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Karl Philipp Moritz Blunt oder der Gast (1780)

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Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp (1756–1793) veröffentlichte als 24-Jähriger das Drama Blunt oder der GastBlunt oder der Gast. Das Stück hat nicht Eingang gefunden in den Kreis jener Literatur, die durch bildungsgeschichtliche, institutionengeschichtliche, sozialgeschichtliche oder lebensgeschichtliche Bedingungen oder einfach durch Gewohnheit kanonisiert worden ist. Die Nennung dieses Dramas fehlt in fast allen literaturgeschichtlichen Lexika; auch in den spezielleren Handbüchern zur Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang findet es erst seit kurzem Erwähnung.1 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieser Ausschluss nicht gerechtfertigt ist. Im Gegenteil, dies vorweg als These formuliert: Moritz’ Blunt ist ein großartiger Abgesang auf die Literatur des Sturm und Drang, gleichermaßen seine Vollendung wie sein Ende.

Blunt oder der Gast. Fragment – unter diesem Titel erscheint der erste Teil des Textes in der Litteratur- und Theater-Zeitung Nr. 25 vom 17. Juni 1780, S. 385–399. Der zweite Teil folgt in der Ausgabe Nr. 29 vom 15. Juli 1780, S. 449–456, der dritte und letzte Teil erscheint in der Nr. 33 vom 12. August 1780, S. 513–527. Ein Jahr später veröffentlicht Moritz eine Buchausgabe (Berlin: Arnold Wever 1781) mit dem veränderten Untertitel Blunt oder der Gast. Ein Schauspiel in einem Aufzuge. Es bleibt Moritz’ einziger abgeschlossener dramatischer Versuch, berühmt geworden ist er damit nicht. Die Buchfassung – und in diesem Sinne muss sie als ein Lesedrama verstanden werden, uraufgeführt wurde das Drama erst 1986 in Heidelberg – unterscheidet sich vor allem in zwei Punkten vom Erstdruck. Einmal wird dem Text selbst eine kleine „Vorrede“ vorangestellt, zum anderen endet das Drama in der Buchfassung versöhnlich. Der Sohn wird nicht vom Vater umgebracht. Der Erstdruck bietet hingegen zwei Schlussfassungen, eine Mordvariante und eine Harmonievariante. Dass die Interpreten sich damit schwergetan haben, liegt auf der Hand. Schon bei der Gattungsbezeichnung wird die Unsicherheit der wenigen Autoren, die sich mit dem Text beschäftigt haben, offenkundig. Es wurde versucht, diesen doppelten Schluss in eine typologische Ordnung und eine literaturhistorische Bewertung zu bringen.2 Das Modell eines doppelten Schlusses ist nicht zu verwechseln mit dem Konzept der TragikomödieTragikomödie, die Trauerspiel und Lustspiel, TragödieTragödie und KomödieKomödie gleichermaßen zu sein beabsichtigt (mit den entsprechenden poetologischen Implikationen). Der doppelte Schluss hingegen unterläuft dieses Konzept, er ist nicht beides zugleich, sondern wechselt innerhalb des Stücks von einer Gattung in die andere. Dass darin weit mehr zum Ausdruck kommt als die bloße Entscheidungsunfähigkeit des Autors, wie vermutet wurde, und es sich um weit mehr als nur um ein „dramengeschichtliches Kuriosum“3 oder ein „merkwürdige[s] Jugendwerk“4 handelt, soll im Folgenden belegt werden. Denn im Fall von MoritzMoritz, Karl Philipp’ BluntBlunt oder der Gast handelt es sich darum, dass innerhalb eines Stücks zwei scheinbar sich ausschließende Schlussvarianten geboten werden. Die dagegen angeführten anderen Beispiele zielen vor allem auf die Revisionen der Autoren, die zwei unterschiedliche Schlussfassungen chronologisch nacheinander herstellen, wie beispielsweise im Fall von GoethesGoethe, Johann Wolfgang StellaStella. Außerdem negiert diese immanente Betrachtungsweise wesentliche lebensgeschichtliche, sozialgeschichtliche und ökonomische Faktoren, die einen Autor zur Überarbeitung im Sinne der Änderung von einem tragischen in einen nichttragischen Schluss veranlassen oder gar zwingen. Und zuletzt, diese Beobachtung des doppelten Schlusses ist so neu nicht. Das bekannteste und am breitesten untersuchte epische Beispiel dürfte Goethes WertherDie Leiden des jungen Werthers sein.

