Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 25

Franz WerfelWerfel, Franz Der WeltfreundDer Weltfreund (1911)

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Zu den Gemeinplätzen über die expressionistischeExpressionismus Literatur, insbesondere über die expressionistische Lyrik, gehört, dass die Autorinnen und Autoren eine neue Formensprache und eine neue Ausdrucksweise gesucht hätten. Kein Geringerer als Gottfried BennBenn, Gottfried hat diese Suche nach einer ‚neuen Sprache‘ in einem Interview von 1956 so beschrieben: „Meine Generation war eben dazu bestimmt, die alten Formen, die seit GoetheGoethe, Johann Wolfgang galten, noch bei GeorgeGeorge, Stefan und RilkeRilke, Rainer Maria waren, zu zerbrechen und eine neue Sprache zu schaffen“1. Es ist also weniger der ‚neue Mensch‘, der zunächst gesucht wird, als vielmehr die ‚neue Sprache‘, die gefunden wird.

Das betrifft auch den Gebrauch des Vokals ‚o‘, der seine symbolische Bedeutung natürlich aus dem Bekenntnis des jüdisch-christlichen Gottes nach der Offenbarung des Johannes bezieht: ‚Ich bin das A und das O‘ (vgl. Offb 22, 13), was bedeutet: der Anfang und das Ende, denn hier ist das ‚O‘ als langes ‚O‘, also als Omega zu lesen, und das ist der letzte Buchstabe im griechischen Alphabet. Umgangssprachlich ist diese Wendung ‚das A und O‘ längst angekommen, um die Bedeutung einer Aussage oder eines Sachverhalts zu unterstreichen.

Franz WerfelWerfel, Franz gilt mit seinem ersten Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund von 1911 als einer der Initiatoren dieser neuen Sprache. Seine Gedichtsprache steht bis heute im Verdacht einer ‚ungeordneten‘, rhetorisch aufgeladenen Sprechweise. Das hat schon Oskar LoerkeLoerke, Oskar bemängelt, er spricht in seinem Tagebuch in einer Eintragung vom 5. Juli 1925 von dem „rhetorischen Werfel“2. Letztlich ist auch dies eine Geschmacksentscheidung, denn welche Gedichtsprache bedient sich nicht in der einen oder anderen Form des rhetorischen Wissens? Doch bei Franz Werfel tritt hinzu, dass er sich dieser rhetorischen Sprechweise durchaus bewusst ist. So schreibt er etwa in dem Weltfreund-Gedicht An mein Pathos:

„Darum lobe ich selbstgefällige Würde

Meine erhabene, abendsgeübte Rhetorik.

[…]

Und mich feit vor Selbstmord und üblen Gedanken

Faltenwurf und Kothurn und tragisches Sprechen!“ (E, S. 97)3

Der einzelne Vokal hat kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich natürlich eine immense Bedeutung, dies erkannte schon Walter BenjaminBenjamin, Walter. Er schrieb in seinem Aufsatz ABC-Bücher vor hundert JahrenABC-Bücher vor hundert Jahren, der am 12. Dezember 1928 in der Beilage für die Frankfurter Zeitung mit dem Adressatinnentitel Für die Frau erschien, Folgendes über die Bedeutung von Buchstaben:

„Kein Königspalast und kein Cottage eines Milliardärs hat ein Tausendstel der schmückenden Liebe erfahren, die im Laufe der Kulturgeschichte den Buchstaben zugewandt worden ist. Einmal aus Freude am Schönen und um sie zu ehren. Aber auch in listiger Absicht. Die Buchstaben sind ja die Säulen des Tores, über dem ganz gut geschrieben stehen könnte, was Dante über den Pforten der Hölle las, und da sollte ihre rauhe Urgestalt die vielen Kleinen, die alljährlich durch dieses Tor müssen, nicht abschrecken. Jeden einzelnen dieser Pilaster behing man also mit Girlanden und Arabesken.“4

Erst die „europäische Aufklärung“5 entdeckte die BuchstabenBuchstaben als Kulturobjekt und entwickelte das Bewusstsein einer KulturgeschichteKulturgeschichte der Buchstaben. Benjamin weiter:

„[…] Abordnungen aller A’s, B’s, C’s usw. erschienen, […]. Wenn Rousseau sagt, daß alle Souveränität vom Volk stammt, so bekunden diese Tafeln es laut und entschieden: ‚Der Geist der Buchstaben stammt aus den Sachen. Uns, unser So-und-Nicht-anders-Sein, haben wir in diesen Buchstaben ausgeprägt. Nicht wir sind ihre Vasallen, sondern sie sind nur unser lautgewordener gemeinsamer Wille‘.“6

Das wohl bekannteste Gedicht über den o-Vokal in der deutschen Lyrikgeschichte ist Ernst JandlsJandl, Ernst ottos mopsottos mops (1970). Die Dichterin Friederike MayröckerMayröcker, Friederike schrieb 1976 über diesen Text:

„Je öfter wir diesem Gedicht begegnen desto sicherer sind wir darüber daß hier immer von neuem eine Verwandlung sich vollzieht, die so wunderbar immer von neuem glückt wie kaum anderes das je in dieser Sprache geschrieben wurde. Nämlich: von der Liebe zum Vokal zur Wirklichkeit des Bilds; vom Glauben an das O zur Offenbarung Poesie.“7

JandlsJandl, Ernst ottos mopsottos mops ist längst zu einem Klassiker der durchaus auch humorvollen experimentellen Lyrik geworden, der „eben aus dem Vokal o gebaut [ist]“8, es lautet folgendermaßen:

„ottos mops trotzt

otto: fort mops fort

ottos mops hopst fort

otto: soso

otto holt koks

otto holt obst

otto horcht

otto: mops mops

otto hofft

ottos mops klopft

otto: komm mops komm

ottos mops kommt

ottos mops kotzt

otto: ogottogott.“9

1982 veröffentlichte MayröckerMayröcker, Friederike in ihrem Gedichtband Gute Nacht, guten MorgenGute Nacht, guten Morgen das Ende der 1970er-Jahre geschriebene Gedicht dieses trockene Gefühl von Schlaflosigkeitdieses trockene Gefühl von Schlaflosigkeit.10 Darin fädelt die Dichterin die disparaten Gedichtteile an einer ‚o‘-Vokalkette regelrecht auf. Begriffe wie Trockene, Schlaflosigkeit, violenfarben, Wohlbefinden, Kamelwolle, dorfmäszig, Poesie, pyromanisch, Gladiolen schaffen eine Lautkontinuität, die durch beziehungsreiche Vokal- und Diphthongassoziationen über kleinere Zeileneinheiten hinweg zusätzlich verstärkt wird. Mayröckers ‚violenfarbene Nächte‘ eröffnen den Blick auf ‚Nachtviolen‘, die sich wiederum als ein musik- und literaturgeschichtlicher Hinweis lesen lassen.11 Der Österreicher Johann MayrhoferMayrhofer, Johann (1787–1836), der als Zensor im Wiener k.u.k. (oder mit MusilsMusil, Robert Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften gelesen: im kakanischen) Bücherrevisionsamt tätig war, veröffentlichte 1824 einen kleinen Lyrikband. Darin findet sich ein Gedicht mit dem Titel NachtviolenliedNachtviolenlied, dessen erste Strophe lautet:

„Nachtviolen, Nachtviolen!

Dunkle Augen, Seelenvolle,-

Selig ist es sich vertiefen

In das sammtne Blau.“12

Entlang dieser nur selektiven Beobachtungen ließe sich durchaus eine kratylische Geschichte des ‚o‘-Vokals schreiben. Zu literarischen Ehren gelangte das große ‚O‘ in Paulin Reage’sReage, Paulin (das ist Anne DesclosDesclos, Anne) erotischem Bestsellerroman Die Geschichte der ODie Geschichte der O (fr. 1954). Hier ist „die O.“ eine anonymisierte Frau, die in sadomasochistischer Partnerschaft die diversen Stufen einer solchen Verdinglichung des weiblichen Körpers durchläuft. Zugleich ist der Vokal ‚o‘ aber auch Symbol des ewigen Kreislaufs des BegehrensBegehren. Die Verfilmung in der Regie von Just Jaeckin (1975) verhalf dem Roman zu großer Bekanntheit.

