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Hölderlin Luther (1802/1806)

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„LutherLuther, Martin

meinest du zum Dämon

Es solle gehen,

Wie damals? Nämlich sie wollten stiften

Ein Reich der Kunst. Dabei ward aber

Das Vaterländische von ihnen

Versäumet und erbärmlich ging

Das Griechenland, das schönste, zu Grunde.

Wohl hat es andere

Bewandtnis jetzt.

Es sollten nämlich die Frommen

und alle Tage wäre

Das Fest.

Also darf nicht

Ein ehrlich Meister

und wie mit Diamanten

In die Fenster machte, des Müßiggangs wegen

Mit meinen Fingern, hindert

so hat mir

Das Kloster etwas genützet,

Denn gute Dinge sind drei.

Nicht will ich

Die Bilder dir stürmen.

und das Sakrament

Heilig behalten, das hält unsere Seele

Zusammen, die uns gönnet Gott. Die Geheimnisfreundin

Die gesellige, die auch waltet in Gärten in Italia Pomeranzen pflanzt

Weithin, Gott woll

An unser End

Hier sind wir in der Einsamkeit

Und drunten gehet der Bruder, ein Esel auch dem braunen Schleier nach, allbejahend

Von wegen des Spotts

Wenn aber der Tag

Schicksale macht, denn aus Zorn der Natur-

Göttin, wie ein Ritter gesagt von Rom, in derlei

Palästen, gehet itzt viel Irrsal,

Und Julius Geist um derweil, welcher Kalender

Gemachet, und dort drüben, in Westphalen,

Mein ehrlich Meister

Gott rein und mit Unterscheidung

Bewahren, das ist uns vertrauet,

Damit nicht, weil an diesem

Viel hängt, über der Büßung über einem Fehler

Des Zeichens

Gottes Gericht entstehet.

Ach! kennet ihr den nicht mehr

Den Meister des Forsts, und den Jüngling in der Wüste, der von Honig traun

Und Heuschrecken sich nährt. Still Geists ists. Oben wohl.

Auf Monte, wohl auch seitwärts,

Irr ich herabgekommen

Über Tyrol, Lombarda, Loretto, wo des Pilgrims Heimat

auf dem Gotthard, gezäunt, nachlässig, unter Gletschern

Karg wohnt jener, wo der Vogel

Mit Eiderdünnen, eine Perle des Meers

Und der Adler den Accent rufet, vor Gott, wo das Feuer läuft der Menschen wegen

Des Wächters Horn tönt aber über den Garden

Der Kranich hält die Gestalt aufrecht

Die Majestätische, keusche, drüben

In Patmos, Morea, in der Pestluft.

Türkisch. und die Eule, wohlbekannt den Schriften

Spricht, heischern Fraun gleich in zerstörten Städten. Aber

Die erhalten den Sinn. Oft aber wie ein Brand

Entstehet Sprachverwirrung. Aber wie ein Schiff,

Das lieget im Hafen, des Abends, wenn die Glocke lautet

Des Kirchturms, und es nachhallt unten

Im Eingeweid des Tempels und der Mönch

Und Schäfer Abschied nehmet, vom Spaziergang

Und Apollon, ebenfalls

Aus Roma, derlei Palästen, sagt

Ade! unreinlich bitter, darum!

Dann kommt das Brautlied des Himmels.

Vollendruhe. Goldrot. Und die Rippe tönet

Des sandigen Erdballs in Gottes Werk

Ausdrücklicher Bauart, grüner Nacht

Und Geist, der Säulenordnung, wirklich

Ganzem Verhältnis, samt der Mitt,

Und glänzenden

Auf falbem Laube ruhet

Die Traube, des Weines Hoffnung, also ruhet auf der Wange

Der Schatten von dem goldenen Schmuck, der hängt

Am Ohre der Jungfrau.

Und ledig soll ich bleiben

Leicht fanget aber sich

In der Kette, die

Es abgerissen, das Kälblein.

Fleißig

Es liebet aber der Sämann

Zu sehen eine,

Des Tages schlafend über

Dem Strickstrumpf.

