt got ist als Meisterlied einer strengen Form unterworfen. Jede der drei Strophen gliedert sich wiederum in drei Teile. Die Stollen in diesem Lied sind fünfzeilig, die beiden Stollen A und A, die dem gleichen Reimschema folgen, enden also mit der zehnten Zeile, dann beginnt der aus sieben Zeilen bestehende Abgesang (B). Dieses Meisterlied ist ein religiöses Tageslied, Sachs nennt sie die ‚morgenweis‘, die er 1518 erfunden hatte. Die Nacht symbolisiert die Sünden, das Tageslicht das Evangelium, die Sonne ist Christus. Es beginnt mit diesen Worten:

„Wacht auf wacht auf es taget

Ein nachtigal die waget

ir stim mit suessem hal

ir thon durchclinget perg vnd thal.“244

Walther von der VogelweideWalther von der Vogelweide hat im 12. Jahrhundert den Gesang der Nachtigall mit der Begegnung zweier Liebenden lyrisch miteinander verknüpft. Dieses Tier gehört also zu jenen Tierarten, die emotional positiv besetzt sind und die durchweg gute menschliche Eigenschaften symbolisierensymbolisieren. Bei SachsSachs, Hans findet sich die AllegorieAllegorie der Nachtigall schon in diesem Meisterlied. In der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte taucht sie in dieser Bedeutung erstmals in der Mitte des 14. Jahrhunderts auf im Buch der NaturBuch der Natur (1349/50) des Konrad von MegenbergMegenberg, Konrad von (1309–1374), der sich wiederum auf Plinius den ÄlterenPlinius der Ältere stützt. Gelegentlich wird in diesem Zusammenhang auch auf OvidsOvid MetamorphosenMetamorphosen verwiesen, worin sich im sechsten Buch die Geschichte der Verwandlung von Philomela und Procne in Nachtigall und Schwalbe finden würde, doch ist dies so nicht stimmig. Ovid spricht nur von einer allgemeinen Verwandlung in Vögel. Die Nachtigall wird indes in einem anderen Überlieferungszweig, der auf SophoklesSophokles zurückgeht, konkret benannt. Entscheidend ist, dass die Gelehrten des MittelaltersMittelalter die Überlieferung aus der Plinius-Tradition kannten.245 Bei dem italienischen RenaissanceRenaissance-Gelehrten Lorenzo VallaValla, Lorenzo (ca. 1405–1457) findet man in seinem Buch De voluptateDe voluptate (gedruckt 1519) die zweigeteilte Vogelallegorie von der Schwalbe als Redekunst und der Nachtigall als Dichtkunst. Die Schwalbe repräsentiert demnach die städtische Beredsamkeit, wie es bei Valla heißt, die Nachtigall hingegen die Beredsamkeit der Dichter.246 Vallas Bücher waren in den europäischen, humanistischen Gelehrtenbibliotheken des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts vorhanden, nicht ausgeschlossen ist also – freilich auch nicht nachweisbar –, dass Hans SachsSachs, Hans in einer der Bibliotheken auf dieses Werk stieß.

Die Vorstellung, wonach die Nachtigall sowohl den Künstler als auch den Liebenden verkörpert, war allerdings ohnehin verbreitet. Bei Konrad von MegenbergMegenberg, Konrad von erleidet die Nachtigall lieber den Tod, als dass sie aufs Singen verzichten wolle: „und welt ê den tôt, ê daz si von irm gesang lâz“247 („sie wählt lieber den Tod, als daß sie von ihrem Gesang abläßt“248). Da ornithologisch gesehen die Nachtigallenmännchen während der Paarungszeit nachtaktiv sind und am liebsten in den frühen Morgenstunden singen, wird die Nachtigall insgesamt kulturgeschichtlichKulturgeschichte auch zur sanglichen Begleiterin all jener, die die Nacht zum Studium der LiteraturLiteratur und zum wissenschaftlichen Arbeiten nutzen. Ihr Gesang verkündet den Morgen und den neuen Tag, noch bevor der Sonnenaufgang sichtbar ist. Konrad von Megenberg schreibt: „Pei der nahtigal verstên ich die rehten maister der geschrift, die tag und naht mit übrigem grôzem gelust lesent die geschrift und tihtent new lêr […]“249 („unter der Nachtigall verstehe ich die wahren Schriftgelehrten, die Tag und Nacht mit übergroßer Begierde die Schrift lesen und mit solchem Eifer neue Unterweisungen ersinnen […]“250). Damit ist das nächtliche Studium der Heiligen Schrift und der antikenAntike Autoren gemeint, das sogenannte Lukubrieren. Medial vorbildhaft in Szene gesetzt wird diese KulturtechnikKulturtechnik des Wissenserwerbs von Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam, der 1516 seine Schrift Lucubrationes veröffentlicht, und von Martin LuthersLuther, Martin Lucubrationes in Psalmum XXILucubrationes in Psalmum XXI, die 1522, also ein Jahr vor der Wittenbergischen NachtigallDie Wittenbergisch Nachtigall des Hans Sachs, erschienen waren.

