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Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug (1811) im Deutschunterricht

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Heinrich von KleistsKleist, Heinrich von (1777–1811) Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug ist 1803 entstanden. Dem Motiv des zerbochenen Krugs liegt ein Kupferstich von Le Veau aus dem Jahr 1782 zugrunde, worauf die Gerichtsszene dargestellt ist. Kleist selbst weist in seiner „Vorrede“ zum Stück darauf hin, ein wahrscheinliches „historisches Faktum“ sei Grundlage der künstlerischen Darstellung.1 Im April 1805 ist die Niederschrift beendet. Kleists Freund Adam MüllerMüller, Adam schickt im August 1807 das Manuskript an GoetheGoethe, Johann Wolfgang. Auf dem Weimarer Hoftheater wird das Stück am 2. März 1808 uraufgeführt. Erst 1811 erscheint Der zerbrochne Krug als Buchausgabe. Von 1820 an gehört es zum Repertoire deutscher Bühnen. Soweit die historischen Daten – was aber lässt uns den Zerbrochnen Krug heute noch als Schulklassiker lesen?

In einem Brief an Adam Müller vom 28. August 1807 hebt Goethe die außerordentlichen Verdienste des Stücks hervor und betont, dass die ganze Darstellung sich mit „gewaltsamer Gegenwart“2 aufdringe. Worin mag dies begründet sein? Ist dies ein nur historisches Urteil, das heutige Leser, Lehrer wie Schüler, nur mühsam zu überzeugen vermag, oder wohnt dem Stück eine literarische Kraft inne, die zeitlos ist? Für die Beharrlichkeit einer Lektüre – und das ist ja auch ein Kennzeichen von Klassikerlektüre – des Zerbrochnen Krugs in der Schule (wie übrigens auch in der Hochschule) sprechen mehrere Gründe:

1.) Der Zerbrochne Krug dokumentiert anschaulich Formen des Sprachwandels. Der Text ist geeignet, die Sprachsensibilität der Schüler/Leser zu schärfen. Dies liegt zum einen an der Versform der fünfhebigen, jambischen Blankverse, die ein aufmerksames, konzentriertes Lesen und den intensiven Informationsaustausch und eine ebensolche Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern erfordern. Durch die Verwendung von zahlreichen sprachlichen Anachronismen, deren Gebrauch unüblich, deren Herkunft unklar und deren Bedeutung unbekannt ist, sind Lehrer und Schüler zu einem Dialog mit dem Text gezwungen, der weit über das bloß historische Verständnis hinausgeht. Wörter wie „Gevatter“ (V. 128), „Muhme“ (V. 261) und „ahnden“ (V. 265) müssen nicht nur von ihrer Herkunft und Bedeutung her erklärt, sondern ihre moderne, synonyme Verwendung muss im Zusammenhang der Belegstelle diskutiert werden. Dadurch werden Normen des Sprachgebrauchs sichtbar gemacht und können kritisch erörtert und auf die Gegenwart bezogen werden. Schon am Beispiel des Titels kann ein sensibler Umgang mit sprachlichen Nuancen geübt werden: Im Partizip „zerbrochne“ ist ein ‚e‘ elidiert; selbst moderne Textausgaben und Literaturgeschichten modernisieren im Übereifer hier gelegentlich. In KleistsKleist, Heinrich von Text kommen beide Varianten vor, zerbrochne und zerbrochene. Dem Schülereinwand, ‚so spricht doch kein Mensch‘, kann durch den wiederholten, aber dadurch um nichts weniger richtigen Hinweis begegnet werden, die Künstlichkeit des Sprechens ist die Kunst der Sprache. Darin liegt nicht die Komik des Stücks begründet, sondern diese Kunst der Sprache ist poetologisches Programm des Autors und Aufweis der ‚Klassizität‘ des Stücks. Damit wird ein Anspruch des Autors formuliert, der mit den Schülerinnen und Schülern kritisch überprüft werden kann.