Nicht will wohllauten

Der deutsche Mund

aber lieblich

Am stechenden Bart rauschen

Die Küsse.“1

Wenn sich Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts mit dem literarischen Sujet Martin LutherLuther, Martin beschäftigen, müssen sie sich mit einer Frage auseinandersetzen, die lautet: Wie ist es möglich, über eine solch übermächtige historische und kulturelle Figur wie LutherLuther, Martin zu schreiben, wo doch schon etliche Versuche vorliegen, von denen viele gescheitert und im Tagesgeschäft der Literatur wieder verschwunden sind? Ludwig BechsteinBechstein, Ludwig (1801–1860) benennt genau dieses Dilemma in seinem 1834 erschienenen, im besonderen Stil einer Kanzone geschriebenen Versepos LutherLuther. Im Prolog fragt der Dichter:

„Warum nur wieder singen

Was andre schon besungen?

Hofft’st Sänger, du Gelingen

Und Beifall wiederholten Huldigungen?“2

„Die meisten Deutschen“, so lautet das wissenschaftliche Urteil, „die sich im 19. Jahrhundert zu Luthers sozialer Stellung literarisch oder publizistisch äußerten, verstanden ihn als ein Vertreter des ganzen Volkes und reklamierten ihn zugleich für sich als einen ‚Mann aus dem dritten Stande‘“3. Die Reformation wurde als Grundlage des eigenen Wohlstands und von bürgerlicher Saturiertheit begriffen. Dies wird besonders im Umkreis der Publikationen zum Reformationsjubiläum 1817 deutlich. Dass diese Vereinnahmung nach der Reichsgründung 1871 in einen Prozess der Trivialisierung mündet, wurde exemplarisch an Luther-Erzählungen aufgezeigt.4 Allerdings ist dagegen einzuwenden, dass diese Tendenzen zur Trivialisierung und Verkitschung Luthers schon wesentlich früher einsetzen, nämlich bereits am Anfang des Jahrhunderts. Zacharias WernersWerner, Zacharias LutherLuther-Drama, das 1806 uraufgeführt und 1807 publiziert wurde, eröffnet diesen literarischen Zugriff auf Luther, der zugleich aber von vielen Zeitgenossen höchst distanziert registriert wurde. Werner traf zwar den Geschmack des Publikums, nicht aber denjenigen der literarischen Elite, sein Drama zielt auf die Heroisierung und nationale Vereinnahmung Luthers ab. August KlingemannKlingemann, August, der Verfasser der Nachtwachen des BonaventuraNachtwachen des Bonaventura (1804), eines der bedeutendsten Bücher der FrühromantikFrühromantik, veröffentlicht 1806 sein eigenes LutherLuther-Drama, das aber erst 1808 gedruckt wird, und Heinrich von KleistKleist, Heinrich von folgt 1810 mit seiner Novelle Michael KohlhaasMichael Kohlhaas.

Nahezu zeitgleich erscheinen also zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ihrer literarischen Qualität völlig verschiedene literarische Texte über LutherLuther, Martin. Diese öffentliche und literarische Debatte mag HölderlinHölderlin, Friedrich dazu bewogen haben, selbst Gedanken zu einem Luther-Gedicht zwischen 1802 und 1806 zu notieren. Diese Hymne auf Luther bleibt aber unvollständig und wird als Fragment erst 1916 in der Hölderlin-Ausgabe aus dem Nachlass veröffentlicht.

Hölderlins LutherLuther-Hymne ist hermetisch, dunkel und schwer zu dekodieren. Man geht heute davon aus, dass das Fragment zwischen 1802 und 1806 entstanden ist. Bei einer Lektüre und Deutung des Textes ist dem Rechnung zu tragen, dass es zwar in der literarischen Form und dem inhaltlichen sprachlichen Duktus einer Hymne geschrieben, gleichwohl aber Fragment geblieben ist. Ob die einzelnen Textteile des Gedichts tatsächlich einen zusammenhängenden, möglicherweise in sich geschlossenen Text bilden, bleibt umstritten. Auch muss offen bleiben, ob sich Hölderlin zu seinem Luther-Gedicht tatsächlich durch Zacharias WernersWerner, Zacharias LutherLuther-Drama anregen ließ, das 1806 uraufgeführt und 1807 veröffentlicht worden war.5 Nicht auszuschließen ist, dass Hölderlin auf seine Art literarisch und möglicherweise informell an einem Ideenwettbewerb um das beste Luther-Denkmal teilnehmen wollte, der 1803 öffentlich ausgeschrieben wurde. Unabhängig von diesen kontextuellen Anknüpfungspunkten ist Hölderlins LutherLuther-Hymne ein beeindruckendes literarisches Denkmal.