Statt einen einzigen Vokal wie das ‚o‘ freizustellen, hervorzuheben und mit symbolischer Bedeutungsymbolische Bedeutung aufzuladen, gibt es in der LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte vereinzelte gegenteilige Versuche, wonach Vokale oder bestimmte BuchstabenBuchstaben konsequent aus einem fiktionalen Text getilgt werden, sie also in ernst gemeinter programmatischer, satirischer oder in aleatorisch-spielerischer Absicht weggelassen werden. Zu erinnern ist etwa an die 1788 erschienenen Gedichte ohne den Buchstaben RGedichte ohne den Buchstaben R von Gottlob Wilhelm BurmannBurmann, Gottlob Wilhelm (1737–1805). Doch erst der in der deutschsprachigen Literatur heute völlig vergessene Autor eines satirisch-aleatorischen Textes Friedrich Heinrich BotheBothe, Friedrich Heinrich (1771–1855) versucht erstmals konsequent in der Romanprosa dieses Elisionsverfahren durchzuführen. Bothe steht an der Schwelle zwischen AufklärungAufklärung und RomantikRomantik. In der Vorrede zu seinen Vermischten satirischen SchriftenVermischte satirische Schriften (Bothe) (1803) weist er zwar die Autorschaft des nachfolgend zitierten Textes zurück, doch ist diese Angabe mehr als zweifelhaft.13 Sein Kurzroman mit dem Titel Dadel didel dudel variiert in sechs Kapiteln nur diese drei Worte in ihrer Reihenfolge, jedes Kapitel enthält also lediglich diese drei Worte, so dass der Wortlaut der Varianzen insgesamt 18 Mal wiederkehrt.14 An den Roman schließt Bothe eine Selbstrezension an:

„Obenstehender Roman des Herrn Dadel ist einer der besten, den wir in der sentimentalen Gattung haben. Welche höchst süße Variazionen des holden Ich! Aus jeder Zeile spricht der liebenswürdige Herr Dadel heraus! In jeder Zeile lebt ein Wohlklang, den nur die Hand eines solchen Meisters verleihen konnte. Die bewundernswerthe Ichheit (wenn wir so sagen dürfen) giebt dem Roman eine Einheit und Selbstständigkeit, die sich gewaschen haben. Was ihm dagegen an Mannichfaltigkeit fehlt, das ersetzt er durch Nachdruck.“15

Darauf folgt ein Kapitel über die Nachahmer des Dadel-didel-dudel-Romans und über seine Rezension:

„Der Nachahmer.

D-d-l d-d-l d-d-l.

Roman in Briefen.

Erster Brief.

Hans an Peter.

Dadl didl dudl.

Zweyter Brief.

Peter an Hans.

Didl dadl dudl.

Dritter Brief.

Hans an Greten.

Dudl dadl didl.

Vierter Brief.

Grete an Hans.

Dadl dudl didl.

Fünfter Brief.

Vetter Michel an Hans.

Didl dudl dadl.

Sechster Brief.

Hans an Vetter Michel.

Dudl didl dadl.

Ende.“16

Und auch dieses Nachahmungsgedicht rezensiert BotheBothe, Friedrich Heinrich selbst, wiederum satirisch:

„Obiger Roman des Herrn Dadl gehört gleichfalls zu der sentimentalen Gattung. Beym ersten Anblick glaubt man einige Aehnlichkeit mit dem vorhin rezensirten Roman des Herrn Dadel zu sehn. Aber es ist bloßer Schein. Leute, wie Herr Dadl und Herr Dadel ahmen nicht nach. Will ja ein Starrkopf sich von der Idee nicht abbringen lassen, so wird er wenigstens zugeben, daß Herr Dadl Herrn Dadel bey weiten [!] an Präzision und nachdrücklicher Kürze übertrifft. Dadl didl dudl! Wie viel nachdrücklicher als Herrn Dadels Dadel didel dudel! Und dann die Familiengleichheit, die Wirheit, daß ich mich so ausdrücke, der schreibenden Personen! Wahrlich hier trifft das Sprichwort ein. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus. Oder: Wie du mir, so ich dir. Doch wir müssen uns mit Gewalt zurückhalten mehr über ein Werk zu sagen, über das man nie genug sagen kann.“17

Einen umfänglicheren Versuch wagte im Jahr 1813 Franz RittlerRittler, Franz (1782–1837). Doch auch sein Roman ohne ‚r‘ mit dem Titel Die Zwillinge. Ein Versuch aus sechszig [!] aufgegebenen Worten einen Roman ohne R zu schreibenDie Zwillinge ist völlig in Vergessenheit geraten, immerhin galt das R, wie es in ShakespeareShakespeare, Williams Romeo and JulietRomeo and Juliet heißt, als „dog’s name“18, da es in der elisabethanischen Aussprache dem Knurren eines Hundes geähnelt haben soll. In der Nachschrift zum Roman bietet RittlerRittler, Franz an, einen „noch weit schwierigeren Versuch zu wagen, nähmlich in einem kleinen Romane ohne ABC, einen abermahligen Beweis der Biegsamkeit und Reichhaltigkeit unserer Muttersprache aufzustellen“19. Zu diesem leipogrammatischen Selbstversuch kam es allerdings nicht mehr. In jüngerer Zeit hat Judith W. TaschlerTaschler, Judith W. in ihrem Roman ohne URoman ohne U (Wien 2014) ganz auf den Vokal ‚u‘ verzichtet – zumindest als Titelmotiv. In der französischen Literatur finden diese Versuche in Georges PerecPerec, Georges einen krönenden und zugleich populären, vorläufigen Abschluss. Er veröffentlichte 1969 einen ‚Roman ohne e‘, La disparitionLa disparition.20 Das ‚e‘ gehört in der deutschen und der französischen Sprache zu den am häufigsten verwendeten Buchstaben.

Anders sieht es bei der Verwendung von ‚o‘ und ‚oh‘ als Interjektionen aus. Wenn man heute Franz WerfelsWerfel, Franz frühe Gedichte liest, dann geschieht dies meist unter dem Aspekt expressionistischerExpressionismus Ausdruckskraft und Gestaltungsmöglichkeiten. Und in der Tat, den markanten Differenzpunkt in Werfels Lyrik zu finden zwischen expressionistischen Texten und der späteren Lyrik, ist durchaus problematisch. Welche Bedeutung hat es also, wenn Werfel in der Erstausgabe des WeltfreundsDer Weltfreund vorwiegend ‚o‘ gebraucht und diese Interjektion dann aber in der Ausgabe letzter Hand in ‚oh‘ umwandelt?

Grammatisch gesehen handelt es sich bei dem ‚o‘ lediglich um eine sekundäre Interjektion oder um einen Vokativ. Auch das Deutsche WörterbuchDeutsches Wörterbuch der Brüder GrimmGrimm, WilhelmGrimm, Jacob hilft hier nicht weiter. Es verzeichnet jenseits der grammatischen Stellung und der sprachhistorischen Entwicklung unter „O!“ die Bemerkung, es sei eine „interjection des ausrufs der verschiedenartigsten affecte“, oder eine „interjection an ausrufe angehängt“.21 Außerdem sei „O! oh! oha!“ eine „interjection, zuruf an pferde und andere zugthiere stillzustehn“22. Im Allgemeinen gilt von Interjektionen Folgendes: Interjektionen dienen zum Ausdruck von inneren Befindlichkeiten, Gefühlen, Affekten. In der Grammatikografie wird ‚o‘ als Ausdruck der Verwunderung und ‚oh‘ als Ausdruck der Klage oder des Kummers beschrieben.23 Folgt man dem herkömmlichen sprachwissenschaftlichen Verständnis von Interjektion nach dem Handbuch der Lexikologie, so wird Interjektion folgendermaßen definiert: „Aufgrund ihrer semantischen Eigenschaften können Interjektionen in pragmatischer Hinsicht expressive (Ausdruck von Emotionen und Körperempfindungen des Sprechers), reaktive (Reaktionen auf Hörerhandlungen), appellative und darstellende Funktionen besitzen“24.

In rhetorikgeschichtlicher Hinsicht ist für die Interjektion dies bedeutsam: „Erst von den lateinischen Grammatikern und Rhetorikern wird der Begriff I[nterjektion] als Bezeichnung einer lexikalischen Restkategorie eingeführt“25. Einen geschichtlichen Überblick über die Bedeutung der Interjektion als einem rhetorischen Stilmittel bietet das Historische Wörterbuch der Rhetorik.26 „‚Interiectio est pars orationis affectum animi significans‘. Die Interjektion ist ein Redeteil, der den Zustand der Seele, die Gemütsstimmung, das Gefühl – eben den Affekt bezeichnet“27. Interjektionen sind demnach das „Residuum der Emotionalität der Sprache“28.

