Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 26

Franz Theodor CsokorCsokor, Franz Theodor Medea postbellicaMedea postbellica (1947)

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Franz Theodor CsokorsCsokor, Franz Theodor Tragödie Medea postbellicaMedea postbellica existierte lediglich als Bühnenmanuskript.1 Nachforschungen beim Wiener Sessler Verlag als dem rechtmäßigen Eigentümer des Stücks förderten tatsächlich das maschinengeschriebene Originalmanuskript mit geringfügigen handschriftlichen Korrekturen zu Tage, dessen Entstehung Brandys mit dem Jahr 1947 angibt. Der Text von Csokors Medea postbellica wurde von mir im Musil-Forum 2005/2006 erstmals veröffentlicht.

Franz Theodor Csokor wurde am 6. September 1885 in Wien geboren und starb dort am 5. Januar 1969.2 Nach dem Studium der Kunstgeschichte und Germanistik war er kurze Zeit als Dramaturg in St. Petersburg tätig. 1915 wurde er einberufen, von 1916 an war er Mitarbeiter im Pressebüro des k.u.k.-Kriegsarchivs. 1933 wurden seine Bücher von den Nazis indiziert, 1938 emigrierte er. Nach Aufenthalten in Polen – mit der polnischen Literatur verband ihn ein besonderes Verhältnis, er übersetzte unter anderem die Ungöttliche KomödieUngöttliche Komödie von Zygmunt KrasińskiKrasiński, Zygmunt, die 1946 in Wien uraufgeführt wurde –, Rumänien und Jugoslawien gelangte er 1944 nach Rom. Nach dem Krieg kehrte er nach Wien zurück und wurde 1947 zum Präsidenten des österreichischen PEN-Clubs gewählt. Neben Prosa, Gedichten, Hörspielen, Essays und Übersetzungen verfasste Csokor vor allem Dramen und gilt bis heute als wichtiger Vertreter des österreichischen ExpressionismusExpressionismus. Zu seinen Werken zählen die Dramen Hildebrands Heimkehr (1905), Die Sünde wider den Geist (1918), Der Baum der Erkenntnis (1919), Ballade von der Stadt (1928), Gesellschaft der Menschenrechte (1929), Besetztes Gebiet (1930), Gottes General (1939), Die Kaiser zwischen den Zeiten (1965) und Alexander (1969). Noch 1994 beklagte die polnische Germanistin und Csokor-Expertin Brygida Brandys das mangelnde Interesse an Csokors Werk seitens der Literaturwissenschaft,3 obwohl der Autor „für viele in Österreich wie im Ausland schon zu Lebzeiten ein Klassiker“4 geworden war.5 Primus-Heinz Kucher sprach vom „vergessenen Expressionisten“6 CsokorCsokor, Franz Theodor. Nicht das gesamte, sehr umfassende und keineswegs vollständig veröffentlichte Werk Csokors sollte unter diesem literaturgeschichtlichen Label firmieren, sondern die „expressionistischenExpressionismus Filiationen“7 des Werks sollten gebührender wahrgenommen und gewürdigt werden.8 In der umfangreichen Epochenmonografie Geschichte der literarischen Moderne (München 2004) taucht der Name Csokor gar nicht mehr auf.9 Dass Robert MusilMusil, Robert für Csokor einer der wichtigen österreichischen Autoren der ModerneModerne darstellte, sei der Vollständigkeit halber erwähnt. Immerhin arbeiteten beide auch einige Zeit gemeinsam im österreichsichen PEN zusammen. Musils Achtung für den Kollegen hielt sich aber in Grenzen. In seinem Tagebuch notiert er: „An einen zukünftigen Literärhistoriker : Mein Herr! Ich erwarte Sie. Denn bei der zunehmenden Entfernung von der älteren Literatur wird es unvermeidlich, daß ich auch wie Csokor … daran kommen“10. 1950 veröffentlichte Csokor eine Gedenkrede anlässlich von Robert Musils 80. Geburtstag.11