In der Hölderlin-Forschung spielt die Frage nach Hölderlins Luther-Kenntnissen nur eine marginale Rolle. Dabei wurde bereits der Nachweis erbracht, dass sich der Dichter intensiv mit Luther beschäftigt hat.6 Und umso befremdlicher ist es, dass das Luther-Gedicht in der philologischen Aneignung „geradezu verschollen“7 geblieben ist. Unter philologisch-wissenschaftlichem Blickwinkel ist der Text der LutherLuther-Hymne natürlich keineswegs gesichert.8 Wir kennen von HölderlinsHölderlin, Friedrich eigener Hand lediglich Notizen in Gedichtform, Satz- und Gedankenfetzen mit sichtbaren Lücken, die der Autor zu einem anderen Zeitpunkt zu füllen gedachte. Die Reihenfolge der einzelnen Seiten, über die in der Handschrift Hölderlins Notate verstreut sind, dem sogenannten Homburger FolioheftHomburger Folioheft, wird von der Forschung höchst unterschiedlich bewertet. Das bedeutet, dass je nach Hölderlin-Ausgabe ein anderer Lesetext konstituiert wird. Auf die daraus resultierenden Probleme für die Deutung des Textes gehe ich nicht weiter ein, sondern zitiere das Gedicht nach dem Textabdruck der Ausgabe Friedrich Hölderlin Gedichte.9

Die Form der Hymne ist Hölderlins bevorzugte Textform, er greift dabei auf antike griechische Muster zurück. PindarsPindar OdenOden (Klopstock) bilden für ihn den entscheidenden historischen und formalen Bezugspunkt. Die gattungstypologische Unterscheidung zwischen einer Ode und einer Hymne ist problematisch, da die Übergänge fließend sind und die Ode als eine besondere Form der Hymnik verstanden werden kann. Andererseits kann die Hymne als „ein feierlicher Lobgesang auf die Gottheit und ihre Werke“10 definiert werden, wie dies schon im zeitgenössischen Schulbetrieb versucht wurde. Ein markantes Merkmal ist der gehobene, geradezu begeistert-ekstatische Sprachstil. Alle Versuche aber, eine geschlossene, einheitlicheOden (Pindar) Definition von Hymne zu erreichen, müssen als gescheitert betrachtet werden. Entweder sind sie so allgemein, dass sie fast schon wieder trivial sind, oder sie sind so spezifisch, dass sie nur für einen bestimmten Autor, eine bestimmte Autorengruppe oder einen bestimmten Moment der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte Geltung beanspruchen können. Metrisch nahezu völlig frei gibt es keine Bindungen. Klopstocks Odenstil gilt als wichtige Entwicklungsstufe hin zu einer eigenen deutschsprachigen Hymnik. Allerdings bleibt die Bestimmung der Differenzmerkmale von Hymne und Ode nach wie vor defizitär. In der Literaturgeschichte gilt Hölderlin als der Hymnendichter schlechthin, das reicht von seinen Jugendhymnen bis zu den späten Hymnen in freien Rhythmen.11

HölderlinsHölderlin, Friedrich LutherLuther-Hymne macht wiederholt gedankliche Sprünge, deren Ordnung keiner logischen, poetischen oder narrativen Ordnung folgt. Auch die Entscheidung, wo sich der Punkt eines solchen Perspektiven- und Aussagewechsels findet, ist stark abhängig von der jeweiligen interpretativen Sicht. Der Leser wird gleich mit dem bruchstückhaften „meinest du“ der ersten Zeile direkt angesprochen. Im Mittelpunkt der Hymne steht die Zeile „Gott rein und mit Unterscheidung / Bewahren“ (V. 39). Wenn diese Worte als die Kernaussage des Textes verstanden werden und wenn sie zugleich in Bezug gesetzt werden zum Titel Luther, dann wird deutlich, dass Hölderlin in Luthers Reformationsverständnis die entscheidende historische Leistung sieht. LutherLuther, Martin ist demnach diejenige Gestalt, die Neuzeit und Antike zu vereinen, mehr noch, die er miteinander zu versöhnen vermag. Dieses Spannungsverhältnis von Moderne und Antike ist ein Grundthema in Hölderlins Lyrik.