Demgegenüber macht die Linguistik die sprachliche Seite von Interjektionen geltend. Sie werden, wie andere Wortarten auch, erlernt und sind Ausdruck eines illokutiven Akts. Allerdings wird demgegenüber kritisch festgehalten, die Interjektion friste „in den Grammatiken des 20. Jhs. weiterhin nur ein Schattendasein, in dessen Halbdunkel sich kaum mehr als der Erkenntnisstand der Vor-Aufklärung präsentiert“29. Die Einsicht in den „dialogischen Charakter“30 der Interjektion sei über zwei Jahrtausende verstellt geblieben. Beim ‚o‘ unterscheidet man eine Kurzform und eine Langform, die Ausdruck von positiver Betroffenheit und diese wiederum Ausdruck von Bewunderung ist.31 Die Verwandtschaft mit dem grammatischen Vokativ ist allerdings noch zu erkennen.

„Das o in der Anrede findet sich heute kaum noch. Sein Gebrauch ist auf feste Formeln beschränkt, die als stereotypisierte Wendungen insgesamt unter besonderer Bindung an feste Vorkommenskonstellationen eingesetzt werden, wie ‚Oh mein Gott!‘ u.ä. Es sind z.T. der religiösen Sprache entnommene, ihr aber vollständig entfremdete Ausdrucksverbindungen. Der vokativische Charakter der ganzen Formel ist mit der Lösung aus ihrem Ursprungszusammenhang verloren gegangen. Entsprechend kann der Gebrauch des oh als Teileinheit des Komplexausdrucks schwerlich als Beleg für vokativisches oh angesehen werden.

Ansonsten gilt das vokativische oh als eine Form, die antiquiert ist. […]

Dieses Schwinden des vokativischen oh erweist sich – beim Blick auf seine Geschichte – als Umkehrung der Einführung dieses Ausdrucks ins Deutsche in gotischer und mittelhochdeutscher Zeit.“32

Im Gotischen taucht dieses vokativische ‚oh‘ als Pendant zum griechischen Omega drei Mal in der gotischen Bibelübersetzung, der sogenannten Wulfilabibel aus dem vierten Jahrhundert, deren Vorlage der griechische Text war, auf. Im Althochdeutschen kommt es gar nicht vor. Erst ab 1125 ist es wieder im Mittelhochdeutschen belegt. Ab dem 14. Jahrhundert wird es vermehrt auch in weltlichen Texten gebraucht. Diese interiectio admiratio liegt wohl, wenn man dies etwas verallgemeinert, in den meisten Fällen eines ‚o‘-Gebrauchs vor.33

WerfelsWerfel, Franz Lyrik ist vor allem vor dem Hintergrund bekannt, dass er ein wichtiger Beiträger für Kurt PinthusPinthus, Kurt’ expressionistischeExpressionismus Lyrikanthologie MenschheitsdämmerungMenschheitsdämmerung (1920) gewesen ist. Immerhin ist der Autor darin mit insgesamt 27 einzelnen Gedichten vertreten, vier davon stammen aus dem WeltfreundDer Weltfreund. Im Einzelnen sind dies Der dicke Mann im Spiegel (vgl. E, S. 21), Der schöne strahlende Mensch (vgl. E, S. 87), Ich habe eine gute Tat getan (vgl. E, S. 105) und An den Leser (vgl. E, S. 110). Die Auswahl traf der Herausgeber Pinthus. In den biografisch-bibliografischen Angaben zum Autor Werfel, die ebenfalls der Herausgeber Pinthus zusammengestellt hat, schreibt er, er habe im Lektorat des Kurt Wolff-Verlags 1912 in Leipzig zusammen mit Werfel und Walter HasencleverHasenclever, Walter „ein Sammelzentrum“ gebildet, „wo viele junge Autoren der expressionistischen Generation und ihr nahestehende ältere Dichter freundschaftliche Aufnahme und Förderung fanden“34. In seiner Einleitung verleiht Pinthus seiner Freude darüber Ausdruck, dass Werfel und DäublerDäubler, Theodor, Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else, HeymHeym, Georg, TraklTrakl, Georg, StadlerStadler, Ernst, BennBenn, Gottfried und GollGoll, Ivan „sozusagen zu expressionistischen Klassikern aufgerückt sind, die man verehrt und studiert“35.

Die Bedeutung Werfels für den Prager Kreis ist bei weitem noch nicht genügend erhellt. Franz KafkaKafka, Franz beispielsweise ist von Werfels ersten Gedichten mehr als beeindruckt. Er notiert am 23. Dezember 1911 anerkennend in sein Tagebuch: „Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich, die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mit fortreißen“36. Kafka spürte, welch epochale Wirkung dieses neue lyrische Sprechen hatte. Ähnlich schreibt er auch in einem Brief an Felice BauerBauer, Felice vom 12. Dezember 1912: „Weißt du, Felice, Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch Der WeltfreundDer Weltfreund zum ersten Mal las (ich hatte ihn schon früher Gedichte vortragen hören), dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheueres“.37 Und wenige Wochen später, am 1./2. Februar 1913, liest man:

„Werfel hat mir neue Gedichte vorgelesen, die wieder zweifellos aus einer ungeheueren Natur herkommen. Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen Schluß in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen, inneren, strömenden Entwicklung – wie reißt man da, auf dem Kanapee zusammengekrümmt, die Augen auf!“38

Später, im Dezember 1922, wird KafkaKafka, Franz an WerfelWerfel, Franz schreiben, dieser sei ein „Führer der Generation“39.

Auch Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria hält in einer Fußnote zu Beginn seines Aufsatzes Über den jungen DichterÜber den jungen Dichter, der mutmaßlich im Sommer 1913 geschrieben, aber erst 1931 veröffentlicht wurde, fest: „Für den Verfasser war die vielfach beglückende Beschäftigung mit den Gedichten Franz Werfels gewissermaßen die Voraussetzung zu diesem Aufsatz. Es sei daher auf Werfels beide Bände Gedichte (Der Weltfreund und Wir sind) an dieser Stelle hingewiesen“40. Es ist sicherlich zutreffend, von „Rilkes admiration“41 zu sprechen.

Hohe literarische Ehren wurden Franz WerfelWerfel, Franz in Robert MusilsMusil, Robert Epochenroman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften (1930/1932)42 zuteil. Darin wird eine Dichterlesung geschildert, die ein gewisser Friedel Feuermaul alias Franz Werfel abhält.43 MusilMusil, Robert scheint Werfels frühe Gedichtbände gekannt und ihnen einigermaßen wohlwollend gegenübergestanden zu haben. Genau zu belegen ist das allerdings nicht.44 Nach dem Ersten Weltkrieg ging Musil aber zunehmend auf Distanz zu Werfel und die anfängliche Wertschätzung wich einer kritischen bis ironischen Betrachtung. Das gipfelt in Musils bemerkenswerter Formulierung im Tagebuch vom Februar 1930 (Tagebuchheft 31), in der sich eine Mischung aus Neid, Angst, Idiosynkrasie und Überheblichkeit und zugleich eine tiefe Frustration ausdrückt: „Meine Schwierigkeit: Was habe gerade ich in einer Welt zu bestellen, in der ein Werfel Ausleger findet!“45 Allerdings ist dieser Ausruf in erster Linie eine impulsive Reaktion – also eine Art langgezogene Affektinterjektion ‚oh!‘ – auf das Huldigungsbuch Franz Werfel. Versuch einer ZeitspiegelungFranz Werfel. Versuch einer Zeitspiegelung (Wien 1926) von Peter Stephan JungkJungk, Peter Stephan. Und Musils Notiz ist vergleichsweise harmlos, verglichen mit Thomas MannsMann, Thomas entsetzlicher Bemerkung in seinem Tagebucheintrag vom 1. September 1933 anlässlich von Theodor LessingsLessing, Theodor (1872–1933) Ermordung durch die Nazis: „Mir graust vor einem solchen Ende, nicht weil es das Ende, sondern weil es so elend ist und einem Lessing anstehen mag, aber nicht mir“46. Eine erste persönliche Begegnung zwischen Werfel und Musil fand vermutlich im Frühjahr 1918 im Kriegspressequartier in Wien statt, für das beide als Soldaten arbeiteten. Dort traf er auch mit Franz BleiBlei, Franz und Paris GüterslohGütersloh, Paris zusammen. Diese beiden und Werfel hielt Musil für „die einzigen Köpfe im KPQ. Sie werden nun als der Abhub hingestellt“47, wie er im Tagebuch beklagt.