Einen Beweis, dass sich Hans Sachs auf diese humanistische Gelehrtentradition der deutschen und europäischen, mittelalterlichenMittelalter Literatur stützt, gibt es also nicht. Vielmehr gestaltet Sachs aus dieser Gemengelage von Motiven seine eigene Deutung. Er folgt nun nicht mehr den Regeln der lehrhaften Dichtung des Mittelalters, sondern für ihn wird die Nachtigall zur AllegorieAllegorie des intelligenten Aufbruchs, wie er selbst die ersten Jahre der Reformation erlebt. LutherLuther, Martin ist die Nachtigall, das erklärt er in seinem Poem Das Walt gotDas Walt got in Vers 35:

„Jst doctor Martinus

Von wittenwerg Her lutherus

Nun hœrt was er verkunde“.

Durch Luthers Wirken – Sachs nennt es die „Ewangelisch ler“ (V. 79) – seien die Menschen zum richtigen Glauben erwacht. Die Allegorisierung von Luthers Lehren und seiner publizistischen Arbeit durch die Nachtigall ist möglicherweise auch ein direkter Reflex auf jene Bemerkung Luthers selbst am Ende seines Büchleins An den christlichen Adel deutscher NationAn den christlichen Adel deutscher Nation (1520), wo er davon spricht, dass er sehr hoch gesungen habe, dass er noch ein Liedlein singen und die Noten aufs höchste stimmen könne. Unverhohlen formuliert Luther diese Metapher als Drohung an den Papst. Er spricht zwar nicht selbst von sich als einer Nachtigall, doch die poetische Verbindung der Lied- und Gesangsmetapher mit der Nachtigall als der Meisterin des Gesangs durch Hans SachsSachs, Hans drängt sich auf, denn die Nachtigall ist es, deren Singen den neuen Tag kündet. Vielleicht hat sich Hans Sachs hiervon zu seiner Nachtigallenallegorie inspirieren lassen. In der Wittenbergisch NachtigallDie Wittenbergisch Nachtigall wählt Sachs schließlich das Tier zur Titelfigur.251 LiteraturgeschichtlichLiteraturgeschichte gesehen taucht die Nachtigall 100 Jahre später an prominenter Stelle wieder auf, diesmal allerdings als Repräsentantin der Dichtung eines katholischen Poeten. Friedrich SpeeSpee, Friedrich (1591–1635) nennt seine 1649 postum erschienene Gedichtsammlung Trvtz-NachtigalTrvtz-Nachtigal und erklärt gleich in Punkt eins seiner knappen Vorrede, was er darunter versteht: „TrutzNachtigal wird das Büchlein genand weil es trutz allen Nachtigalen süß, vnd lieblich singet, vnd zwar auff recht Poëtisch“252. Das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch der Brüder GrimmGrimm, JacobGrimm, Wilhelm erklärt die besondere, dialektal kontaminierte Bedeutung der Präposition trutz. Demnach heißt es so viel wie ‚ebenso wie‘, aber auch ‚besser als‘ und ‚mehr als‘.253 Als Beleg wird unter anderem Spees Gedichtsammlung angeführt. Folgt man dieser Erklärung, so beansprucht der Jesuit und Dichter Friedrich SpeeSpee, Friedrich mit seinem Gedichtband nichts geringeres, als sogar besser singen zu können als Nachtigallen selbst singen. Das bedeutet auf der nicht-buchstäblichenbuchstäbliche Deutung Deutungsebene, dass seine deutschsprachigen Gedichte aus Sicht ihres Autors die Weihe der hohen LiteraturLiteratur erfahren und die Würde höchster künstlerischer Fertigkeit erhalten dürfen. Das ist vor dem Hintergrund der neulateinisch schreibenden Gelehrtenliteratur