In die Hymne verwoben im Sinne eines Quertextes sind autobiografische Referenzen, die wie Gedankenblitze den großen historischen Bogen durchstoßen. Die große Geschichtsdimension wird vom Dichter Hölderlin in diesen Momenten regelrecht eingezoomt auf sein eigenes Leben. So etwa der Hinweis, dass er als Kind im Haus seiner Eltern im schwäbischen Lauffen am Neckar mit einem Diamanten in die Glasscheiben der Fenster Inschriften geritzt hat. Oder der Hinweis, dass das Kloster „etwas genützet“ (V. 19) hat, womit er auf seine Zeit als Schüler des Evangelisch-Theologischen Seminars, eines ehemaligen Klosters, in Denkendorf und Maulbronn verweist. Oder der Hinweis am Ende des Gedichts darauf, dass er „ledig“ (V. 82) geblieben ist. Auch die Nennung von „Morea“ (V. 59) kann als Erinnerungswort gelesen werden. Hölderlin war während seiner Studienzeit in Tübingen und als Stipendiat im Evangelischen Stift mit Christian Ludwig NeufferNeuffer, Christian Ludwig (1769–1839) und Rudolf Friedrich Heinrich MagenauMagenau, Rudolf Friedrich Heinrich (1767–1846) eng befreundet. Die drei Autoren bildeten 1790 einen Dichterbund, den Alderman-Bund. Die Namensgebung sollte dem höchsten Rang in KlopstocksKlopstock, Friedrich Gottlieb GelehrtenrepublikGelehrtenrepublik von 1774 entsprechen. Sie lasen sich gegenseitig Gedichte vor und diskutierten darüber. Von Neuffer ist das Gedicht An MoreaAn Morea mit dem Datum 20. April 1790 überliefert:

„Wen einst mein Leib im Schoße der Erde ruht,

Und ich zu meinen Vätern entschlummert bin,

Wenn noch vielleicht ein edler Jüngling

Weint auf die Blumen an meinem Grabe. –

Bald wird die ernste nächtliche Stunde schon

Dem Schauplaz dieses Lebens entwinken mich:

Oft in verschwiegnen Mitternächten

Hör ich des kommenden Todes Fußtritt. –

Dann wird im linden Säuseln der Frühlingsluft

Unsichtbar dich umschweben mein irrer Geist,

Wenn du im schattenreichen Thale

Schwebenden Ganges auf Blüten wandelst,

Von jungen Zweigen dir auf den Pfad gestreut:

Wenn du der Pracht der schönen Natur dich freust,

Biß aus versilberten Gewölken

Freundlich der leuchtende Mond hervorglänzt.

Dann wandeln schnell dich düstre Gedanken an

Von Tod und Trennung, und von der Vergänglichkeit:

Du kehrst mit ahndenden Gefühlen,

Traurig gen Hauß und voll stummer Wehmut.

Ein unbekandter Schauer durchbebt dein Herz:

Der Menschen Anblik, der dir sonst theuer war,

Wie Frühethau der Rosenknospe,

Tauschtest du gerne mit tiefer Stille,

Dort ungesehn zu weinen, biß sanft der Schlaf

Auf deine Augen Körner der Ruhe streut:

O, dann erschein’ ich dir im Traume,

Strahlend in himmlischem Glanzgewande,

Und nenne Braut dich, halte den Hochzeitkranz

Dir dar: du kränzest, freudig dein Haupt damit.

Dann führ’ ich dich zum Traualtare,

Wo uns die segnende Hand des Tods

Auf ewig bindet. Freundin! du bebest ihm?

Vielleicht ist’s Vorgefühl der Unsterblichkeit!

O des Erstaunens, wenn du aufwachst:

Leb ich noch, bin ich schon hingeschlummert?

Du Heißgeliebte! nahe schon rauschet Dir

Sein kühler Fittig! freue dich, wenn dein Geist

Sich von der schönen Hülle losreißt,

Glänzet ein Tag dir, der nimmer Nacht wird.