Um Csokors Medea postbellicaMedea postbellica literaturgeschichtlich justieren zu können, seien nur einige wenige Aspekte einer LiteraturLiteraturgeschichte- und KulturgeschichteKulturgeschichte des Medea-Mythos benannt.12 Das literarhistorische Medea-Thema ist mit dem literatur- und kulturgeschichtlichen Thema über den Kindsmord verknüpft. Bisher las die germanistische LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft das Kindsmord-Thema als Gegenstand stoff- und motivgeschichtlicher Untersuchungen,13 sozialgeschichtlicheSozialgeschichte und kulturwissenschaftlich interessierte Studien in der Literaturwissenschaft waren die Ausnahme,14 während die Rechtsgeschichte schon vor Jahrzehnten ein Standardwerk vorgelegt hatte,15 und die geschichtswissenschaftliche Forschung zu diesem Thema in den vergangenen Jahrzehnten erheblich zugenommen hat16. In dieser Verknüpfung spiegelt sich ein kulturwissenschaftlicher Ansatz, der auf die Verschränkung von LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte und KulturgeschichteKulturgeschichte abzielt und zu folgenden drei Ergebnissen einer Engführung von Medea-Texten und Kindsmordthema in der Literatur gelangt. Erstens, das Schreiben und Veröffentlichen über Kindsmord reagiert nicht allein auf die historisch-sozialen Fakten, sondern treibt das Bewusstsein für die soziale Realität dieser Fakten erst hervor. Die zunehmende Literarisierung des Medea-Themas (im Sinne des Kindsmord-Themas) schafft eine zunehmende gesellschaftlich-öffentliche Sensibilisierung. Einen Höhepunkt dieses Prozesses können wir in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts feststellen. Den Autoren gelingt das, was von der Literatur nur in den wenigsten Momenten erwartet werden kann, sie schaffen die Wahrnehmung für ein Thema, dessen sich schnell andere Rationalitätsformen der Wissenschaft wie der Medizin, der Anthropologie, der Theologie, der Moralphilosophie, der Lexikografie, der Historiografie und der Jurisprudenz extensiv annehmen. Die auffällige Zunahme unterschiedlichster Wissenschaftsinteressen an dem Medea-Thema ab der Mitte des 18. Jahrhunderts hat ihre Wurzel in seiner Literarisierung. Zweitens, in den Medea-Texten zeigen sich zudem spezifische kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Prägungen, welche die LiteraturLiteratur dokumentiert und die auch durch die Literatur produziert, distribuiert und transformiert werden können. Diese Prägungen sind beispielsweise darin zu erkennen, dass Medea für die Literatur keine geschichtliche Figur ist, sondern einen Kollektivsingular darstellt, der für Ängste und für Leidenschaften, für Fehlverhalten des Individuums und für Fehlverhalten der Gesellschaft steht und somit einen symbolischensymbolisch Nennwert erhält. Der Rückgriff der Literatur auf den Medea-Mythos und den damit verbundenen Namen Medea erklärt sich aus der Tatsache, dass Medea längst zu einem kulturgeschichtlichen Emblemkulturgeschichtliches Emblem avanciert ist. Drittens, ein weiterer Aspekt des mythologischen, literarischen Medea-Themas liegt darin, dass es auch dem Bild von der ledigen Dienstmagd als der typischen, nämlich klassischen Kindsmörderin deutlich widerspricht. Dies hat zum einen den Grund in der sozialen Intention, den nicht-adligen Schichten vor Augen zu führen, dass Kindsmord ein schichtenübergreifendes gesellschaftliches Problem darstellt, dessen Lösung freilich schichtendistinkt bleibt. Zum anderen greift die Exponierung des Kindsmordthemas in den europäischen Hochadel, wenn wir als solchen die mythologischen Dynastien bezeichnen wollen, auf die nach wie vor erfolgreiche poetologische Regel der Fallhöhe zurück. Medea ist nicht Dienstmagd, sondern Königstochter. Das bedeutet, dass nicht die Archivalien, also die historischen Quellen, vom Kindsmord in den Oberschichten berichten, sondern die Literatur. Eine Kulturgeschichte der Literatur untersucht die Bedeutung und Funktion von Literatur im kulturellen Prozess.17 Kulturgeschichte kann als ein gemeinsames Dialogfeld differenter Disziplinen verstanden werden‚ welche ihre jeweilige Sachkompetenz mit in diesen Dialog einbringen. In der literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion wird über eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur auf der Basis sozialgeschichtlicherSozialgeschichte Theoriebildung und unter Einschluss eines textualistischen KulturverständnissesKultur diskutiert, wonach die kulturellen Praktiken und sozialen Gebrauchsweisen von Literatur berücksichtigt werden.

„Würden Sie Ihrer Tochter den Namen ‚Medea‘ geben?“18 Diese Frage wirft Olga Rinne auf und macht damit deutlich, dass Medea bis heute ein äußerst zwiespältiger Name geblieben und unser Verhältnis zu ihr nicht minder ambivalent ist.19 „Medea nigra est“,20 zitiert der aufgeklärte Lexikograf KrünitzKrünitz, Johann Georg aus der Naturgeschichte des PliniusPlinius der Ältere. Und in der Tat, Medea ist schwarz, sie ist dunkel, undurchschaubar, ein Rätsel, geheimnisvoll und furchterregend gleichermaßen. Medea ist eine kulturelle Leitfigur, ein zivilisatorisches Emblem für fehlgeleitete weibliche Leidenschaft. Medea soll nach den Lexikografen HederichHederich, Benjamin (1724) und ZedlerZedler, Johann Heinrich (1732–54) auch

„ein Muster einer unzüchtigen verlaufenen Weibes-Person seyn, welche um ihrer Geilheit ein Gnügen zu thun, Vater, Mutter und Vaterland verlassen und verrathen, alte Gecken zu ihrer Liebe gereitzet, und gleichsam zu jungen Leuten gemacht, allein auch zuletzt andere und sich selbst in das äuserste Elend gestürtzet“21.