In der Vorrede zur Buchausgabe dementiert Moritz die thematische Verbindung seines Schauspiels mit literarischen Vorlagen, die ihn über die Namensgebung der Dramatis Personae hinaus beeinflusst haben mögen:

„Ohne zu wissen, daß Lillo den Stoff zu diesem Stück schon bearbeitet hat, und ohne einmal die Ballade zu kennen, woraus derselbe genommen ist, veranlaßte mich eine dunkle Erinnerung aus den Jahren meiner Kindheit, wo ich diese Geschichte hatte erzählen hören, sie dramatisch zu bearbeiten.“5

Gemeint ist hier der englische Autor George LilloLillo, George (1693–1739), der mit seinem Trauerspiel The London MerchantThe London Merchant (1731) ein literatur- und sozialgeschichtliches Tabu gebrochen hatte. Durften bis zu diesem Zeitpunkt nur Helden aristokratischer Herkunft in Trauerspielen dargestellt werden, so wird nun im London Merchant ein Bürgerlicher, nämlich ein Kaufmann, tragödienfähig. Für die Emanzipation des BürgertumsEmanzipation des Bürgertums im 18. Jahrhundert hatte dieser Schritt weitreichende Folgen. In Deutschland war LessingLessing, Gotthold Ephraim einer der Ersten, der die neue Gattung des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel bekannt gemacht und kultiviert hat.6

Der Vater „Blunt“ und sein Bruder, der „Bürgermeister Blunt“, aus MoritzMoritz, Karl Philipp’ Schauspiel tragen zumindest denselben Namen wie der Bediente von Milwood aus Lillos London Merchant. Allerdings muss man einschränkend hinzufügen, dass bei Moritz die weiteren Personen des Stücks, nämlich Blunts Frau „Gertrude“, die Tochter „Adelheid“ und die Tochter des Bürgermeisters „Mariane“, den Namen Blunt ebenso auch als einheimischen Familiennamen lesen lassen. Moritz’ Verteidigung in seiner Vorrede mag daher Glauben geschenkt werden und die singuläre Namensgleichheit nur eine Erinnerungsassoziation des Autors an den London Merchant sein. Lillos 1736 veröffentlichtes Drama Fatal CuriosityFatal Curiosity hingegen lieferte, beruhend auf einer englischen Ballade, den dramatischen Stoff für Moritz’ Schauspiel.7 Ein Ehepaar, das in wirtschaftliche Not geraten ist, ermordet und beraubt einen Mann, von dem sich zu spät herausstellt, dass er der verschollen geglaubte Sohn ist.

Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp in den Zusammenhang der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Literatur zu stellen ist nicht neu. Doch meist wurde dieser Versuch unternommen, um durch ein weiteres Beispiel die sogenannte Präromantik-These zu stützen, wonach der Sturm und Drang nichts anderes sei als ein Vorläufer der ‚reiferen‘ Romantik. Diese geistesgeschichtliche These, die vor allem mit den Namen Unger, Kindermann und Gundolf verknüpft ist, wurde in den vergangenen Jahrzehnten einer gründlichen Kritik und Revision unterzogen. Interessant dabei ist, dass die Literaturwissenschaft zwar durchaus eine Verbindung von MoritzMoritz, Karl Philipp’ meist frühen Werken und der Literatur des Sturm und Drang gesehen, diesen Zusammenhang aber durchweg ablehnend gedeutet hat, was bis hin zu einem biologistischen Verständnis des Sturm und Drang als spätpubertäres Entwicklungsstadium des Autors reichte.8