Dann lieben erst sich zärtliche Herzen ganz,

Wo blaße Scheelsucht nimmer im Dunkeln laurt,

Wo kein Verhältniß mehr Gebürge,

Unüberfliegbar der Sehnsucht, hinthürmt.“12

Die Historisch-Kritische Hölderlin-Ausgabe (auch Frankfurter Ausgabe FHA) liest allerdings den Titel als An Morna. Möglicherweise erinnert HölderlinHölderlin, Friedrich in seinem LutherLuther-Text an diese geliebte und bedichtete Frau aus den Studientagen im Tübinger Evangelischen Stift. Gemeinhin wird in der Hölderlin-Forschung Morea indes als ältere Bezeichnung für die griechische Halbinsel Peloponnes gelesen. Zu Hilfe nimmt man dabei Namensnennungen in Hölderlins Roman HyperionHyperion (1797/99) und in seinem Gedicht Der RheinDer Rhein (1801 entstanden, 1808 gedruckt), worin „die Küsten Moreas“ erwähnt werden – wie auch im Hyperion – und sich dies dann unzweideutig auf die griechische Halbinsel beziehen lässt.13

In seinem LutherLuther-Gedicht setzt HölderlinHölderlin, Friedrich vor Morea das Wort „Patmos“ (V. 59). Er hat dieser Insel ein eigenes Gedicht mit dem gleichnamigen Titel gewidmet, die verschiedenen Fassungen sind nach 1802/03 entstanden. Die Insel Patmos liegt an der Schwelle zwischen Abendland und Morgenland, kennzeichnet also einen entscheidenden kulturellen Übergang, der als Thema für Hölderlins lyrisches Werk bedeutend ist. In religionsgeschichtlicher Hinsicht – und darauf bezieht sich ja Hölderlins Gedicht – ist die Insel insofern von Interesse, als sich der Evangelist Johannes dort aufhielt und seine Visionen empfing, die als Offenbarung des Johannes in den Bibelkanon eingegangen sind.14

Patmos kann nun schlicht als jener Ort in Hölderlins Gedicht gelesen werden, der für den Empfang religiöser Offenbarungen ebenso steht wie für die Verschriftlichung dieser spirituellen Kraft. Damit kehrt Hölderlin die Bedeutung des Worts hervor, auf der Autorebene bedeutet das: des Dichters Wort. Auf der Inhaltsebene eröffnet Hölderlin dadurch den Blick auf Luther und wirft indirekt die Frage auf, wo LuthersLuther, Martin Ort ist, das Wort Gottes in das rechte Menschenwort zu überführen? Und dieser Patmos-Ort Luthers ist die Wartburg als dem Ort von Luthers Bibelübersetzung. Mag es Zufall sein, dass auch Zacharias WernerWerner, Zacharias in seinem LutherLuther-Drama Patmos als religionsgeschichtliche und dogmatische Referenz benennt. Aber dadurch wird noch einmal der literarische Gegensatz zwischen appellativem Trivialbild wernerscher Provenienz und hymnischem Sinnverweis bei Hölderlin erkennbar. Bei Werner berichtet Staupitz davon, wie Luther mit der gewählten Einsamkeit als Junker Jörg zurechtkommt. Er wolle seine Verbannung verlassen, nur mit Mühe sei es gelungen,

„Ihn zu besänftigen, und jetzo lebt er

Zufrieden dort auf seinem schönen Pathmos,

Den Studien obliegend und der Jagd,

Die ihn in müß’gen Stunden baß ergötzt“15.

Wie weit ist dieser Text von der dichten Hymnik Hölderlins entfernt, und doch sind beide Texte nahezu zeitgleich entstanden. HölderlinHölderlin, Friedrich hingegen stellt mit nur einem einzigen Wort (nämlich Patmos) die Analogien zwischen der Insel Patmos und der Wartburg her, zwischen Johannes und LutherLuther, Martin und zwischen dem Offenbarungswort des Johannes und dem übersetzten Wort Gottes Luthers. Luthers Patmos ist die Wartburg, Luther und die Reformation insgesamt bekommen damit einen kulturellen Stellenwert in der Neuzeit, der dem kulturellen Stellenwert des Johannes im „Reich der Kunst“ (V. 4) des antiken Griechenlands entspricht. Die Frage bleibt erklärungsbedürftig, was dem Reich der Kunst in der Neuzeit auch tatsächlich korrespondiert, welche kulturgeschichtliche Auslegung also die Reformation durch Hölderlins Gedicht erfährt?