durchaus ein respektabler und selbstbewusster Anspruch. Seine Nachtigallen, also seine Gedichte, sollen einzig das Lob Gottes verkünden. Diese allegorischeAllegorie Gleichstellung von Dichter und Nachtigall können Hans SachsSachs, Hans wie auch Friedrich Spee aus der neulateinischen Dichtung, die sich an VergilVergil orientierte, oder aus der humanistischenHumanismus Literatur Italiens oder aber auch aus dem VolksliedVolkslied bekannt gewesen sein; wahrscheinlicher ist aber, dass sich Spee zumindest an den mittelalterlichen Christiaden orientiert.254 Die literarische FunktionFunktion der Nachtigall jedenfalls ist unzweifelhaft. Sie ist die direkte Personifikation des Dichters und vermag in beispielhafter und einzigartiger Weise das Lob Gottes zu singen, die Nachtigall ist zur „zentralen Metapher des Ästhetischen“255 und zur AllegorieAllegorie poetischer Existenz auch in Fragen der Theologie geworden. In dem fränkischen Weihnachtslied Lieb Nachtigall, wach aufLieb Nachtigall, wach auf von 1670 aus dem Bamberger GesangbuchBamberger Gesangbuch ist diese Bedeutung der Nachtigall als Sängerin des Gotteslobs bis heute erhalten geblieben. Man darf davon ausgehen, dass Spee das Werk von Hans Sachs nicht gekannt hat. Sachs war im 16. Jahrhundert in Vergessenheit geraten. Im 17. und 18. Jahrhundert galt er lange Zeit als Dichter schlechter, nämlich unregelmäßiger und holpriger Verse. Erst GoetheGoethe, Johann Wolfgang rehabilitierte Hans Sachs und dessen Knittelverse 1776 in seinem Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische SendungErklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung. In Richard WagnersWagner, Richard MeistersingerMeistersinger (1868) schließlich erfährt der Dichter Hans Sachs seine romantischeRomantik Idealisierung. Der neben LessingLessing, Gotthold Ephraim wichtigste Fabeldichter der Aufklärung Christian Fürchtegott GellertGellert, Christian Fürchtegott setzt der Nachtigall, die mit ihrem mythologischen Namen Philomele angesprochen wird, in seinem Gedicht Die Nachtigall und die LercheDie Nachtigall und die Lerche (1746) ein poetisches Denkmal:

„Die Nachtigall sang einst mit vieler Kunst;

Ihr Lied erwarb der ganzen Gegend Gunst,

Die Blätter in den Gipfeln schwiegen,

Und fühlten ein geheim Vergnügen.

Der Vögel Chor vergaß die Ruh,

Und hörte Philomelen zu.

[…]

O Dichter, denkt an Philomelen,

Singt nicht, so lang ihr singen wollt.

Natur und Geist, die euch beseelen,

Sind euch nur wenig Jahre hold.

Soll euer Witz die Welt entzücken:

So singt, so lang ihr feurig seid,

Und öffnet euch mit Meisterstücken

Den Eingang in die Ewigkeit.

Singt geistreich der Natur zu Ehren,

Und scheint euch die nicht mehr geneigt:

So eilt, um rühmlich aufzuhören,

Eh ihr zu spät mit Schande schweigt.

Wer, sprecht ihr, will den Dichter zwingen?

Er bindet sich an keine Zeit.

So fahrt denn fort, noch alt zu singen,

Und singt euch um die Ewigkeit.“256

Und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird das Stadtleben der Nachtigallen eingehend nur noch ornithologisch erforscht.257

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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