Die Komik des Textes ist auf mehreren Ebenen nachzuweisen. Auf der Sprachebene durch Missverstehen und durch sprachliche Doppeldeutigkeiten; auf der thematisch-analytischen Ebene dadurch, dass der Richter Adam selbst mehr und mehr zum Angeklagten und seine nächtliche Tat Schritt für Schritt aufgedeckt wird; auf der Figurenebene, indem Kleist in die Individualität der Figuren standardisierte komische Typeneigenschaften einzeichnet; und auf der Namensebene, indem die Namen der einzelnen Figuren bereits ihr im Stück offenbartes Verhalten karikieren. Am deutlichsten wohl beim Dorfrichter Adam, dessen Namen auf den biblischen Sündenfall anspielt und der als Figur diesen Sündenfall mit Eve – als Variante der biblischen Eva – wiederholt. Der Name des Gerichtsrats Walter spielt gewiss mit dem lutherischenLuther, Martin ‚das walte Gott‘ als ‚walt(e) er‘. Licht ist, entgegen seinem Namen, nicht derjenige, der Licht in die dunkle Angelegenheit von Adams Tat bringt. Die Lichtsymbolik, wonach Aufklärung als Licht dargestellt wird, hat sich erschöpft. Die Aufklärung der Tat ist keine Tat der Aufklärung. Doch findet sich dennoch ein letzter, fast schon parodistischer Nachhall auf die AufklärungAufklärung im Text. In guter aufgeklärter Tradition erweist sich der vermeintliche Teufel, den Frau Brigitte zu sehen glaubte, als die reale Gestalt des Dorfrichters Adam. Im Sinne der Vorurteilskritik der Aufklärung sind es die Beteiligten selbst, die nach und nach Einsicht und Erkenntnis gewinnen, indem sprachlich überprüft wird, was vermeintlich gesehen, gehört und gerochen (man denke an die Schwefeldämpfe) wurde. So gesehen dient der Klumpfuß des Dorfrichters weniger als intertextueller Verweis auf Sophokles’Sophokles ÖdipusÖdipus, der ja wörtlich der Schwellfuß bedeutet. KleistKleist, Heinrich von benötigt vielmehr den richterlichen Pferdefuß, um die Analogie zum Teufel in der elften Szene herstellen und die beharrliche Kraft der AufklärungAufklärung vor Augen führen zu können. In diesem Sinne ist der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug auch ein Stück gegen Vorurteile, mithin ein literarisches Dokument der Vorurteilskritik. Die Quintessenz lautet: Vernunft verhilft der Wahrheit zum Recht, was nicht unbedingt gleichbedeutend sein muss mit der Einsicht, dass Recht vernünftig gesprochen wird. In diesem Sinne ließe sich Kleists Komödie sogar als Rechtssatire lesen.

2.) Auch unter literaturgeschichtlichem Aspekt vermag die Lektüre des Textes zu einer differenzierten historischen Wahrnehmung beizutragen. Kleists Komödie kann insgesamt als ein Beispiel des Epochenumbruchs um 1800 in der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte gelesen werden. Dieser Umbruch dokumentiert den Wandel von literarischen Standards und BewusstseinsformenBewusstseinsformen des späten 18. Jahrhunderts zum Sprach-, Stil- und Themeninventar der Weimarer KlassikWeimarer Klassik. Dies erlaubt eine Problematisierung des Verhältnisses der literaturgeschichtlichen Strömungen von SpätaufklärungSpätaufklärung, FrühromantikFrühromantik und Weimarer Klassik ebenso wie es die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins von Epochenstrukturen fördert und die Einsicht stärkt, dass historisches Denken konstruktives und nicht re-konstruktives Denken bedeutet. In diesem Zusammenhang kann auch am Beispiel des Autors Heinrich von Kleist historisches, biografisches und sozial-geschichtliches Arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern geübt werden. Dies ist freilich ein Argument, das diesem Text nicht allein zugutekommt, sondern von nahezu jedem Autor oder Text gilt.

3.) Kleist definiert sein Drama im Untertitel als ein Lustspiel. Der Zerbrochne Krug ist der wohl bekannteste Beispieltext für eine deutsche KomödieKomödie. Damit lassen sich allgemeine Gattungsmerkmale ebenso diskutieren wie ein theaterdidaktisches Verständnis für die dramatische Struktur dieser Komödie geschaffen werden kann. Dies wirft die Frage nach dem Verständnis des Komischen auf und erlaubt, Aspekte der reinen (und formalen) Gattungslehre zu diskutieren. Ein Verständnis für die dramatische Struktur des Stücks zu schaffen, heißt, in die Fragen und Probleme der Dramenanalyse einzuführen. Dies betrifft einen grundsätzlichen methodischen Aspekt im Umgang mit einem Klassikertext. So unverzichtbar und wichtig die Kenntnisse über die Struktur des Dramas sind (poetologische Funktion, Ort-Zeit-Handlungs-Schema, FallhöheFallhöhe, StändeklauselStändeklausel, Verlachkomödie, Typenkomödie etc.), so wichtig ist die Frage nach der Aktualität eines Klassikers. Die Übertragung in das eigene Leben der Schülerinnen und Schüler, der Gewinn von Erkenntnissen, Themen, Motiven und Typen, die durch Erfahrungen des eigenen Lebens der Schüler bestätigt werden können, rechtfertigt erst die Rede von einem Schulklassiker.