Man braucht nun nicht gerade ein Verfechter von Literaturauspizien, der nach Zeichen sucht, oder Anhänger einer Typologie der Schicksalsdramen zu sein, um sich von folgender Realie zur umgekehrten Interpretationsthese leiten zu lassen. Der dritte Teil des Erstdrucks endet – und damit das Stück insgesamt – auf Seite 527 der Litteratur- und Theater-Zeitung. Blättert man diese Seite um, dann findet sich auf Seite 528 die Meldung von einem „Todesfall“ mit folgendem Wortlaut: „Vor kurzem starb Johann Reinhold Michael [!] LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, Verfasser des Hofmeisters, neuen Menoza, Engländers, der Soldaten u.a.m. […]“9. Gemeint ist in dieser redaktionellen Notiz einer der wichtigsten Autoren der Sturm-und-Drang-Literatur, Jakob Michael Reinhold Lenz. Es ist mehr als eine makabre Kuriosität, dass er nicht 1780, sondern erst 1792 starb, seine Totmeldung aber durch die aufgeklärte Presse der 1780er-Jahre ging. Mit der Literatur des Sturm und Drang und seinen Autoren wollten die Produzenten und Sachwalter des aufgeklärtenAufklärung Literaturbetriebs nichts mehr zu tun haben. Es ist zumindest eine erstaunliche Koinzidenz, dass just in derselben Nummer und just unmittelbar vor dieser Totsagung Moritz’ dramatischer Epilog auf den Sturm und Drang erschien. Die These meiner Lesart heißt demnach: MoritzMoritz, Karl Philipp’ BluntBlunt oder der Gast ist eines der letzten Dramen des Sturm und DrangSturm und Drang. Das Ende dieser literaturgeschichtlichen Periode, um einen Begriff von August Wilhelm SchlegelSchlegel, August Wilhelm aufzunehmen, ist an der Um-Schreibung des ‚Familienromans‘ abzulesen, worin die Aufklärung in der Rolle der patriarchal strukturierten Familie, der rebellierende Sturm und Drang in den Söhnen präsentiert werden. Blunt ist also das Produkt einer Aufarbeitung, ein Epitaph. Die Ausführung dieser Interpretationsthese kann sich nur an die Erstveröffentlichung des Blunt halten. In der Buchausgabe sind die markanten Merkmale nivelliert, das Stück ist zu einer an den Rand des sentimentalen Rührstücks abgerutschten Gefälligkeit an den Zeitgeschmack verharmlost und gehört von daher mit Sicherheit zu den frühen Vorläufern trivialer Literatur in Deutschland.10