Zum Vorwurf der Heimatflucht tritt der Hochverrat, der Verdacht des Teuflischen, die Angst vor der Frau als der Unheil- und Unglücksbringerin. Das Misogyne der antiken Berichte und antiken Medea-Darstellungen setzt sich so bis in die einflussreiche lexikografische Darstellung der Neuzeit hinein fort. Viele Artikel aus HederichHederich, Benjamins Lexikon haben maßgeblich das mythologische Wissen des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt. GoetheGoethe, Johann Wolfgang, SchillerSchiller, Friedrich, KleistKleist, Heinrich von und viele andere Schriftsteller, darunter auch GrillparzerGrillparzer, Franz, haben mit diesem Lexikon gearbeitet und daraus ihr mythologisches Wissen bezogen. Es ist die Leidenschaft der Frau, welche die Autoren fasziniert und gleichermaßen irritiert. In seinem Versuch über das deutsche SingspielVersuch über das deutsche Singspiel (1775) schreibt Christoph Martin WielandWieland, Christoph Martin, dass sich für ein Singspiel besonders mythologische Stoffe eignen, die der heroischen Zeit der Griechen entnommen sind, da sie ein Gefühl des Wunderbaren im Zuschauer und Zuhörer erregten. Diese Mythenmenschen seien „stärkerer LeidenschaftenLeidenschaften, edlerer Entschließungen und kühnerer Thaten fähig“22 als wir. Und so verwundert es nicht, wenn Wieland unter anderem Medea als eine geeignete Theaterfigur erwähnt.

Mit den Medea-Dramen von EuripidesEuripides und SenecaSeneca ist der Kindsmord in der abendländischen Literatur präsent. Weshalb gab es in Deutschland bis 1775 keine eigenständigen Medea- Adaptionen, obwohl beispielsweise in Flugschriften des 16. und 17. Jahrhunderts der Kindsmord immer wieder als Thema aufgegriffen wird?23 An dieser historischen Nahtstelle ist eine erstaunliche Forschungslücke in Literatur- und Geschichtswissenschaft zu konstatieren. Der Übergang von den fiktionalisierten oder fiktional überhöhten Texten der Flugschriften hin zu den an Einzelfällen sich orientierenden Moritatentexten ist nicht untersucht. In der Flugschriftenliteratur steht die anschauliche und damit abschreckende Übertreibung im Vordergrund. In den illustrierten Flugblättern, in Bänkelsangliedern, in Urgichten, welche als Flugblatt vor der Hinrichtung verkauft wurden und die Tat sowie das Urteil narrativ darstellten, in Balladen, in Volksliedern und in Sagen wurden Kindsmorde und Kindsmörderinnen beschrieben.24 Erst in der Literatur des 18. Jahrhunderts werden die literarischen Texte über die Medea-Frau und die Realhistorie des Kindsmords zusammengeführt. Die LiteraturLiteratur ist es, die erstens dafür sorgt, dass das Thema Kindsmord im kulturellen Gedächtnis gegenwärtig bleiben wird. Und es wird zweitens wieder die Literatur sein, die von hier aus, von ihrem ureigensten Medium des Fiktiven aus, die historische Veränderung schafft, dass Kindsmord als gesellschaftliches Problem begriffen wird, dessen Lösung weder in der Pathologisierung noch in der Mythisierung der Kindsmörderin liegen kann. Daraus folgt methodisch, dass bei der Erarbeitung dieses Themas zwischen den Ebenen der fiktionalen und der nicht-fiktionalen Texte gleichberechtigt gewechselt werden kann und insofern das Urteil zurückzuweisen ist, dass „zur Aufschlüsselung der sozialen Wirklichkeit der Kindsmörderin […] der ‚schöne‘ Diskurs“25 wenig beitrage.

Im 30. Stück seiner Hamburgischen DramaturgieHamburgische Dramaturgie (1769) schreibt LessingLessing, Gotthold Ephraim, Medea wirke geradezu „tugendhaft und liebenswürdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu heftig“26. Darin verbirgt sich eine subtile Verschiebung der Wahrnehmung. Lessings Frauenbild, wenn man dies als repräsentativ für seine Zeit annehmen will, vermag eine zärtlich liebende und eifersüchtige Medea zu rechtfertigen, mehr noch, es ist bereit, Verständnis für eine Tat wie den Kindsmord aufzubringen, wenn das Tatmotiv in einer empfindsamen Haltung gründet. Lessing antizipiert damit ein aufgeklärtes Verständnis der Medea-Frau, wie es sich in der Realhistorie des 18. Jahrhunderts erst im Anschluss an die Mannheimer Preisfrage von 1780 in der Öffentlichkeit findet. Lessing betreibt die Aufklärung der Medea-Frau. Einen Ansatz hierzu findet man bereits vierzehn Jahre zuvor in einem Drama Lessings, mit dem er das deutsche Bürgerliche Trauerspiel entscheidend fundierte. Gleichsam beiläufig agiert Lessings Figur jene Kriterien für eine verständnisvolle Beurteilung aus. Zärtlich empfindend und rasend eifersüchtig gebärdet sie sich. In dem Bürgerlichen TrauerspielBürgerliches Trauerspiel Miß Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) sagt die eifersüchtige und enttäuschte Marwood zu ihrem Liebhaber Mellefont, mit dem sie die gemeinsame Tochter Arabella hat:

„Sieh in mir eine neue Medea! […] Oder wenn du noch eine grausamere Mutter weißt, so sieh sie gedoppelt in mir! Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein Kind zu bald töten. Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will ich es sehen! Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen und das Kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas. Ich – ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei!“27

Marwood wird diese Tat nicht begehen. Der Autor LessingLessing, Gotthold Ephraim hat die Gewaltfantasien der Figur nur beschrieben, er hat sie diskursiviert, er hat zur Sprache gebracht das, was der Medea-Mythos für ihn beinhaltete, nämlich die grausame Mutter. Die Integration der Medea-Figur in ein Bürgerliches TrauerspielBürgerliches Trauerspiel durch Lessing holt das literarisch nach, was sich realhistorisch längst vollzogen hat. Kindsmord ereignet sich auch in der bürgerlichenbürgerlich Schicht und ist kein Unterschichtenphänomen. Schon wenige Jahre später werden junge Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang wie WagnerWagner, Heinrich Leopold, LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, Maler MüllerMaler Müller, SprickmannSprickmann, Anton Matthias, SchillerSchiller, Friedrich, MeißnerMeißner, August Gottlieb, StäudlinStäudlin, Gotthold Friedrich, aber auch GemmingenGemmingen, Otto Heinrich von und WuchererWucherer, Friedrich Wilhelm an diesem Punkt anknüpfen.

In der darauffolgenden Szene bereut Marwood ihre Worte:

„Wer bringt mich zu so unnatürlichen Ausschweifungen? Sind Sie es nicht selbst? Wo kann Bella sicherer sein als bei mir? Mein Mund tobet wider sie, und mein Herz bleibt doch immer das Herz einer Mutter. Ach, Mellefont! Vergessen Sie meine Raserei und denken zu ihrer Entschuldigung nur an die Ursache derselben“28.

Marwood macht den Mann ursächlich für ihre Gewaltfantasien verantwortlich und benennt damit ein Tatmotiv für einen möglichen Kindsmord, das in den historischen Verhörprotokollen der Kindsmordprozesse nur selten von den Frauen in dieser Klarheit geäußert wird: Es ist die Enttäuschung über oder der Hass auf den Kindsvater. In den meisten Fällen, bei denen dieses Motiv eine Rolle spielt, gründet es sich auf ein nicht eingehaltenes Eheversprechen. Die Schwangere sieht sich plötzlich mit familiären und sozialen Problemen allein gelassen, die zu lösen ihre individuellen Möglichkeiten übersteigt. Marwoods Gewaltfantasie macht deutlich, dass die Frau nicht nur aus Vorsatz tötet, sondern im Kind auch oder gerade den Vater töten will. Eine Verschiebung des Aggressionsobjekts vom Vater auf das Kind wird in der kriminologischen und täterpsychologischen Literatur heutzutage als wichtiges Tatmotiv angenommen.29 Der als Trauma erfahrene Verlust des Partners durch Trennung drängt die Kindsmörderin, den Partner im gemeinsamen Kind zu rächen. Dieser Aspekt der binnenpsychischen Tatmotivierung spielt aber in den meisten Kindsmordprozessen keine Rolle bei der Erklärung des Tatmotivs. Wieder ist es die LiteraturLiteratur, welche die Möglichkeiten bereithält und erprobt, die Verschiebung der Aggressionen, die ursprünglich dem Kindsvater galten, nun aber am Kind selbst ausagiert werden, zu erklären.