Um sich einer Antwort zu nähern, muss man nun die Verse 60 bis 71 heranziehen. Der Satz und die einzelnen Satzteile werden durch eine Implikation, eine wenn-dann-Klammer zusammengehalten: „wenn die Glocke lautet [lies: läutet]“ (V. 64) bis „dann kommt das Brautlied des Himmels“ (V. 71). Bevor geklärt werden kann, was das Brautlied des Himmels bedeutet, müssen nun die Verse 60 bis 64 betrachtet werden. Sie geben den entscheidenden Hinweis. „Die Eule […] / Spricht“ (V. 60f.), heißt es dort. Die Eule wiederum ist nicht nur SymbolSymbol der Weisheit – am bekanntesten in der Gestalt der Eule der Minerva und der eulenäugigen Göttin Athene –, sondern auch das Symbol des von Adam WeishauptWeishaupt, Adam 1776 gegründeten Illuminatenordens, eines Geheimbundes. Ob Hölderlin an dieser Stelle seines Gedichts tatsächlich einen freimaurerischen Querverweis in seinen Text eingefügt hat? So gelesen würde demnach auch der Name Morea eine weitere Bedeutungsebene entfalten, Morea ist nämlich der Illuminaten-Ordensname für die „Badische Lande“16. Belegen lässt sich diese Querverbindung nicht, widerlegen aber auch nicht.17 Die Eule ist „wohlbekannt den Schriften“ (V. 60) – aber welche Schriften sind gemeint? Die Literatur, die Wissenschaft allgemein? Oder bestimmte Schriften?

Die hier vorgeschlagene Lesart bezieht die im Gedicht angesprochene Erhaltung des SinnsSinn auf die Schriften. „Aber die erhalten den Sinn“ (V. 61), heißt es bei HölderlinHölderlin, Friedrich. Die Schriften bewahren – welche Schriften auch immer – Sinn, aber welchen Sinn? Der Leser ist durch die Dunkelheit des Gedichts gedrängt, Fragen aufzuwerfen, ohne Antwort heischen zu können, und aus diesem Verfahren der Fragenketten entsteht letztlich die Situation des Nichtwissens, des Nicht-mehr-lesen-Könnens, unmittelbar daraus „Entstehet Sprachverwirrung“ (V. 63). Hölderlin umspielt mit diesem Wort nicht die biblisch erzählte babylonische Sprachverwirrung, sondern er zielt tiefer, auf eine Sinnschicht im Text, welche die Übertragung der historischen, religiösen und mythologischen Anspielungen auf die erzählte Gegenwart des Gedichts erlaubt. Und diese erzählte Gegenwart ist eine doppelte, einmal betrifft sie die Reformation, zum anderen erzählt sie von der Biografie des Autors. Wenn die Weisheit spricht und Schriften den Sinn des gesprochenen Worts bewahren, dann bedeutet das für das LutherLuther, Martin-Thema Folgendes: Die Übersetzung des AltenAltes Testament und Neuen TestamentsNeues Testament durch Luther und seine reformatorischen Schriften sind Übersetzungen des Wort Gottes, sie bewahren also den Sinn dessen, wovon sie sprechen. Hölderlin umspielt Luthers sola scriptura, nur die Schrift allein gilt, nur das Wort Gottes zählt.

Dass nicht nur Luthers Bibelübersetzung gemeint ist, sondern auch konkrete zeitgenössische theologische Differenzen aufgegriffen werden, belegen die Verse 39 bis 44, hier wird der Abendmahlstreit unter den Reformatoren benannt. Zugleich lässt sich in den Versen 20 bis 44 ein Kern des Gedichts erkennen, der die theologische Selbstreflexion Hölderlins aufgreift und festhält. Der Dichter appelliert: „Gott rein und mit Unterscheidung / Bewahren“ (V. 39f.). Die Bibel ist Gottes Wort und enthält den Sinn. Die entstandene Sprachverwirrung der Auslegungen unter anderem über einen „Fehler / Des Zeichens“ (V. 42f.), sich konfessionell zu entzweien, statt „das Sakrament / Heilig behalten“ (V. 22f.), kann nicht darüber hinwegsehen, dass am Ende „das Brautlied des Himmels kommt“ (V. 71). Auch ein Lied, ein Brautlied, ist eine textuelle Metapher, es ist als Lied Teil jener Schriften.