Worum geht es im Blunt? Der dramatische Plot ist wenig spektakulär, erst die Verschränkung der unterschiedlichen Zeichenebenen macht das Stück zu einem interessanten Text. Darin werden fast ausschließlich die Mitglieder einer bürgerlichen Familie11 vorgeführt, deren Verwandtschaftsgrade auch die sozialen Bezugsgrößen strukturieren. Auf der einen Seite stehen Blunt und seine Frau Gertrude mit ihrer sechsjährigen Tochter Adelheid. Der erstgeborene Sohn gilt seit einem Schiffbruch als tot. Auf der anderen Seite stehen der Bruder Blunts, der Bürgermeister einer „Stadt“ (S. 15) mit eigener Gerichtsbarkeit ist, und seine Tochter Mariane. Beide Familien vertreten unterschiedliche soziale Schichten. Der Bürgermeister ist „reich“ und wohnt in einem „großen schönen Hause, und in einer Straße, wo lauter schöne Häuser stehn“ (S. 15), während der berufslose Blunt mit seiner Familie den sozialen Abstieg erfahren hat und nun in ärmlichen Verhältnissen „in so einem kleinen Hause, das halb in die Erde gebaut ist“ (S. 15), wohnt. Diesen Abstieg erfährt er als solch schwerwiegende Traumatisierung, dass er weder arbeiten noch betteln gehen kann (vgl. S. 30). Um ein kleines Zubrot zu verdienen, vermietet Blunt das einzige Bett in seinem Haus an einen Fremden. Bereits die Szenenbeleuchtung in der ersten Regieanweisung verlegt das dramatische Geschehen in eine psychische und moralische Dunkelzone. „Mitternacht“, „düstre Lampe“, die Personen in Decken „gehüllt“ (S. 9) – so wird das Stück eröffnet. Das Schauspiel hat keine eigentliche Exposition, in der die Vorgeschichte des dramatischen Konflikts entfaltet wird. Vielmehr werden die Offenlegung der Vorgeschichte und die Darlegung jener Ursache, die zum dramatischen Konflikt – in diesem Fall zum Mord – führen, in die Entwicklung des Dramas hineingenommen. Man kann insofern in BluntBlunt oder der Gast durchaus ein analytisches Drama sehen. So wie Moritz auf eine Exposition verzichtet, so verzichtet er auch konsequent auf eine Akt- und Szeneneinteilung und geht mit diesem formalen Eingriff weit über die poetologische Konsequenz der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramen hinaus.

Bereits der erste Satz lässt keinen Zweifel am Handlungsmotiv der Hauptfigur aufkommen: „Was sitzest du da, Mann, und siehest aus, als ob deine Seele mit Mord umginge?“ (S. 9) Der alte Blunt wird mit den „Leiden“ (S. 9) des sozialen Abstiegs nicht fertig, er entwickelt eine Rachsucht, die sich nicht auf eine bestimmte Person richtet, sondern diffus auf den beneideten Reichtum der anderen. Dass in dieser Situation der Aggressionsbereitschaft ein Fremder das bereitgestellte Bett für eine bezahlte Übernachtung nutzt und dieser Fremde der verlorene Sohn ist, gehört zu jenen dramatisch konstruierten Zufällen, die eine fiktionale Geschichte zur Aussage über eine soziale oder psychische Befindlichkeit verdichten können. Blunts Ausruf „ich will Blut! Blut!“ (S. 9) bringt nicht ein obwaltendes ungefähres Schicksal zum Ausdruck, das ihn wegen des alten Fluches seines Schwiegervaters – „es wird ein Schwert durch deine Seele gehn“ (S. 9) – zum Handeln zwingt. Dieses Zitat bezieht sich vielmehr auf das Lukas-Evangelium Kapitel 2, Vers 35, wo Simeon im Tempel die Mutter JesuJesus mit den Worten segnet: „Siehe, dieser wird gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird, – und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, auf daß vieler Herzen Gedanken offenbar werden.“ Dieser von Moritz angeführte Bibelvers kann also nicht als ein Fluch gedeutet werden, er ist vielmehr eine Verheißung. Der Vater Gertrudes sagt dies zu seiner Tochter, die dadurch die Stilisierung zur biblischen Gestalt als Maria, und Mater dolorosa, also zur Heiligen erfährt. Gebiert sie einen Sohn, dann erfüllt sich die Verheißung. Der Sohn wird ein Zeichen, das Widerspruch erzeugt und gesellschaftliche und innerfamiliäre Konflikte provoziert. Zugleich aber wird dieser Widerspruch Einblick in die wahre Befindlichkeit der Provozierten gewähren, genauer in die eigentliche Tötungsabsicht des Vaters. Die Ursache seiner Mordtat ist der Neid auf den Reichtum des zufällig anwesenden Fremden. Der sprachliche Vergleich („als ob“) enthüllt sich schon wenig später als schreckliche Tat.