Musil rezensierte die Wiener Premieren der beiden Werfel-Stücke BocksgesangBocksgesang (1921)48, dessen Uraufführung im Wiener Raimundtheater am 15. März 1922 erfolgte, und Spiegelmensch. Magische TrilogieSpiegelmensch (1920)49, die Erstaufführung fand im Wiener Burgtheater am 26. April 1922 statt. Am 15. März 1922 (und nicht am 26. April 1922!)50 distanziert sich Musil im literarischen Feld der Zeit von WerfelWerfel, Franz. Er veröffentlicht seine Theaterkritik des SpiegelmenschenSpiegelmensch und nutzt den Begriff des SymbolsSymbol, um das Undichterische an Werfels Stück BocksgesangBocksgesang zu kritisieren: „Der SinnSinn, der im Gestalteten nicht steckt, muss im Mitgestalteten stecken. Um es kurz zu sagen, das Spiel muß ein Symbol sein. Denn Symbol ist etwas, durch das der unausgesprochene Sinn elementar mitgestaltet wird; wogegen Allegorie bloß eine Anspielung auf bekannte Gestalten wäre […]“51. Werfels Stück erschöpfe sich im Opernlibrettohaften und erreiche die Tiefe des Symbolischen nicht. Es ist offensichtlich, dass MusilMusil, Robert hier normativ verfährt, möglicherweise hielt er seine Darlegung für das Beispiel eines deskriptiven Diskurses. Das macht auch folgendes Zitat aus derselben Theaterkritik deutlich: „Denn Sich-hineinversetzen ist die eine Hälfte der Dichtung, die andere Hälfte ist das Gegenteil: In sich hineinversetzen, Wille, Sinngebung. […] Es beginnt die Deutung“52. Und weiter schreibt er: „Werfel führt seit Jahren einen energischen Kampf um vertiefte Bedeutung; er führt ihn meiner Ansicht nach zu klug, zu wenig gegen sich selbst […]“53. Von dem Literaturwissenschaftler Wolfdietrich Rasch ist ein Gespräch aus dem Jahr 1932 mit Musil überliefert, worin er Folgendes über WerfelWerfel, Franz gesagt haben soll: „Von Werfel sprach er des öfteren, bestätigte auch, daß er mit dem Dichter Feuermaul in seinem Roman gemeint sei. Werfel hatte für Musil die Bedeutung eines Gegenbildes. Er gab gelegentlich zu, daß er ihm persönlich vielleicht nie gerecht werden mochte, aber er sei eben für ihn ‚nicht glaubwürdig‘, Beispiel eines talentvollen und doch unechten Dichtertums […]“54.

Den einzelnen Filiationen zwischen Musil und Werfel nachzugehen, ist hier nicht der Ort.55 Allerdings ist die literarische Figur des Friedel Feuermaul in Musils Roman Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften eine unmittelbare Reaktion des Schriftstellerkollegen auf den Lyriker, der mit seinen WeltfreundDer Weltfreund-Gedichten den Boden für expressionistischesExpressionismus Pathos bereitet hat. Musil kann es nicht lassen, darauf in der genannten Mischung aus Neid, Missgunst, Arroganz und heller Analyse zu reagieren und den Dichter Feuermaul als Alter Ego von Franz Werfel in seinem Roman zu positionieren. Die entsprechenden Feuermaul-Kapitel erscheinen 1932. Darin lässt er Ulrich sagen, Feuermaul sei „begabt, jung, unfertig“56, sein Erfolg würde ihn verderben. Auf der anderen Seite ist Friedel Feuermaul alias Franz WerfelWerfel, Franz im Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften gerade jene Person, durch die ‚die krönende Idee‘ der Parallelaktion in Diotimas Salon gefunden wird. Der Dichter Feuermaul wird durch eine Frau Drangsal protegiert. Als General Stumm von Bordwehr Ulrich fragt, ob er diesen Dichter kenne, bestätigt er, Feuermaul sei Lyriker. Er habe gute Verse geschrieben und Theaterstücke. Der General weiß mit diesen Informationen wenig anzufangen und kommentiert sie mit den Worten: Feuermaul „ist der, der sagt: der Mensch ist gut. […] Frau Professor Drangsal protegiert halt die These, daß der Mensch gut ist, und man sagt, das sei eine europäische These, und Feuermaul soll eine große Zukunft haben“57. Diotima wird diese europäische These wenig später als „Mode“58 bezeichnen. Feuermaul habe manchmal „schöne Einfälle, aber er kann nicht zehn Minuten warten, ohne einen Unsinn zu sagen“59. In zehn Jahren sei Feuermaul aber eine internationale Größe. Dieses 36. Kapitel des Romans beleuchtet die Figur Feuermaul aus unterschiedlichen Perspektiven, aber stets unvorteilhaft. So sauge er etwa mit der Gier eines Kalbes, das mit der Schnauze an den mütterlichen Euter stoße, an seiner Zigarre. ‚Der Mensch sei gut‘ sei eine „ewige Wahrheit“60, sagt Feuermaul selbst; von Tuzzi wird er als ein „Erzpazifist“61 verdächtigt; Hans Sepp nennt ihn einen „Streber“62, auf den die Menschen hereingefallen seien. Und im 37. Kapitel wird ihm ironisch zwar konzediert, er sei kein Schmeichler, habe aber „nur zeitgemäße Einfälle am rechten Platz“63 und letztlich rede er den Menschen doch nach dem Mund. Man hat zu Recht die Figur des Friedel Feuermaul nicht als eine literarische Randfigur gelesen, sondern ins Zentrum einer Textanalyse gerückt und sie als SymbolSymbol des Missverhältnisses von Politik und Literatur im Roman gewertet.64 Feuermaul-Werfel sei Symbol jener Bewegung, „die alle Krisen der Gesellschaft im Medium der ‚Kultur‘ zu überwinden sucht“65, er sei die „symbolische Gestaltung der Gesellschaftskrise im Kulturellen“66.

Eine knappe statarische Lektüre der WeltfreundDer Weltfreund-Gedichte ergibt folgendes Bild der Fakten. Ab 1909 veröffentlicht WerfelWerfel, Franz Gedichte. Es folgt ein einjähriger Militärdienst. Ab Oktober 1912 ist er als Lektor im Kurt Wolff-Verlag Leipzig tätig. Werfels erster Gedichtband Der Weltfreund, dessen Handschrift im Schiller Nationalmuseum Marbach a.N. liegt, erscheint im Dezember 1911 im Verlag von Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg. Dieser Verlag bot jungen Lyrikern und Lyrikerinnen wie Else Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else mit StyxStyx (1901) eine Plattform zum Debüt. Unter anderem sind auch Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria mit dem Band Das Buch der BilderDas Buch der Bilder (1902), Johannes SchlafSchlaf, Johannes mit Das SommerliedDas Sommerlied (1905), René SchickeleSchickele, René mit Der Ritt ins LebenDer Ritt ins Leben (1906), Max BrodBrod, Max mit Der Weg des VerliebtenDer Weg des Verliebten (1907) und Tagebuch in VersenTagebuch in Versen (1910) und Max MellMell, Max mit Das bekränzte JahrDas bekränzte Jahr (1911) vertreten.

Insgesamt enthält Werfels Weltfreund 116 Seiten. Eine zweite Auflage wurde 1912 gedruckt. 1920 war es bereits die vierte Auflage mit bis dahin neun bis 13 Tausend Stück. Das lyrische Debüt war ein „außerordentliche[r] Erfolg“67. Es muss offen bleiben, ob Werfels Titel Der WeltfreundDer Weltfreund eine Replik auf den WeltfeindWeltfeind von Karl KrausKraus, Karl darstellt.68 Einzelne Gedichte sind bereits in den Jahren ab 1908 entstanden und wurden kurz zuvor in literarischen Zeitschriften vorabgedruckt, u.a. in der FackelDie Fackel von Karl Kraus im April, Juli und Dezember 1911.69 Den Einfluss insgesamt von Walt WhitmanWhitman, Walt (1819–1892) sinnvoll nachzuweisen, bleibt problematisch.70 Eher in den Sinn kommt hier dessen Gedicht O Captain! My Captain!O Captain! My Captain!71 Und ob der WeltfreundDer Weltfreund tatsächlich als ein Zyklus verstanden werden kann, darf bezweifelt werden.72 Werfel betreut im Verlag die expressionistischeExpressionismus Zeitschrift Der jüngste TagDer jüngste Tag mit.73 Der Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund erscheint im Dezember 1911, „gleichsam über Nacht war der junge Sohn eines Handschuhfabrikanten aus Prag zu einem der meistgenannten Lyriker deutscher Sprache geworden“74. Die weiteren Gedichtbände heißen Wir sindWir sind (Leipzig 1913), EinanderEinander (Leipzig 1915), Der GerichtstagDer Gerichtstag (München 1919), BeschwörungenBeschwörungen (München 1923), GedichteGedichte (Franz Werfel) (Berlin, Wien, Leipzig 1927) und Schlaf und ErwachenSchlaf und Erwachen (Berlin, Wien, Leipzig 1935).