In Deutschland ist die MedeaMedea von Friedrich Wilhelm GotterGotter, Friedrich Wilhelm die erste eigenständige Bearbeitung des Medea-Themas, die über eine Übersetzung der euripideischen Vorlage hinausgeht. Einen ersten deutschsprachigen Übersetzungsversuch hatte Postel 1695 veröffentlicht.Euripides30 Wenn wir von dem 18. Jahrhundert als dem bürgerlichenbürgerlich Zeitalter sprechen, so ist das plötzliche Auftauchen des Medea-Themas an die Entstehung von bürgerlicher Öffentlichkeit in der AufklärungAufklärung gekoppelt. Die Aufklärung ermöglicht die Konturierung und Darstellung einer neuen Medea, die in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Sara SampsonMiss Sara Sampson, in GotterGotter, Friedrich Wilhelms MedeaMedea (1775) und in WagnersWagner, Heinrich Leopold KindermörderinDie Kindermörderin (1776) ihren Ausgang nehmen. Die Literatur trägt das Thema in die Öffentlichkeit, sie erschließt kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich gesehen die Medien der fiktionalen und der nicht-fiktionalen Texte dem Thema und schafft damit ein öffentliches, bürgerliches Bewusstsein, denn die Adressaten dieser Texte sind Bürgerliche. Dies gelingt ihr, indem sie die Grenzen zwischen Mythologie, literarischer Fiktion und Realhistorie diffundiert. Bei Gotter hat Medea ein Sendungsbewusstsein, aus dem sie einen Sendungsauftrag ableitet. Medea instrumentalisiert diesen Auftrag der Hofmeisterin gegenüber, um ihre eigentliche Tötungsabsicht zu camouflieren. Bevor Medea die Tat ausführt, hat Gotter einen Dialog zwischen ihr und den beiden Söhnen dazwischen geschaltet. Medea schreckt vor ihrer eigenen Grausamkeit zurück, aber gerade der ältere Sohn ermutigt sie in ihrer Gewaltfantasie, „wir wollen mit dir sterben, liebe Mutter“31. Erstmals tritt eine Medea auf, deren Skrupel in Selbstbezichtigungen übergehen, sie nennt sich „die abscheulichste der Mütter!“32 Dem setzt sie aber umgehend ein „Noch bist du Medea!“33 entgegen, das SenecaSenecas ‚Medea nunc sum‘ anspielungsreich variiert. Als kulturelles Emblemkulturelles Emblem Medea muss sie töten, als spätere Kindsmörderin will sie es aber nicht. Diese Vorsätzlichkeit und Zurechnungsfähigkeit ist bei nur wenigen historischen Kindsmörderinnen nachzuweisen. Die eigentliche Tat geschieht bei GotterGotter, Friedrich Wilhelm hinter der Bühne. Danach stürzt Medea mit dem Ausruf hervor: „Es ist geschehen – geschehen – Schlummert sanft ihr Lieben! euch ist wohl – zerbrochen ist euer Kerker –“34. Später wird sie Jason vorwerfen, dass er sie als Medea verkannt habe, womit der Autor auf eben dieses Bild der Medea-Frau als Kindsmörderin anspielt. Jason hätte aus der Mythologie wissen können, welchen Ausgang die Medea-Geschichte nimmt. Natürlich ist dies, oberflächlich betrachtet, höchst unlogisch und unhistorisch argumentiert, da Gotter den Mythos ja neu erzählt. Doch der Text hält gerade dieses Paradox als Spannung aufrecht. Aus Verzweiflung tötet sich Jason am Ende selbst und unterläuft damit Medeas Vorhaben, ihn absichtsvoll am Leben zu lassen. Dieses Motiv von Jasons Selbstmord hatte CorneilleCorneille, Pierre in seiner MédéeMédée (1635), die sich ansonsten an Senecas MedeaMedea orientierte, in das abendländische Medea-Thema eingeführt.