Schließlich kann auch die Einsicht in die Geschichtlichkeit und den sprachlichen wie inhaltlichen historischen Wandel von Komik gefördert werden. Was dem Text als inhärente Witzstruktur eignet und von vielen Lesern auch so rezipiert wurde und immer noch wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Produkt einer bildungsgeschichtlichen Prägung. Da das Vorwissen über den Text auch das typologische Wissen um dessen Gattung KomödieKomödie beinhaltet, wird bei den Lesern ein Komikanspruch geschaffen, dessen Einlösung sprachlich detailliert jeweils in konkreter Textstellenarbeit geprüft werden kann. Damit zusammenhängend lässt sich auch die Frage diskutieren, ob und in welchem Maß Komik generationenabhängig, also einem geschichtlichen Wandel unterworfen ist.

Der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug ist ein analytisches Drama, das bedeutet, dass die Tat bereits zu Beginn des Textes geschehen ist und nun Schritt für Schritt im Wechselspiel von Rede und Gegenrede aufgedeckt wird. Sein großes weltliterarisches Vorbild hierfür findet Kleist in der griechischen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte. Bereits in der „Vorrede“ zum Stück verweist er auf Kreon und Ödipus, die beiden Hauptfiguren von SophoklesSophokles’ Tragödie König ÖdipusKönig Ödipus. Die Komik ergibt sich nun aus den dramatischen Verwicklungen, die der Autor um das Dingsymbol des zerbrochenen Krugs gruppiert. Der unangemeldete Revisionsbesuch durch Gerichtsrat Walter dient gleichsam als Katalysator, der das Spannungsgeschehen steigert und am Ende Dorfrichter Adam als gesuchten Täter entlarvt. Frau Marthe Rull klagt vor dem Dorfgericht wegen der Zerstörung ihres Krugs und löst mit ihrer Klage erst die Ermittlungen aus, die zugleich eine andere Tat aufdecken. Ihre Tochter Eve hatte nämlich unerlaubterweise nächtlichen Besuch, und ihr Verlobter Veit wird nun beschuldigt, Eve besucht und dabei den Krug zerstört zu haben. Die Leser wissen schon sehr bald, dass der Verdacht auf Richter Adam fallen muss, so dass sich also die Lesespannung nicht auf die Frage richtet, wer war der Täter, sondern darauf, wie wird die Tat aufgeklärt?

4.) Die sehr differenziert gezeichneten Charaktere des Textes veranschaulichen bestimmte menschliche Verhaltensweisen. In der Lektürearbeit kann die Rekonstruktion von Figurencharakterisierungen und die Übertragung in das wirkliche Leben der Schüler geübt und deren Wahrnehmungs- und Sprachvermögen erweitert werden. Beobachtungsgabe, sprachliches Differenzierungsvermögen, Sprech- und Schreibkompetenz der Schüler, kurz allgemeine kognitive Fähigkeiten werden hierdurch gefestigt.

5.) Die Reihung dieser Argumente eröffnet den Blick auf die Themenvielfalt von KleistsKleist, Heinrich von Komödie, die der Text offeriert: Respekt, Autorität, Obrigkeit, Macht, Willkür etc. Sie zu erarbeiten und zu bewerten erfordert ein genaues Textverständnis. Die Macht der List wird von Adam anfänglich ebenso repräsentiert wie sie zum Ende hin von Walter bestätigt wird. Die Frage danach, worin das Delikt Adams eigentlich besteht, öffnet die Wahrnehmung der Schüler für die Rolle der Frau im Text wie in der historischen Wirklichkeit Kleists. Die Frage nach den GeschlechterrollenGeschlechterrollen kann intensiv und gegenwartsbezogen diskutiert werden, ebenso die Rolle des Gefühls und die tabuisierte SexualitätSexualität.

Dorfrichter Adam verkörpert die Verbindung von Verdacht und Verdächtigung, und es stellt sich die Frage, ob Adam prinzipiell zur Einsicht fähig ist und seine Flucht Ausdruck seines Unrechtsbewusstseins ist oder als Schuldeingeständnis im moralischen und juristischen Sinn gilt.