Für WerfelsWerfel, Franz Lyrik wird oftmals ein messianischer Grundton in Anspruch genommen. Das gilt sicherlich nicht für den Weltfreund, worin sich kaum Gedichte mit religiösen, jüdisch-christlichen Bezügen und einer explizit religiösen Semantik finden. So stelle beispielsweise in dem Gedicht Jesus und der Äser-Weg (1913) „eine äußerste Steigerung, ja Übersteigerung der von Baudelaire wie von Nisami thematisierten Konfrontation mit dem Widerwärtigen [dar] und wird vollends zur ästhetischen Zumutung – die allerdings in RilkeRilke, Rainer Maria einen entschiedenen Verteidiger fand“75. Natürlich verleiht die Analogie zwischen Christus als dem Messias und dem messianisch auftretenden Dichter vielen expressionistischen Gedichten (wie auch den Autoren in ihrem Selbstverständnis) ein messianisches Profil. Ob man aber den „forciertesten Ausdruck“76 hiervon bei Franz Werfel, genauer in den Gedichten des Bandes Der Weltfreund (1911) findet, darf bezweifelt werden. Im Gedicht Ich bin ja noch ein Kind erhebe Werfel sogar einen „heilsgeschichtlichen Anspruch“, „der Dichter will […] ein anderer Mose sein“.77

Betrachten wir den Wechsel von ‚o‘ zu ‚oh‘ bei WerfelsWerfel, Franz Auswahl für die Gedichtausgabe letzter Hand von 1946, dann betrifft das bei den sieben übernommenen Gedichten nur das Gedicht An den LeserAn den Leser. Dieser Text ist die Initialzündung für das, was als O-Mensch-Pathos im Sinne einer identifikatorischen Formel des ExpressionismusExpressionismus in die Wissenschaft eingegangen ist. Ihr inszenatorischer Anteil wird dabei nicht übersehen. Es stellt sich aber angesichts der Bearbeitung durch Werfel selbst die Frage: wird das ‚o‘ zum ‚oh‘? Im Erstdruck von 1911 hat es folgenden Wortlaut:

„Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!

Bist du Neger, Akrobat, oder ruhst du noch in tiefer Mutterhut,

Klingt Dein Mädchenlied über den Hof, lenkst Du Dein Floß im Abendschein,

Bist Du Soldat, oder Aviatiker voll Ausdauer und Mut.

Trugst Du als Kind auch ein Gewehr in grüner Armschlinge?

Wenn es losging, entflog ein angebundener Stöpsel dem Lauf.

Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe,

Sei nicht hart und löse Dich mit mir in Tränen auf!

Denn ich habe alle Schicksale durchgemacht. Ich weiß

Das Gefühl von einsamen Harfenistinnen in Kurkapellen,

Das Gefühl von schüchternen Gouvernanten im fremden Familienkreis,

Das Gefühl von Debutanten, die sich zitternd vor den Soufleurkasten [!] stellen.

Ich lebte im Walde, hatte ein Bahnhofamt,

Saß gebeugt über Kassabücher und bediente ungeduldige Gäste.

Als Heizer stand ich vor Kesseln, das Antlitz grell überflammt

Und als Kuli aß ich Abfall und Küchenreste.

So gehöre ich Dir und Allen!

Wolle mir, bitte, nicht widerstehn!

O, könnte es einmal geschehn,

Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!“ (E, S. 110f.)

In der Ausgabe letzter Hand von 1946 ändert WerfelWerfel, Franz die Interjektion und nun heißen die entsprechenden Verse 1 und 19: „Mein einziger Wunsch ist, Dir, oh Mensch, verwandt zu sein!“, und: „Oh, könnte es einmal geschehn“ (G, S. 17).78 Im Erstdruck schließt sich an das Gedicht An den LeserAn den Leser noch dieses an: An den Leser in der Nacht, womit Werfel seinen Gedichtband Der WeltfreundDer Weltfreund beschließt. Auch darin taucht die Formel „O Mensch, ich bin dir gut!“ (E, S. 112) auf, allerdings übernimmt der Autor den Text nicht in seine letzte Gedichtausgabe. Galt das ursprüngliche ‚o‘ in Werfels ersten Gedichten noch als meist admirativer Auf- und Ausruf, so wird es in der Fassung letzter Hand von 1946 zu einem Klagelaut ‚oh‘.

An den Leser ist ein „exemplarischer Beleg für einen dominanten Effekt der rhetorischen Verwendung des Wortes“79. Auf dieses Gedicht, und damit auf Werfel, soll also das O-Mensch-Pathos zurückgehen. Es ist aber mehr als nur ein rhetorischer Effekt. Ernst TollerToller, Ernst hat das später in seiner Autobiografie Eine Jugend in DeutschlandEine Jugend in Deutschland (1933) so ausgedrückt, es gehe um „die einfache Wahrheit Mensch“80. Alle Menschen sind Brüder. Das untereinander Verbindende ist nach Werfels Gedicht das Gefühl. Dieses beschworene und besungene, oft aber auch als nicht vorhanden beklagte Gemeinschaftsgefühl wird ein konstitutives Merkmal expressionistischerExpressionismus Lyrik. Gerade angesichts der sozialen Entfremdung durch Industrialisierung, Ersten Weltkrieg und entsprechende Großstadterlebnisse mit Lärm, Verkehr, gigantischen Bauten und sozialer Kälte bekommt diese Beschwörung des Gemeinschaftsgefühls den Charakter eines letzten Aufrufs an die Vernunft des Menschen im Zeichen der Moderne.

Aus dem Weltfreund hat Werfel in E nur neun Gedichte übernommen. Diese Auswahl empfand er offenbar als repräsentativ für seinen lyrischen Beginn und wollte sie in der Auswahl letzter Hand bewahrt wissen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende in G in dieser Reihenfolge aufgenommenen Gedichttitel: 1.) Ich, nur ich (in E unter dem Titel: Der Dichter; der Text ist als ein Motto vorangestellt; vgl. E, S. 90), 2.) An den Leser, 3.) Der dicke Mann im Spiegel, 4.) Morgengesang eines Lumpen (in E unter dem Titel: Solo des zarten Lumpen; vgl. E, S. 81), 5.) Der Getreue, 6.) Nächtliche Kahnfahrt (in G mit dem geringfügig erweiterten Titel Nächtliche Kahnfahrt und Erinnerung), 7.) Der schöne strahlende Mensch, 8.) Wanderlied, 9.) Ich habe eine gute Tat getan. Der WeltfreundDer Weltfreund ist aufgeteilt in die Gliederungsschemata, die nur schwer als Kapitel zu bezeichnen sind, Kindheit, Rührung und vermischte Gedichte (vgl. E, S. [5]-52), diese Überschrift fehlt allerdings, im Gegensatz zu den beiden anderen, im Inhaltsverzeichnis (vgl. E, S. 114), Bewegungen (vgl. E, S. [53]-73) und Erweiterung, der Weltfreund (vgl. E, S. 7[5]-113). Insgesamt enthält der Gedichtband Weltfreund 68 einzelne Gedichte.

1946 wählt WerfelWerfel, Franz einige seiner Gedichte für den Band Gedichte aus den Jahren 1908–1945 aus, der als Privatdruck der Pazifischen Presse 1946 in Los Angeles erscheint. Werfel erleidet während der Arbeit an diesem Band einen Herztod. Seine Witwe Alma Mahler-WerfelMahler-Werfel, Alma schreibt dazu:

„Ich übergebe diesen Band Gedichte der Öffentlichkeit mit dem tiefen Wissen, daß sie ein wesentlicher Teil des unsterblichen Werkes von Franz Werfel sind. Er hat in den letzten Monaten seines Lebens aus seinen Gedichten diejenigen ausgewählt, die ihm die schönsten dünkten, und bis zum allerletzten Augenblick an dieser Auswahl gearbeitet – immer wieder gefeilt – und neue Dichtungen für dieses Buch, das ihm sehr am Herzen lag, geschaffen.“ (G, S. 216)