Der Hinweis des Vaters, dass ihn ein „Dämon“ (S. 10) zur Tat treibe, er selbst also unzurechnungsfähig sei, wurde von der älteren Forschung zur Geschichte der Schicksalsdramen als zusätzlicher Hinweis darauf missverstanden, dass es sich bei BluntBlunt oder der Gast um den Gattungstypus eines SchicksalsdramasSchicksalsdrama handle, womit im Übrigen wenig Erkenntnis gewonnen war. Viel eher aber ist Blunts Äußerung eine Schutzbehauptung, um seinen Wunsch, den Fremden bzw. den Sohn zu töten, sich selbst und den anderen gegenüber zu verdecken. Moritz lässt keinen Zweifel an dem wahren Mordmotiv. In der Dosenepisode führt er den Tötungswunsch des Vaters mit dem Begehren des Sohnes zusammen: Der junge Blunt („Wilhelm“, S. 16) legt sich schlafen. Er weiß, dass er in seinem Elternhaus ist, möchte sich aber erst am anderen Tag zu erkennen geben. Er „sitzt auf dem Bette“ (S. 13, Regieanweisung) und bevor er einschläft, möchte er nochmals das Bild seiner Geliebten betrachten.

Mariane, die Tochter seines Onkels, also seine eigene Cousine ersten Grades, womit MoritzMoritz, Karl Philipp übrigens das in den 1770er-Jahren oft literarisierte Inzestmotiv geschickt variiert, ist das Objekt seines Begehrens. „Mariane! du willst die Gefährtin meines Lebens werden, […]“ (S. 13) monologisiert der junge Blunt, und wenig später schließt er sie in sein Abendgebet mit den Worten ein: „[…] daß du [Gott] mir eine Gattin gibst, wie ich sie oft von dir erbat, die mir nun die kummervollen Tage des Lebens durch treue ehliche Liebe versüßen wird“ (S. 16). Dies sind natürlich auch patriarchale Redeformen, die das Schweigen der Frau zur Voraussetzung haben. Doch entscheidender ist die Selbstdeutung Blunts, die er seinen Begehrensäußerungen vorausschickt. Er sieht alle seine Wünsche verwirklicht, er benötigt keinen Traum, um die Wunscherfüllung zu inszenieren. „Sind nun nicht alle, alle die Wünsche meines Herzens erfüllt?“ (S. 13), fragt er sich selbst. Wilhelm Blunt möchte das Bild der begehrten Frau mit in den Schlaf nehmen, „vorher aber will ich noch Marianens Bild betrachten – aber ich finde die Dose nicht?“ (S. 13) Diese Dose hält zur gleichen Zeit der Vater in der Hand. Während für den Sohn die Dose mit dem Versprechen sexuellerSexualität Erfüllung verknüpft ist, repräsentiert sie für den Vater lediglich den ökonomischen Vorteil. Ihn interessiert nicht das Bild, sondern allein die „goldne Dose mit Brillanten“ (S. 12) und ihr Verkaufswert. Eigentlich müsste der alte Blunt seinen Sohn nun nicht mehr ermorden, er ist ja bereits im Besitz der begehrten Ware. Warum tut er es aber trotzdem? Der Vater simuliert Wahnsinn, um den Plan, seinen Sohn zu töten, ausführen zu können. Er hebt hinter dem Haus eine Grube aus und gibt vor, nach einem Schatz zu graben, welcher der Familie endlich wieder Reichtum bringen soll (vgl. S. 17). Das Sinnzeichen des simulierten Wahns erfüllt sich, es wird als Zeichen des Wahnsinns gelesen: „Diese Sprache hör’ ich itzt von ihm zum erstenmale! […] Seine Sinne sind zerrüttet“ (S. 17). Halb entkleidet liegt der Fremde auf seinem Bett, als der Vater in die Kammer schleicht und den Sohn tötet, und „der Vorhang fällt zu“ (S. 18).