Ein „Schweinslederband“, den er zufällig im Zimmer seiner Sommerfrische vorfand, schreibt GrillparzerGrillparzer, Franz in seiner Autobiografie, habe ihn im Sommer 1817 auf die Medea-Spur geführt. Also ein prachtvoll gebundener Band von HederichHederich, Benjamins Mythologischem Lexikon in einem Nachdruck der bearbeiteten Ausgabe von 1770. Grillparzers Vorarbeiten zur Medea begannen am 29. September 1818 und wurden am 27. Januar 1820 abgeschlossen. Lange Zeit zählte Grillparzers Medea-Figur zu den begehrtesten Frauenrollen überhaupt des zeitgenössischen Theaters.35 Seit 1986 liegt der Text in einer zuverlässigen Edition von Helmut Bachmaier vor. Atethesen, Konjekturen, Zweifelsfälle gibt es nur wenige. Auch CsokorCsokor, Franz Theodor verweist beiläufig am Ende seines MusilMusil, Robert-Gedenkartikels auf Grillparzers Medea.36 Wir wissen, dass GrillparzerGrillparzer, Franz für seine ArgonautenDie Argonauten-Trilogie, deren dritter Teil die Medea darstellt, umfangreiche Quellenstudien betrieben hat. Über Hederichs lexikologisches Wissen hinaus beschäftigte er sich mit der euripideischenEuripides Medea, mit SenecasSeneca Medea-Drama und anderen Quellen.37 Am Burgtheater selbst wurden in den Jahren 1815 und 1817 die Medea-Dramen von Julius von SodenSoden, Julius von und Friedrich Wilhelm GotterGotter, Friedrich Wilhelm gespielt. Ebenso fällt die Aufführung von CherubinisCherubini, Luigi Medea-Oper in diese Zeit. An seiner Figur interessierte GrillparzerGrillparzer, Franz vor allem ihr Charakter und die Art und Weise, wie Medea „zu der für eine neuere Anschauungsweise abscheulichen Katastrophe geführt wird“38. Liest man seine Medea losgelöst von der Trilogie, wird sie zum analytischen Drama, da die Gründe, die zur Katastrophe führen, dem Text vorgängig sind. Und diese Gründe sind nicht der Kindermord, sondern sie sind von Beginn an in die Jason-Medea-Beziehung eingeschrieben. Der erste Teil der Trilogie heißt Der Gastfreund und wird von Grillparzer im Untertitel als ein Trauerspiel in einem Aufzug genannt. Doch der Titel ist bereits Ironie, denn Phryxus, der fremde Gast mit dem goldnen Vlies, wird vom Gastgeber Aietes, Medeas Vater, ermordet. Medea wächst in einer kriegerischen Gesellschaft auf. Töten und vernichten, sich ängstigen und Angst machen durch Zauber und durch Götterdrohung sind ihr täglich Brot. Die sozialen Beziehungen sind hochgradig aggressiv, und dies nicht nur verbal. So sagt Aietes zu Medea, nach Ankunft der Argonauten: „’S sind Fremde, sind Feinde“ (V. 102), und seine Tochter rät lapidar: „So geh hin und töte sie!“ (V. 104). Als Phryxus Medeas gewahr wird, preist er sie in der Topik des klassischen Frauenlobs und schließt mit den Worten: „Halb Charis steht sie da und halb Mänade“ (V. 249). Der Göttin der Anmut, Charis, steht die Mänade konträr gegenüber, die orgiastische, wilde, rauschhaft-triebhafte Frau, deren männliche Brutalität, rohes Fleisch zu essen und wilde Tiere zu jagen, fasziniert. Bereits dies zeigt, dass der männliche Blick die Frau halbiert. Der gebrochene Blick erzeugt die gebrochene Frau. Genia Schulz hat in ihrem wichtigen Beitrag zur Medea-Forschung herausgearbeitet, dass in dieser Halbierung der Frau durch den männlichen Blick sich die Teilung der weiblichen Identität ausdrückt.39 Der zweite Teil der Trilogie heißt Die Argonauten und exponiert mit Blick auf den dritten Teil die Dominanz Jasons über Medea. Dieser Medea wird kein Raum für die Entwicklung einer Identität und Individualität gelassen. Jason definiert die Sprach- und Handlungsmuster für Medea, welche diese lediglich zu bestätigen hat. Die Medea schließlich stellt den dritten Teil der Trilogie dar. Die Zahl der Dramatis personae ist gering gehalten. Kreon, der König von Korinth, seine Tochter Kreusa, Jason, Medea sowie Medeas Amme Gora bilden das eigentliche Figurenensemble. Bereits in der ersten Regieanweisung des ersten Aktes hebt Grillparzer die Bedeutung des Dunklen hervor, der Akt spielt im Dunkeln. Licht und Dunkel, Helligkeit und Schatten bekommen eine symbolische Bedeutungsymbolische Bedeutung. Das eigentlich Helle im gesamten Stück ist der Schlossbrand, nur das Unglück, die Katastrophe produziert Licht. Selbst am Ende sagt Medea noch, der Erde Glück sei nur ein Schatten. Das tragische Tun Jasons und Medeas vollzieht sich im Schatten von Aufklärung und Vernunft.Grillparzer, Franz40 Medea vergräbt die Insignien der Macht, das Vlies sowie rituelle Gerätschaften, die „Macht“ und „Wissenschaft“41 bedeuten, sie lässt sie im Dunkel der Erde verschwinden. Das Verschwinden der kulturellen Herkunft gleicht einem ungeschehen Machen, was in der Tiefe des Dunkels versenkt wird, wird verdrängt. Ihren Mann charakterisiert Medea mit den Worten:

„Nur er ist da, er in der weiten Welt

Und alles andre nichts als Stoff zu Taten.

Voll Selbstheit, nicht des Nutzens, doch des Sinns,

Spielt er mit seinem und der andern Glück.

Lockt's ihn nach Ruhm so schlägt er einen tot,

Will er ein Weib, so holt er eine sich

Was auch darüber bricht, was kümmert's ihn!

Er tut nur Recht, doch recht ist was er will.

Du kennst ihn nicht, ich aber kenn ihn ganz

Und denk ich an die Dinge, die geschehn,

ich könnt' ihn sterben sehn und lachen drob“42.

Der Tötungswunsch ist evident. Die tiefe Entfremdung der beiden Partner ist Ergebnis des ursprünglichen Gewaltverhältnisses, das in den Tod des Anderen mündet und darin endet. Sich selbst charakterisiert Medea bezeichnenderweise im Sprachgestus der verinnerlichten Rollenzuweisungen so: „ich bin ein entsetzlich, greulich Wesen, / Mir selbst ein Abgrund und ein Schreckensbild“43. GrillparzersGrillparzer, Franz Anliegen in der MedeaMedea gilt nicht mehr Männertaten, sondern einem weiblichen Täterprofil. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den beiden ersten Teilen der Trilogie. So erklärt sich auch die oft beklagte Handlungsarmut dieses Stücks, denn eine Handlung im herkömmlichen Sinn gibt es nicht mehr, die Männertaten der ersten beiden Teile der Trilogie sind vorbei, sie kehren allenfalls im retrospektiven Gespräch wieder. Nun geht es allein um die psychische Entwicklung der Frau Medea hin zur Tat, also um die Motivierung ihres tragischen Handelns. Im vierten Akt wird der Tötungsimpuls von Medea selbst verbalisiert. Auf die Frage Goras, was Medea tun wolle, gibt sie die klare Antwort, „laß sie mich töten“44. Danach fällt der klassische Satz „Medea bin ich wieder“.45 Medea hat ihre ursprüngliche Identität wiedergefunden, allerdings zum Preis der Auslöschung der gemeinsamen Geschichte mit Jason und ihren Kindern. Grillparzers Medea ist ein Text über die Tragödie der wortlosen Kommunikation. Kulturelle Kommunikationslosigkeit und geschlechterdifferenteGeschlechterdifferenz Wortlosigkeit zeitigen im Ergebnis das, wogegen sich die Arbeit der AufklärungAufklärung gewandt hat: die individuelle und politische Katastrophe. Grillparzer bringt dies in einem Epigramm aus dem Jahre 1848 auf den Punkt:

„Der Weg der neuern Bildung geht

Von Humanität

Durch Nationalität

Zur Bestialität“46.

In der Schlussszene des Stücks wird dieses exemplarische aneinander Vorbeireden deutlich.47 Grillparzers Medea ist also nicht die Frau, als die sie einmal beschrieben wurde, ein „braves Weibchen romantischen Geblüts, ein Pusselchen, deren Einfalt noch von ihrer Tugend übertroffen wird“48. GrillparzerGrillparzer, Franz entwickelt vielmehr in analytischer Beispielhaftigkeit die vielschichtigen Gründe für Medeas Tat.49 Diese betreffen das sprachliche und psychische Gewaltverhältnis zwischen Jason und Medea, die Muttersubstitution (durch Kreusa), die Partnersubstitution (ebenfalls durch Kreusa), die Erfahrung der sozialen oder kulturellen Andersheit, den Verlust personaler Identität und die Erfahrung diverser Trennungstraumata. Dies sind insgesamt Handlungsgründe und Tatmotive, die sich auch in den historischen und protokollierten Kindsmordprozessen erkennen lassen. Besonders den Aspekt der Partnersubstitution nimmt schließlich CsokorCsokor, Franz Theodor als tatauslösendes Motiv in seine Medea postbellicaMedea postbellica auf. Eigenständige Medea-Adaptionen gab es im 19. Jahrhundert keine mehr. Erst 1926 erschien von Hans Henny JahnnJahnn, Hans Henny sein Medea-Drama in Versen, dem 1924 eine Prosafassung vorangegangen war.50 Ob Csokor es gekannt hat, ist unklar. Durch die Wahl des elegischen Tons, des Blankverses und der willentlich bemühten anachronistischen Wörter schafft Jahnn in seinem Stück eine deutliche Distanz zwischen Lesenden und Text. Medea wird von Jahnn als „Negerin“ schon im Personenverzeichnis vorgestellt. Damit bemüht der Autor plakativ das Motiv der Fremdheit, das sich in Kreons Aussage „Ausländer mag ich nicht“51 erschöpft. JahnnJahnn, Hans Henny lässt Medea sagen, „ich warte auf den Ablauf des Geschicks“52. Der Autor propagiert eine Rückkehr zum Mythos, obwohl er die Handlung seines Stücks als „ganz gegenwärtig“53 verstanden wissen will. Mit seiner MedeaMedea wird deutlich, dass sich im 20. Jahrhundert das Kindsmordthema und das Medea-Thema weit voneinander entfernt haben.