Nach dem Neudruck dieser Ausgabe letzter Hand (1946) von 1992 zitiere ich im Folgenden Werfels Gedichte. Das Gedicht Der Dichter (vgl. E, S. 90) verwendet Werfel in der Ausgabe letzter Hand (1946) als Motto, das er nun der Auswahl voranstellt. Es beginnt mit den Versen: „Ich, nur ich bin wie Glas / Durch mich schleudert die Welt ihr schäumendes Uebermaß“ (n.p. [= S. 15]). Das ist Werfels unmissverständliches autopoetologisches Postulat. Dieses postulierte „Ich, nur ich“ erinnert an die Exklusivitätsformel, die auch der junge GoetheGoethe, Johann Wolfgang in Anspruch nimmt. „Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!“81, schreibt er nach einer knappen Einleitung zu Beginn seines Essays Zum Schäkespears TagZum Schäkespears Tag vom September 1771 und setzt damit eine Art Individualitätsmarke. Dieser Text gilt als einer der Initialtexte der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang. Dieses literarisch-autonome Selbstbewusstsein zitiert auch der junge Werfel. Explizit wird dies darüber hinaus in dem Gedicht Die Freundlichen deutlich, worin fünf Figuren auftreten, ein Liebender, ein alter Herr, die hübsche junge Dame, ein alter Dichter und der gute Geist (bestimmter und unbestimmter Artikel der Figuren nach dem Wortlaut des Gedichts); es heißt darin, und WerfelWerfel, Franz lässt diese Worte einen alten Dichter sprechen:

„Eh ihr in die starre Kühle

Losgelösten Daseins steigt,

Fördert eure Selbstgefühle

Gegenseitig euch geneigt!

Seid ihr eignen Werts bewußt,

Müßt ihr richtig überfließen

Denn ihr könnt die ganze Lust

Euch durchwandelnd erst genießen.“ (E, S. 40f.)

Fast schon als Zitat taucht diese kulturgeschichtlichekulturgeschichtlich Individualitätsformel im Gedicht Selbstgespräch wieder auf. Dort sagt das Ich: „Ich! will!“ (E, S. 58) Kaum verwunderlich ist es, dass sich daran das Sonett Große Oper anschließt, in dem zwei Mal die Interjektion ‚o‘ als Sehnsuchtswort eines phantasierten Dirigats des lyrischen Ichs verwendet wird. Werfels Autopoetik verschafft sich auch im Gedicht Der Patriarch Gehör. Das Ich phantasiert sich nun als einen Patriarchen, der gebieten kann und dessen Worten gefolgt wird:

„Woher und wann ich kam, o Bardenlied, doch mein Besuch

Heilt Kranke, meine Stimme schallt, die Seenot abzuwehren.

Göttlich erglänzt mir Stirn und Bart. Das Volk wird beide ehren,

In fernem Angedenken segnend Tat und Spruch.“ (E, S. 71)

Werfels Individualitätsmarke ist programmatisch, allerdings genügen nicht alle Gedichte des Weltfreunds diesem Anspruch. Man muss die Spreu der Gelegenheitsgedichte und der Gedichte im konventionellen Ton vom Weizen jener Gedichte, die den neuen Ton expressionistischerExpressionismus Selbstgewissheit beanspruchen, trennen.

Im Gedicht Verwandlungen wird die Interjektion ‚oh’ unmissverständlich mit dem „Schmerz“ (E, S. 78) verknüpft, der die Ursache aller Gefühle und „Urgott“ (E, S. 78) sei. „Oh, dann wirf Dich in die eigene Flamme!“ (E, S. 78), klagt der Autor. Dass es sich bei diesem Schmerz ausschließlich um Seelenpein handelt, geht aus dem Gedicht selbst hervor.

Das Gedicht Solo des zarten Lumpen, das in G den Titel trägt Morgengesang eines Lumpen (vgl. G, S. 20f.), weist nur eine kleine Textänderung gegenüber dem Erstdruck auf. In der dritten Strophe heißt es in E: „Heiraten wirst du bald, wirst Mutter werden!“ (E, S. 81), während in G zu lesen ist: „Du wirst ein Weib sein, du wirst Mutter werden“ (G, S. 20). WerfelWerfel, Franz hat also in der Ausgabe letzter Hand (G) an dieser Stelle in den Text eingegriffen, vielleicht war ihm die ursprüngliche Formulierung zu süßlich? Das lyrische Ich ist hier der vagabundierende Solist, hinter dem sich unschwer der junge Autor verbirgt.

Die Bedeutung der admirativen Interjektion ‚o‘ geht eindeutig in diesem Ausruf der Dampferfahrt im Vorfrühling hervor: „O heldischer Kampf am Himmel!“ (E, S. 85), und „O Tanzlokale am Ufer, o Brüder, o Dampfer“ (E, S. 86), um gleich im darauf folgenden Gedicht Der schöne strahlende Mensch, das in G übernommen wurde (vgl. G, S. 20f.), durch die Wehklage der Interjektion ‚oh‘ abgelöst zu werden: „Oh Erde, Abend, Glück, oh auf der Welt sein!!“ (E, S. 87). Dieses ‚oh‘, das also in G erhalten bleibt, kombiniert mit den doppelten Ausrufezeichen, zitiert vielleicht (zumindest aus der Rückschau) ironisch die postromantische Weltschmerzlyrik.

Mit dem Gedicht Der Weltfreund singt nimmt Werfel das Titelwort seines Debütbandes wieder auf. Insgesamt variiert er diesen Weltfreund noch drei weitere Male mit den Gedichten Der Weltfreund, hoher Vollendung zuschreitend – hier ist besonders die Verwendung des Partizip Präsens Aktiv signifikant, da es die Prozesshaftigkeit und Augenblicklichkeit der sukzessiv zu erreichenden Vollendung des Weltfreund-Dichters unterstreicht, was kulturgeschichtlichkulturgeschichtlich die Wiederaufnahme des aufgeklärten Perfektibilitätsgedankens des 18. Jahrhunderts bedeutet. Ferner in Der kriegerische Weltfreund (E, S. 103) und Der alte Weltfreund (E, S. 108).Expressionismus82 Die Gedichte dieses dritten Teils sind immerhin auch unter die Überschrift gestellt Erweiterung, der Weltfreund (vgl. E, u.p. [= S. 75]). In Der Weltfreund singt kombiniert Werfel zudem die Schmerzklage mit der Lustbewunderung, wobei die letztere siegt: „O Lust ist schön, und Schmerz, sei hochverehrt!“ (E, S. 88). Zumindest in diesem Gedicht ist die Entscheidung zwischen ‚o‘ und ‚oh‘ gefallen. Bemerkenswert ist außerdem, dass Werfel in diesem Gedichttext ein Wort gebraucht, das sich mutmaßlich aus dem Tschechischen herleitet, „Gluthvânz!“ (E, S. 88, das ‚â‘ ist im Druck durch eine lateinische Letter hervorgehoben), das der Dichter als „bedauernswert“ bezeichnet und das zumindest wiederum die Kontextualisierung mit dem Umfeld des Prager Kreises erlaubt.83

Die Triumph Ode, die bereits im Titel die Haltung und Positionierung des lyrischen Ichs im zeitgenössischen lyrischen Diskurs deutlich macht, verkündet nochmals WerfelsWerfel, Franz Anspruch, den er mit dem WeltfreundDer Weltfreund verbindet. Es heißt:

„O kommt mir nah!

Kommt mir nah!

Ich bin eine heiße, rotglühende Platte

Rollt euch und zerfallt

Wie dünne Blätter!

Oder folgt mir!

Folgt mir!

[…]

Lärmt und rast!

Rast und lärmt!

Meine Stimme ist gewaltig,

Edel und hoch!

Wie steigt sie schon

Ueber eure schmutzige Mittellage.“ (E, S. 91f.)

Das Insistierende und Repetierende der einzelnen Verse hebt den Anspruch, eine neue und eine eigene Stimme in der frühexpressionistischenExpressionismus Lyrik zu sein, unmissverständlich hervor. In Hundertfaches Dasein fasst dies Werfel mit einer Formel zusammen, die seine Haltung auf den Punkt bringt: „Denn Existenz ist Mittel, Wirkung alles“ (E, S. 94).

In Mitleid mit manchen Worten fängt Werfel die Stimmung des Perspektivenwechsels und der neuen lyrischen Sprechweise ein. „Ihr armen Worte, abgeschabt und glatt“ (E, S. 100), heißt die erste Zeile, die direkt mit den letzten Zeilen korrespondiert, welche sich wieder der Klage-Interjektion bedienen: „Oh, dann von Mitleid durchschüttert, schüf ich aus euerm mißachteten Klang / Am liebsten den hehrsten, heißesten Gesang“ (E, S. 100).