Die nachfolgenden Szenen unterliegen einer konsequenten Dramaturgie und verraten ein großes Geschick des jungen Autors. Die Tat wird von Gertrude als das entlarvt, was sie ist: Mord. Die Einschreibung der Tat in den Wahnsinn lässt sie nicht gelten (vgl. S. 18f.). Danach folgt ein radikaler Perspektivenwechsel. Bürgermeister Blunt und Mariane treten nun zum ersten Mal auf. Beide wissen, dass Wilhelm Blunt bei seinen Eltern weilt und wollen ihn aufsuchen. Der Versuch von Gertrude und Blunt, die Tat zu verschleiern, missrät. Sie hatten gegenüber dem Bruder und Schwager behauptet, der Fremde sei abgereist. Gertrude wird von ihrem Mann zum solidarischen Gehorsam gezwungen. Adelheid gibt aber den entscheidenden Hinweis, dass Wilhelm Blunt noch anwesend ist, als Leichnam in der Grube. Dort liegt anstelle des vermeintlichen Schatzes nun der getötete Sohn, aber das wissen nur die Eltern und die Leser. Als Mariane schließlich vom Tod ihres Geliebten erfährt, bricht sie zusammen und beginnt zu delirieren. Das ambivalente Vaterwort: „rede doch“ und „schweig“ (S. 23), hat nun keine Macht mehr. Ihre Antwort ist überraschend, sie verwechselt den Vornamen ihres Geliebten: „Still, mein Vater! – Carl schläft – er hat sein Haupt zur Ruhe gelegt – er liegt noch im tiefen Schlummer begraben – aber kommen Sie, wir wollen ihn überraschen, eh’ er es sich versehen soll – Nun sind wir da – Carl! Carl! wach auf!“ (S. 23) Diese Verwechslung der Vornamen, ob absichtsvoll oder nicht, denn eigentlich heißt der Geliebte ja Wilhelm und nicht Carl, böte Anlass und Stoff genug zu einer dezidiert psychoanalytischen Deutung des Schauspiels. Carl ist bekanntlich der erste Vorname des Autors selbst.12

Blunt wird in den Kerker gebracht und darf, bevor das Todesurteil an ihm vollstreckt wird, seinen Sohn noch einmal sehen.13 Diese Szene hat MoritzMoritz, Karl Philipp mit „Blunts Wohnung. Die Leiche des Ermordeten“ (S. 25) überschrieben, sie enthält den entscheidenden dramaturgischen Trick, der das Stück insgesamt als Epitaph auf die Sturm-und-DrangSturm und Drang-Literatur zu lesen erlaubt. Der Vater stilisiert den getöteten Sohn unter seiner „Gewissensangst“ zum „Engel“ (S. 25) und wünscht: „Könnt’ ich das Geschehne ungeschehen machen“ (S. 25), „o, daß doch dies alles ein Traum wäre! – daß es ein Traum wäre! –“ (S. 26) Während der Sohn die Erfüllung seiner Wünsche in der Realität erfahren hat, verharrt der Vater in der Realität seines Wunsches. Moritz nimmt hier im literarischen Diskurs das vorweg, was später die Psychoanalyse als Erkenntnis formuliert, dass Träume eine Wunscherfüllungsfunktion haben. Im Original des Erstdrucks durch einen Doppelbalken vom vorhergehenden und durch drei Sternchen vom nachfolgenden Dramentext signifikant abgesetzt,14 fügt Moritz nach dem Ausruf des Vaters ein Gedicht ein. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass das Stück nicht auf seine Bühnenwirksamkeit oder Spielbarkeit hin angelegt ist, sondern in erster Linie vom Autor als Lesedrama begriffen wird. Die literarhistorischen Kronzeugen dieses Verfahrens sind – trotz des oft gegenteiligen Pathos – eben die Dramenautoren des Sturm und Drang. In diesem Gedicht ruft der alte Blunt die „holde Phantasie“ (S. 26) an, die ihn mithilfe der Imagination, also des Tagtraums, an jenen Punkt zurückbringen soll, bevor er die Tat beging. Danach folgt wiederum die Szene „Die Kammer des Fremden“ (S. 26 u. S. 17). Diesmal liegt der junge Blunt aber nicht „halbentkleidet“ (S. 17) auf dem Bett, sondern „halbangezogen“ (S. 26). In jenem Augenblick, als der Vater den Sohn töten will, wacht dieser „aus einem schweren Traume […], aus einem schweren Traume“ (S. 27) auf. Das Gedicht ist die grandiose Vorwegnahme filmischer Möglichkeiten, es ist die radikale Missachtung jeglicher poetologischer Norm, die kühne Mischung zweier Gattungstypen (Drama und Lyrik). Die Wiederholung bereits gespielter bzw. gelesener Szenen ist die konsequente Weiterentwicklung von Techniken der Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik, sie zu überbieten war nicht mehr möglich. In der häufigen Verwendung von Elisionen, Parenthesen und Anakoluthen sind formale und stilistische Übernahmen von der Sturm-und-Drang-Literatur zu sehen.15