„Medea ist schon lange tot“,54 wurde 1972 behauptet. Doch für die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts kann eine auffällige Häufung von Medea-Texten in der Literatur beobachtet werden, die von Frauen geschrieben wurden und mit großer Emphase die Identifikation mit der Medea-Figur trotz oder gerade wegen des Kindsmords vortrugen. Dies ist nicht nur auf die deutschsprachige Literatur begrenzt, wie Beispiele aus der italienischen, englischen, amerikanischen und französischen Literatur zeigen.55 Der Identifikation mit der Medea-Figur geht dabei stets eine intensive Auseinandersetzung mit der Medea des EuripidesEuripides voraus. Ob man angesichts der Häufung von Medea-Texten in der deutschsprachigen Literatur allerdings von einem regelrechten „Medea-Boom“56 sprechen kann, sei dahingestellt. Mit Blick auf die Literatur des 20. Jahrhunderts müssten das MedeaspielMedeaspiel und das MedeamaterialMedeamaterial von Heiner MüllerMüller, Heiner, TurrinisTurrini, Peter Kindsmord, die Medeen von Dagmar NickNick, Dagmar, Christa WolfWolf, Christa, Andreas StaudingerStaudinger, Andreas und Dea LoherLoher, Dea ausführlich genannt werden. Doch lässt allein schon diese Aufzählung deutlich werden, Medea ist in der zeitgenössischen Literatur gegenwärtig, Medea bleibtMedea bleibt (1998), so der Titel eines Dramas von Gerlind ReinshagenReinshagen, Gerlind.57 Allerdings werden Fremdheit und Alteritätserfahrung zu einem zunehmend wichtigeren Handlungsmotiv. Am Thema Kindsmord sind diese Autorinnen und Autoren nicht mehr interessiert. Dies kann als Indiz gewertet werden, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts Medea mehr und mehr als Leitfigur kultureller Fremdheitserfahrung und nicht mehr als Kindsmörderin verstanden wird. Obwohl Kindsmord, wie die Untersuchung von Annegret Wiese zeigte, als Verbrechen keineswegs weniger aktuell ist, hat sich des Themas wieder die Fachwissenschaft bemächtigt. Die Medea-Frau hingegen ist in der Gegenwart die Fremde geworden, der Kindsmord als kulturgeschichtlicheskulturgeschichtlich Thema ist von ihr abgespalten. CsokorsCsokor, Franz Theodor Medea postbellicaMedea postbellica gehört so gesehen zu den frühen Medea-Texten, die diesen historischen Prozess dokumentieren. Csokor stellt in seinem Stück eine Zeitlosigkeit her, indem er im Vorspiel die beiden Hauptakteure, die Partisanenkämpferin und Ärztin Anna und den Offizier Peter Masken tragen und als Medea und Jason sprechen lässt. Im Unterschied aber zur Tradition der meisten Medea-Dramen, spielt bei Csokor der Kindsmord und damit die Bestrafungs- und Rachefantasien Medeas keine Rolle, Marwoods Gewaltfantasma wiederholt sich nicht. Medea ist in CsokorsCsokor, Franz Theodor Stück schwanger und erwägt eine Abtreibung, vom Ende des Textes her gesehen bleibt aber offen, ob sie diese auch tatsächlich vornimmt. Csokor geht damit einen anderen Weg als später etwa Ursula HaasHaas, Ursula, deren Freispruch für MedeaFreispruch für Medea (1987) eine ausschließliche Abtreibungserzählung darstellt, und verlagert damit das Gewicht des Medea-Themas auf die Auslöschung der Rivalin. Dora, die Peter verführt und für sich gewinnen kann, erhält von Anna einen Schal, der von der Leprakranken Zoe zurückgelassen wurde, und infiziert sich dadurch selbst mit Lepra. Der Tod der neuen Geliebten ihres Partners ist die Bestrafung für dessen Untreue und Verlust. Während das Vorspiel noch in Blankversen und freien Rhythmen verfasst ist und auch durch diese gewählt lyrische Sprechform die Anbindung an die klassische Vers- und Dramensprache sucht, sind die fünf Akte des Stücks in der Sprache moderner Prosa gehalten.58 Weder neoromantischeRomantik noch expressionistischeExpressionismus Spuren lassen sich hier finden, im Gegenteil, die Verknappung der Sprache auf den verhandelten Inhalt unterstreicht die Sachlichkeit des Textes. Der mythologische Rollenkonflikt zwischen Jason und Medea wird bei CsokorCsokor, Franz Theodor als ein Geschlechterkonflikt vorgetragen, dem Schicksalhaftes eignet und der daher nicht vermieden werden kann. Der Kampf für eine bessere, und das heißt in der Lesart des Stücks sozialistische Welt, erlaubt auch die Ermordung derer, die dem entgegenstehen, wobei die Frauen aus tiefer idealistischer Überzeugung handeln, die Männer hingegen verstrickt bleiben in Strategien der Macht. Der Titel selbst gibt die zeitgenössische Referenz her, von den faschistischen Feinden, von Gaskammern ist die Rede und der Hinweis zu Beginn des Dramas, dass das Stück vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach auf dem griechischen Balkan spiele, machen die Medea postbellicaMedea postbellica zu einem politischen Zeitstück, das seinen Weg auf die Nachkriegsbühnen allerdings nie gefunden hat. Letztlich aber bleibt Csokors Medea auch ein Stück über die verlorene Liebe, wenn der Chor der Männer und Frauen Medeas Worte aus dem Vorspiel am Ende des fünften Aktes wiederholt:

„In den Tagen der Götter

geschah uns die Liebe.

Sie ging mit uns kämpfen –

Sie ging mit uns leiden –

Wo ließen wir sie –?“59

Als Ergänzung zu Csokors Medea postbellica lässt sich die Rede der Kindesmörderin vor dem WeltgerichtRede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht von Paul LeppinLeppin, Paul (1878–1945) lesen. Leppin gehört zu jenen, heute vergessenen Autoren der Prager Literatur, über die KafkaKafka, Franz als die Vertreter einer kleinen Literatur geschrieben hat. Die Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht erschien 1928 in dem Prager Verlag Die Bücherstube. 1998 wurde sie in einer Auflage von nur 100 Exemplaren im Berliner Verlag Peter Ludewig nachgedruckt. Leppins Rede der Kindesmörderin vor dem Weltgericht ist ein expressionistischerExpressionismus Prosatext, eine Art Traumnovelle, an deren Ende die männliche Hauptfigur Klaudius aus einem Schuldtraum erwacht.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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