Das Gedicht Du braver Mensch! rekapituliert gleichsam die Bedeutung der Interjektion. Gleich sieben Mal taucht das ‚o‘ auf und leitet damit das frühexpressionistische O-Mensch-Pathos ein, auch wenn diese Initiation von der Forschung für das Gedicht An den Leser in Anspruch genommen wird.84 Der brave Mensch wird mit dem guten und treuen Wort verknüpft, so dass ein neuer Mensch unausgesprochen auch ein neues Wort fordert.

Die Auswahl in G schließt mit dem Gedicht Ich habe eine gute Tat getan, das auch das viertletzte Gedicht in E darstellt. Das Gedicht kann als WerfelsWerfel, Franz autopoetologischer Rückblick verstanden werden. Im Rückblick auf seinen ersten Gedichtband wählt er nicht jene Gedichte aus, die zeitgenössisch initial-expressionistischExpressionismus gewirkt haben, sondern jene, die für ihn sein lyrisches Debüt resümieren. Die gute Tat, die er getan hat, besteht eben darin, jenes Initial oder jene – nach Genette – Matrix zu geben, mit deren Hilfe expressionistische Lyrik entstehen und sich vernetzen konnte. Zunächst ist der Titel Ich habe eine gute Tat getan aber auch eine Allusion auf die Worte des Apostels PaulusPaulus im Zweiten Brief an TimotheusZweiter Brief des Paulus an Timotheus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten“ (2. Tim 4, 7). Natürlich kann das Gedicht auch als ein nur unschwer zu dechiffrierendes Liebesgedicht gelesen werden. Darüber hinaus beansprucht es aber lyrikgeschichtlich gesehen eine besondere, eben expressionistische Individualitätsmarke, es enthält auch die Absichtserklärung, zukünftig „tausend gute Taten“ (E, S. 105) tun zu wollen. Und wiederum aus der Retrospektive Werfels betrachtet ist es genau dies, mit seiner Lyrik diese Taten getan zu haben. Das lyrische Ich des Gedichts genießt die Allliebe, die Erkenntniswonne, Gefühle und Wohlwollen, Befriedigung und Dankbarkeit erfährt es – dies sind Worte des Gedichts. Das Ich resümiert: „Das Buch, das ich lese / Blättert von selbst sich auf“ (E, S. 106), es ist das Buch expressionistischer Lyrik, in dem der junge Werfel blättert und das ihn in seinen Bann zieht. Die letzten Verse dieses umfangreichsten Gedichts aus dem Weltfreund lauten:

„Ich habe eine gute Tat getan,

Voll Freude und Wohlwollens bin ich

Und nicht mehr einsam

Nein, nicht mehr einsam.

Frohlocke, mein Herz!“ (E, S. 107)

In G kommt beim Vers „Und nicht mehr einsam“ lediglich noch ein Komma hinzu und heißt demnach: „Und nicht mehr einsam,“ (G, S. 28). Der Ton bleibt durchaus psalmodisch und der Wortlaut verweist unter anderem auf Psalm 13, 6. Ich habe eine gute Tat getan bilanziert also aus der Sicht des späten Werfel seine Leistung. Diese besteht darin, dass er die Öffnung dieser expressionistischenExpressionismus Matrix im WeltfreundDer Weltfreund vollzieht. Die Gedichte aus diesem Band sind vor allem autopoetologische Ichphantasien, welche versuchen, die zunehmende Dissoziation von Ich und Welt in der ModerneModerne sprachlich einzufangen.

Die Themen des WeltfreundsDer Weltfreund kreisen um den Verlust der Kindheit (vor allem im ersten Teil), um Natur, Liebe und Selbstvergewisserung. Besonders diese Frage nach dem ‚Wer bin ich?‘ und danach, wie ein zeitgemäßes lyrisches Sprechen aussehen kann, ist in den programmatisch zu nennenden, mindestens autopoetologischen Texten sichtbar. Die Wahl des Metrums ist nicht spektakulär. Die meisten Gedichte bedienen sich des Jambus, einige als Oden oder Hymnen angelegte Gedichte greifen auf andere Metren aus. Über die Bedeutung des Reims schreibt WerfelWerfel, Franz in seinem 1938 entstandenen und in G aufgenommenen Sonett Der Reim:

„Der Reim ist heilig. Denn durch ihn erfahren

Wir tiefe Zwieheit, die sich will entsprechen.

Sind wir nicht selbst mit Aug’-, Ohr-, Lippenpaaren

Gepaarte Reime ohne Klang-Gebrechen?

Das Reimwort meinst du mühsam zu bestechen,

Doch wird es unversehens offenbaren,

Wie Liebeskräfte, die zerspalten waren,

Zum Kuß des Gleichklangs durch die Fernen brechen.

Allein nicht jede Sprache hat geheiligt

Den reinen Reim. Wo nur sich deckt die Endung,

Droht leeres Spiel. Der Geist bleibt unbeteiligt.

Dieselben Silben lassen leicht sich leimen.

Doch Stämm’ und Wurzeln spotten solcher Blendung.

Im Deutschen müssen sich die Sachen reimen.“ (G, S. 184)

Dieser Notwendigkeitsbehauptung, dass sich „die Sachen“ reimen müssten, steht aber schon im WeltfreundDer Weltfreund die Erkenntnis aus dem Lied vom himmlischen Wort entgegen, wonach manchmal auch gilt: „Der liebste Reim scheint leer“ (E, S. 51).

Gleich das erste Gedicht des Bandes mit dem Titel Das leichte und das schwere Herz (vgl. E, S. 7f.) offeriert fünf Mal ein ‚o‘. Gemeint ist aber eher ein ‚oh‘, denn die Interjektion gilt vor allem dem beklagten Verlust der Kindheit. Das wird im Gedicht Kindersonntagsausflug (vgl. E, S. 15f.) deutlich, wo WerfelWerfel, Franz in der Tat drei Mal das ‚oh‘ anführt. Bis dahin hat er aber bereits sieben Mal ‚o‘ gebraucht. Die Bilanz dieses Interjektionsgebrauchs sieht so aus: Werfel verwendet 38 Mal die Interjektion ‚o‘ und 13 Mal die Interjektion ‚oh‘, zusammen also 51 mal die Interjektionen ‚o‘/‚oh‘. Es scheint mir also durchaus berechtigt zu sein, hier von einer massiven Verwendung dieser Interjektionen und damit von einem signifikanten Bedeutungsanspruch der ‚o’-s und ‚oh’-s zu sprechen. Dieser Interjektion – ich fasse beide Subklassen nun zusammen – eignet eine poetologische Bedeutung. Bereits das Eröffnungsgedicht Das leichte und das schwere Herz setzt den Akzent der Bewunderung mit fünf ‚o‘-Interjektionen, wobei alle fünf auf das leichte Herz bezogen sind.

Die Bedeutung des Perspektivenwechsels, der mit dem Verlust der Kindheit verknüpft ist, beschreibt das Gedicht Der Kinderanzug. Was sich im Titel harmlos gibt, öffnet in den Schlusszeilen eine gewaltige Einsicht. Der Perspektivenwechsel ermöglicht einen anderen Blick auf alles Andere, auch wenn das Ich gleich bleibt (von der für die Literaten der Wiener ModerneWiener Moderne so bedeutenden Erkenntnis des Physikers und Philosophen Ernst MachMach, Ernst, wonach das Ich erkenntnistheoretisch gerade nicht mehr gesichert, sondern lediglich ein Bündel unterschiedlichster Eindrücke sei, ist Werfel nicht berührt):

„Eins fällt mir ein: oft schaut ich gebückt durch die Beine, wie durch ein Tor

Und Sonne, Erde und Himmel kamen mir anders und fremder vor.“ (E, S. 11)

Diese Veränderung der Perspektive drückt sich auch in jenem „Wissen“ aus, von dem Die Instanz spricht, das ist demnach ein Wissen, das das „Lebensbild“ des lyrischen Ichs „[z]uschauerhaft mit gönnerischem Nicken“ (E, S. 56) betrachtet. Dieses Wissen, das womöglich mit dem Spiegelbild des dicken Mannes gleichzusetzen ist, schafft Selbstbewusstsein und äußert sich in einem grenzenlosen lyrischen Sprechen und Reflektieren.

Werfels Gedicht Das Grab der Bürgerin (vgl. E, S. 38) ist Max BrodBrod, Max gewidmet. Damit sucht der Autor den Anschluss im literarischen Feld des Prager Kreises. Auch Franz KafkaKafka, Franz kannte ja das eine und andere Gedicht, das WerfelWerfel, Franz vorgelesen hatte.