Auf der inhaltlichen Ebene werden diese Übernahmen ergänzt durch eine umgekehrte Adaption, welche die Figurenkonstellation insgesamt neu zu gruppieren erlaubt. Nun rebellieren nicht mehr die Söhne gegen die Väter(-Generation), sondern die Söhne vergeben den Vätern, die Väter sind beredt, und die Söhne verwehren ihnen das Sprechen. Die Familie – das ist jene vielschichtige historische, soziale, kulturelle, literarische Figuration, die wir AufklärungAufklärung nennen. Die Väter – das sind jene aufgeklärten Autoren, die wie EngelEngel, Johann Jakob, LessingLessing, Gotthold Ephraim oder NicolaiNicolai, Friedrich den Sturm und Drang nicht nur abgelehnt haben, sondern ihm auch vehement entgegen getreten sind. Die Söhne – das sind jene Gäste (der Untertitel von MoritzMoritz, Karl Philipp’ Blunt oder der GastBlunt oder der Gast taucht bezeichnenderweise nur auf dem Titelblatt auf), die kurzzeitig geduldet, dann als lästig empfunden werden, sie sind die Fremden im eigenen Haus, deren Anspruch auf politische, literarische und sexuelleSexualität Emanzipation der Repression des aufgeklärten Blicks weichen musste. 1781, im Jahr, als die Buchausgabe des Blunt erschien, die sich bereits der aufgeklärten Erfordernis angepasst und die Funktion der Wunscherfüllung getilgt hatte, konnte dann bereits ein Zeitgenosse erleichtert schreiben: „Die Steckenpferde der EmpfindsamkeitEmpfindsamkeit, des Geniewesens, des Sturms und Drangs sind, Gottlob! jezt größtentheils […] lahm geritten“16.

Der alte Blunt als der Aufklärervater schreibt im Traum seine eigene Geschichte um, die Herkunft seines Verbrechens. Mit der Formulierung „nun sind unsre Wünsche erfüllt“ (S. 31) des jungen Blunt am Ende des Stücks weist MoritzMoritz, Karl Philipp das Drama als Wunscherfüllung aus. Zugleich aber wird der harmonische Schluss als Wunsch, eben als fiktiv entlarvt, denn der Mord geschieht ja nicht, im Gegenteil, es gibt ein fast empfindsamesEmpfindsamkeit Schlusstableau der allseitigen Umarmung und Harmonie, ganz im Sinne des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Insofern bietet das Stück auch keinen doppelten Schluss. Wo die Repression der Söhne durch die Väter so offensichtlich ist, kann es keine Versöhnung geben. Die Wunscherfüllung in der gesellschaftlichen und familialen Wirklichkeit bleibt den Figuren wie auch ihrem Autor verwehrt.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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