Schließlich erlaubt der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug auch eine mediendidaktischeMediendidaktik Lektüre. Wohl kaum ein Text der Literatur des 19. Jahrhunderts eignet sich hierzu besser als Kleists Lustspiel. Dies hat seine Ursache in der banalen Tatsache, dass diese Komödie seit vielen Jahrzehnten zum festen Bestand der Spielpläne deutschsprachiger Bühnen gehört und bereits mehrmals verfilmt wurde. Am Beispiel der verfilmten Theaterinszenierungen lässt sich sehr konkret in einen verantwortungsvollen Umgang mit medial transformierterTransformation Literatur und in Fragen der MedienästhetikMedienästhetik einführen. Die ursprüngliche Textarbeit hat sich nun unter diesem Gesichtspunkt zur Theaterarbeit erweitert und beginnt Medienarbeit zu werden. Damit stellt sich ein zeitgemäßer DeutschunterrichtDeutschunterricht auch den Erfordernissen des gesellschaftlich-historischen Wandels der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Und wenn ein Text sich für diese Transformationsarbeit eignet, mag dies nicht zuletzt auch als ein Zeichen von Klassizität gewertet werden in dem Sinne, dass Textverwandlung und Textanverwandlung in der RezeptionRezeption durch Lehrer und Schüler zur Deckung gebracht werden können. Damit eignet sich Kleists Zerbrochner Krug auch zur grundsätzlichen Diskussion von KanonKanon und Klassizität historischer Texte und sollte seinen festen Ort als Schulklassiker beharrlich verteidigen.

6.) Und schließlich erlaubt der Autorname KleistKleist, Heinrich von auch, mit den Schülerinnen und Schülern den namensgleichen und heute vergessenen Vertreter der Poetae minores zu erarbeiten, die Rede ist von Franz Alexander von KleistKleist, Franz Alexander von (1769–1797)3. Dieser Kleist machte sich vor allem als Lyriker einen Namen. Er war ein entfernter Verwandter Heinrichs von Kleist und stammte aus einer Offiziersfamilie. 1785 trat er mit 16 Jahren in den Heeresdienst ein. Im Frühjahr 1790 begann er das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen, ab Jahresende 1790 war er als Legationsrat im diplomatischen Dienst tätig. Franz Alexander von Kleist heiratete im Dezember 1791 Albertine von Jung, quittierte aus gesundheitlichen Gründen den Staatsdienst und lebte seit 1792 als Privatier. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichte mit historischen und mythologischen Themen, die meisten erschienen in Zeitschriften. Nur ein geringer Teil davon wurde in seine Vermischten SchriftenVermischte Schriften (A. v. Kleist) (Berlin 1797) aufgenommen. Das Denkmal Deutscher Dichter und DichterinnenDenkmal Deutscher Dichter und Dichterinnen4 ist eine Art MikroliteraturgeschichteMikroliteraturgeschichte in Form einer ‚historisch-lyrischen Dichtung‘, die der Verbreitung patriotischer Stimmung dienen sollte. In seiner Ode an die Deutschen, bey denen französischen UnruhenOde an die Deutschen, bey denen französischen Unruhen5 rief Franz Alexander von Kleist am 24. Oktober 1789 noch zum bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionäre auf, doch änderte sich das nach 1791. Nun sympathisierte er im Rahmen eines aufgeklärten Absolutismus durchaus mit der Französischen RevolutionFranzösische Revolution. Sein Reisetagebuch Fantasien auf einer Reise nach PragFantasien auf einer Reise nach Prag (Dresden, Leipzig 1792. Neudruck Heilbronn 1996) enthält neben elegischen Naturbeschreibungen und einer deutlichen Fürsten- und Priesterkritik auch bestechende sozialkritische Urteile. Im Anhang zu Sappho. Ein dramatisches GedichtSappho. Ein dramatisches Gedicht (Berlin 1793) schreibt Franz Alexander von Kleist und nimmt damit SchillersSchiller, Friedrich Programm einer ästhetischen Erziehung des Menschen vorweg: „Es ist gewiss, je mehr ästhetische Empfänglichkeit ein Volk besitzt, desto weniger wird es sich unterdrücken lassen, weil es die gegenseitigen Pflichten dann schon erkennen gelernt hat und jede Ungerechtigkeit doppelt fühlt“6. Franz Alexander von KleistKleist, Franz Alexander von galt als Hoffnungsträger der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts.7 An seinem Beispiel können die kulturgeschichtlichenKulturgeschichte Faktoren von ProduktionProduktion, DistributionDistribution, RezeptionRezeption und TransformationTransformation von Literatur diskutiert werden, die darüber entscheiden, ob, wann und wie ein Autor zum Klassiker geadelt wird und Eingang findet in den Olymp der LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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