Auch in der Ode (vgl. E, S. 79f.) rekurriert der Autor auf dieses Selbstverständnis. Der „hinfällige Mensch“ (E, S. 79) würde sich selbst gebären, heißt es einleitend in der ersten Strophe, um gleich in der zweiten Strophe die Draperie des lyrisches Ichs zu beanspruchen, das von sich selbst anschließend proklamiert: „Und mein Geist ist eine einzige / Riesenempfindung“ (E, S. 79). Es attestiert sich einen „seraphischen Gleichmut“ (E, S. 80), um abschließend festzustellen:

„Noch bin ich Wesen

Noch bin ich Person!

Schon naht die schmerzliche Stunde.“ (E, S. 80)

Damit kann die Geburt als Akt der Selbstgebärung des selbstbewussten andersdenkenden Dichters gemeint sein, denn sprachlich nimmt das Ende der Ode den Anfang wieder auf, der Kreis des Lebens ist geschlossen und doch zugleich in eine neue Perspektive aufgebrochen.

Das Gedicht Wo ist … beklagt den Verlust der Kindheit nun mit der admirativen Interjektion ‚o‘, während noch der Kindersonntagsausflug drei Mal mit ‚oh‘ wehklagt (vgl. E, S. 15). Ist dies Versehen, Unachtsamkeit, Unwissenheit oder ist dies absichtsvoll gesetzt? Die klagende Grundstimmung wird schon durch das Heimweh evoziert:

„Ich habe Heimweh.

O Reste, Ueberbleibsel! o vergangene Vergangenheit!

Wie nach der Kindheit Heimweh,

Wie nach dem hohen Kindersessel Heimweh,

Wie nach vergessenen Personen Heimweh.“ (E, S. 20)

Das lyrische Ich in Der dicke Mann im Spiegel weist seine Identität „tieferschrocken“ (E, S. 22 = G, S. 19) zurück. Es will nicht glauben, dass sein Spiegelbild tatsächlich sein Spiegelbild ist, muss aber am Ende akzeptieren, dass die Kindheit vorüber ist und der erwachsene Mann, der aus dem Spiegel schaut, auch die Identität verbürgt. Er tritt sogar symbolischsymbolisch aus dem Spiegel und okkupiert das Ich, es vollzieht sich gleichsam eine symbiotische Vereinigung, die eine Differenz von Ich und Nicht-Ich nicht mehr zulässt.

In dem Gedicht Der tote Freund beklagt das lyrische Ich drei Mal den Augenblick, das Glück und die Vergänglichkeit seiner selbst (vgl. E, S. 32). Das Kronprinzenlied (vgl. E, S. 36f.) beklagt in einem einzigen ‚oh‘ die phantasierte Traurigkeit der Eltern über den phantasierten Selbstmord. In Gottvater am Abend lässt Werfel Gott „o schmerzliches Heute!“ (E, S. 42) ausrufen, was eher eine Klage ist als ein Ausdruck der Verwunderung oder gar Bewunderung.

Im Gedicht An den Leser heißt der erste Vers: „Mein einziger Wunsch ist, Dir, oh Mensch, verwandt zu sein!“ (G, S. 17) Im Erstdruck lautet diese Zeile:

„Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!

Bist du Neger, Akrobat, oder ruhst Du noch in tiefer Mutterhut,

[…]

Mein Mensch, wenn ich Erinnerung singe,

Sei nicht hart und löse Dich mit mir in Tränen auf!

Denn ich habe alle Schicksale durchgemacht. […]

So gehöre ich Dir und Allen!

Wolle mir, bitte, nicht widerstehn!

O, könnte es einmal geschehn,

Daß wir uns, Bruder, in die Arme fallen!“ (E, S. 110)

Auch hier wird die Interjektion verändert, in G heißt die vorletzte Zeile „Oh, könnte es einmal geschehn,“ (G, S. 17). Werfels Programm des WeltfreundsDer Weltfreund wird in diesem letzten Gedicht des Bandes deutlich, wenn er darin schreibt, „mein Spruch“ lautet: „O Mensch, ich bin Dir gut!“ (E, S. 112) Er, der Autor, ist der Welt Freund, das besagt der Titel Weltfreund. Das ist nicht der gute Mensch oder das Postulat eines neuen Menschen, sondern mehr noch, es ist eine ethische Grundhaltung des Gutseins und das schließt ein Guthandeln mit ein. Man kann dies geschichtlich auch als eine Vorkriegserfahrung bewerten, die noch an das Gute im Menschen glauben lässt. Entscheidend ist, dass das lyrische Ich, das wegen seines Bekenntnischarakters als Autor-Ich identifiziert werden kann, die gutmeinende Hinwendung zum Menschen für sich beansprucht. Mit Blick auf die Bedeutung der Interjektion erklärt sich nun, weshalb das ‚o‘ fast durchgängig im Weltfreund als ein Ausdruck der Bewunderung auftritt. Davon bleibt nach der Erfahrung zweier Weltkriege, der abenteuerlichen Flucht und der Situation im amerikanischen Exil bei WerfelWerfel, Franz schließlich nur das ‚oh‘ als Ausdruck der Klage und des Kummers übrig.

In seinem Buch MimologikenMimologiken spricht Gérard GenetteGenette, Gérard von einem Kratylien, das den Aufenthaltsort des mimologischen Diskurses meint. Genette definiert, ein Kratylismus ist „unter anderem eine Nachahmung, in einem anderen Sinn: ein ‚nach Art des Kratylos‘, auch noch bei demjenigen, der von der Existenz des Ausgangstextes keine Ahnung hat […]“85. Dieser Rückgriff auf den platonischenPlaton Dialog des KratylosKratylos bildet auch das Gerüst für Genettes sprachgeschichtlichen Ausführungen. In dem Kapitel über Charles NodiersNodier, Charles Dictionnaire raisonné des onomatopées françaises (1808) und die Notions élémentaires de linguistique (1834), das Genette mit Onomatopoetik überschreibt, zitiert er aus Nodiers Notions: „das O, das sich unter der Feder rundet, wie sie sich im Augenblick seiner Emission runden, […] sehr rationale Zeichen, weil sie ausdrucksvoll und malerisch sind“86. Genette kommentiert: „Die Funktion des Buchstabens ist hier nicht die Mimesis außersprachlicher Gegenstände, sondern vielmehr des Stimmlauts, selbst wenn man dabei über die Darstellung eines Gegenstandes gehen muß, der einen analogen Klang hervorbringt. Der BuchstabeBuchstaben ist eine indirekte Hieroglyphe des Klangs“87. Genette zitiert weiter Nodier, dass im Französischen der Laut ‚o‘ „auf dreiundvierzig Weisen dargestellt [wird], und es ist sehr gut möglich, daß ich dabei einige vergesse“88. Das ist eine Perspektive jenseits der gängigen Linguistik. Und genau dies ist der Anknüpfungspunkt für eine Lektüre des WeltfreundsDer Weltfreund. Das Wort, welches die Bedeutung der Interjektionen ‚o‘ und ‚oh‘ zum Ausdruck bringt, enthält selbst vier Mal das ‚o‘, die Onomatopoetik. Die poetologische BedeutungBedeutung dieses Interjektionsgebrauchs bei Werfel liegt also in seiner mimetischen FunktionFunktion. Damit wird der Weltfreund in diesem Sinne zu einem kratylischen Text, der einer ganzen literaturgeschichtlichen Epoche als Matrix expressionistischenExpressionismus Sprechens dient. Und ein fernes Echo findet sich in Bodo KirchhoffsKirchhoff, Bodo autobiografischem Roman Dämmer und AufruhrDämmer und Aufruhr (2018). Als kleiner Junge habe er eine körperliche Erfahrung mit dem „Buchstaben O“ gemacht, als er neben seiner, eine Schauspielrolle memorierenden, Mutter sitzt, „das mütterlich Rückwärtige mit dem Spalt in der Mitte, darin noch immer ein Geheimnis“, sie hat das Rollenheft auf ihren Knien, „in der Hand einen kleinen grünen Bleistift zum Anstreichen ihrer Sätze, dazu Gemurmel und auch leises Lachen. Der Stift gehört zu dem Heft, als gäbe es nur den einen, […] ein Instrument, wie gemacht, um damit vorzudringen in das Geheime, dorthin, wo er herzukommen glaubt. Also erkundet er das Dunkel damit, ohne dass ihm Einhalt geboten wird. Er hat freie Hand bei seinem Tun und entdeckt, noch vor jedem Wissen um die Schrift, etwas nahezu Kreisförmiges, in das er den Stift senkt, seinen Buchstaben O.“89 Das ist ein kratylischer Ursprungsmythos, der aus männlicher Sicht das O zum ewigen Geheimnis erklärt.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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