Der buchstäbliche Schriftsinnbuchstäblicher Schriftsinn (LiteralsinnLiteralsinn) des Gedichts ist offensichtlich und betrifft das, wovon der Text auf seiner Oberfläche spricht, er meint das wörtliche Verstehen. Der allegorische oder symbolische Schriftsinnsymbolischer Schriftsinn (SpiritualsinnSpiritualsinn) verweist in bildlicher Sprache auf das, was nicht direkt gesagt, aber gemeint ist oder wovon der Textdeuter überzeugt ist, dass es gemeint sein könnte. Demnach wäre im LutherLuther-Gedicht die „Rippe“ (V. 72) nicht der Knochen, sondern verwiese auf die Schöpfungsgeschichte und meint die Frau. So eröffnet der Text eine Spannung zwischen „Brautlied“, „Rippe“ und „ledig“. Was verheißungsvoll beginnt und eine Frau verspricht, bedeutet in der Wirklichkeit des Dichters, dass er doch ledig, alleine, einsam bleiben muss, die Verheißung sich also nicht erfüllt. Übertragen auf den Reformationsdiskurs im Gedicht heißt dies, die Hoffnung auf eine Einigung („Brautlied“) der verschiedenen Konfessionen („Unterscheidung“), die Hoffnung auf die Wiederherstellung („Rippe“) einer einheitlichen Kirche erfüllt sich nicht. Das lyrische Ich bleibt „ledig“, die Reformation bleibt Stückwerk. Und so jung (Diminutiv „Kälblein“) sie ist und sich von der Vormacht der altkirchlichen Herrschaft losgerissen („abgerissen“) hat, so leicht läuft sie Gefahr sich darin zu verheddern („fanget aber sich“), die Reformation kann sich selbst zum Gefangenen ihrer Auslegungen machen. Dass am Ende des Gedichts doch vom lieblichen Rauschen der Küsse an der Wange des Mannes gesprochen wird, mag Ausdruck der Hoffnung sein, dass sich die Verheißung jenseits aller ungünstigen Zeitumstände doch noch erfüllen wird. Das Brautlied des Himmels könnte gesungen und die Reformation könnte dann vollendet werden.

Man kann sich an dieser Stelle die Worte aus HölderlinHölderlin, Friedrichs Gedicht Die MeinigeDie Meinige (ca. 1788 entstanden) zu eigen machen: „Sprechen will ich, wie dein LutherLuther, Martin spricht“18, heißt es dort. Übertragen auf die Luther-Hymne bedeutet dies, er, der Dichter, spricht wie einst Luther gesprochen hat in Klarheit und in der Überzeugung, dass allein das Wort Gottes unser Denken und Handeln bestimmen soll. Und auch er als Dichter tritt an mit dem reformatorischen Anspruch, die Literatur, insbesondere die Poesie, zu erneuern. Auf diesem Weg ist ihm, Hölderlin, lange Zeit kein anderer gefolgt.

Und damit schließt sich der Bogen, das Ende fügt sich zum Anfang. Jenes „meinest du […] / Es solle so gehen, / Wie damals?“ der ersten Zeilen, als ein Reich der Kunst in der Antike gestiftet war und dort die Wissenschaften blühten, verknüpft nun in einer geschichtlichen Klammer die durchaus idealisierte Vergangenheit mit der defizitären Gegenwart. Denn die Situation ist anders in dieser Gegenwart („jetzt“, V. 9), aber er, HölderlinHölderlin, Friedrich, will dennoch nicht „Bilder […] stürmen“ (V. 21). Es bleibt die Hoffnung auf das Brautlied, die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Einheit, auf ein Reich der Kunst in der Neuzeit, das ein Reich der Religion werden wird.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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