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Friedrich Hebbel Maria MagdalenaMaria Magdalena (1844)

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In seinem Epigramm Selbstkritik meiner DramenSelbstkritik meiner Dramen schreibt Friedrich HebbelHebbel, Friedrich (1813–1863), nicht ohne ironischen Unterton:

„Zu moralisch sind sie! Für ihre sittliche Strenge

Stehn wir dem Paradies leider schon zu lange fern

Und dem jüngsten Gericht mit seinen verzehrenden Flammen

Noch nicht nahe genug. Reuig bekenn ich euch dies.“1

Demzufolge nun Gewalt statt KatharsisKatharsis im Sinne eines Paradigmenwechsels als Grundlage einer Dramenanalyse zu erproben, ist eine provokante Formulierung, auch wenn der Begriff des Paradigmenwechsels gleichwohl interrogativ abgeschwächt ist. Doch der Zusammenhang erhellt sich, wenn man die Nikomachische EthikNikomachische Ethik heranzieht. Darin schreibt AristotelesAristoteles im zehnten Buch, dass die LeidenschaftLeidenschaften nicht dem Wort (λόγος), sondern nur der Gewalt weiche (vgl. Nikomachische Ethik 1179 b 27). Diese Gewalt repräsentiere nicht das Gebot des Vaters, sondern das Gesetz, das ein Ordnungsprinzip darstelle, welches auf sittlicher Einsicht und Vernunft beruhe.2 Als Leidenschaften bezeichnet Aristoteles im zweiten Buch seiner Ethik das BegehrenBegehren, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft und des Hasses, die Sehnsucht, die Missgunst und das MitleidMitleid. Das sind also Empfindungen, die vom Gefühl der Lust oder Unlust begleitet werden.3

Selbstverständlich ist dieses aristotelische Triebregulierungsmodell soziohistorisch ebenso falsch, denn die griechische Polis war ja nachgerade ein streng patriarchalisch reguliertes Gemeinwesen, wie es psychohistorisch ungenau ist, am deutlichsten wohl zu sehen in der Literatur des 18. Jahrhunderts, wo der Triumph der logozentrischen Vernunft über die Leidenschaften allenthalben gefeiert oder postuliert wird. Und dennoch wird die Konfliktkonstellation Logos versus Leidenschaft gerade in jenem Jahrhundert soziohistorisch virulent und literarisch signifikant, das einen heute eher skeptisch betrachteten Prozess der Emanzipation des BürgertumsEmanzipation des Bürgertums in Gang bringt. Die These, die ich meinen Ausführungen voranstelle, soll also heißen: Das BegehrenBegehren nach Emanzipation der LeidenschaftenEmanzipation der Leidenschaften artikuliert sich als fiktionaler Diskurs im Bürgerlichen TrauerspielBürgerliches Trauerspiel.

Verschränkt man das sozialethische Theorem der Nikomachischen EthikNikomachische Ethik mit dem wohl bedeutendsten Theorem der aristotelischenAristoteles Poetik, dass nämlich die TragödieTragödie Vergnügen bereiten, FurchtFurcht und MitleidMitleid erregen (heute übersetzt man Jammer und Schaudern) und die KatharsisKatharsis von diesen und bzw. oder anderen Leidenschaften bewirken soll, so ergibt sich die irritierend exakte Beschreibung eines Prozesses, der sich historisch zwischen LessingsLessing, Gotthold Ephraim Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) und HebbelsHebbel, Friedrich Maria MagdalenaMaria Magdalena (1844) vollzieht. Der zuschauende BürgerPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) wird mit seiner Misere allein gelassen, er erkennt sie nicht einmal mehr als Misere, sondern verschiebt sie in die Diskursivierung einer ästhetischen Empfindung. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, am deutlichsten in HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Vorlesungen über die ÄsthetikVorlesungen über die Ästhetik zu sehen, beginnt ein Prozess der Dekathartisierung der KunstDekathartisierung der Kunst. So meint Hegel etwa, die Kunst habe ihren Endzweck in der Enthüllung und Darstellung der Wahrheit, „andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung […], gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben“4.

Hebbels Tragödie Maria Magdalena zeigt in der Form der ursprünglich emanzipatorischen Gattung, dass der Bürger nicht mehr kathartisierbar ist, weder als Handlungsträger (es gibt keine moralische oder vernunftmäßige Einsicht, keinen Sieg des Logos) noch als Rezipient (das Angebot heißt nicht mehr Katharsis kollektiver Gefühlsdispositionen, sondern ungeschützte Konfrontation mit dem, was das Bürgertum selbst produziert, nämlich Gewalt). Das Taschentuch, einst Attribut nicht nur der empfindsamenEmpfindsamkeit Zuschauerin, dient jetzt dazu, dem Bürger die Augen zu verbinden, nicht aus Gründen der Gerechtigkeit, einer wie auch immer gearteten poetischen oder real-gesellschaftlichen, sondern man mag den Tod Klaras, man mag die Gewalt nicht sehen, wie etwa in der ablehnenden RezeptionRezeption des Stücks in den 1840er-Jahren zum Ausdruck kommt.

Im Hinblick auf die Themenstellung sollen drei Punkte von HebbelsHebbel, Friedrich Vorwort zur ‚Maria Magdalena‘Vorwort zur Maria Magdalena hervorgehoben werden.

1.) Hebbel schreibt:

„Darstellbar ist nun nur das Handeln, nicht das Denken und Empfinden; Gedanken und Empfindungen gehören also nicht an sich, sondern immer nur so weit, als sie sich unmittelbar zur Handlung umbilden, ins Drama hinein; […] denn alles Handeln löst sich dem Schicksal […] gegenüber, in ein Leiden auf, und gerade dies wird in der Tragödie veranschaulicht, alles Leiden aber ist im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln […]“.5

Dies ist zwar gut aristotelischAristoteles gedacht, trifft aber nicht die poetologische Intention des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Was das Bürgerliche Trauerspiel bzw. die Literatur insgesamt nicht mehr leisten kann, wird geschichtsphilosophisch überhöht als Vermittlung von Idee und Weltzustand bzw. Menschenzustand oder es wird pragmatisch gelöst, was bedeutet: Wo Vernunft und Sittengesetz versagen, bleibt nur noch Gewalt.

2.) Hebbel moniert am Bürgerlichen Trauerspiel, dass es aus „allerlei Äußerlichkeiten“ regelrecht „zusammengeflickt“ sei.6 Der Darstellung ständisch-gesellschaftlich begründeter Konflikte lastet er „gerührte Sentimentalität“7 an. In jener berühmten Tagebucheintragung vom 4. Dezember 1843 ist zu lesen: „Heute habe ich mein viertes Drama: ‚Ein bürgerliches Trauerspiel!‘ geschlossen“8, und weiter heißt es:

„Gewöhnlich haben die Poeten, wenn sie bürgerliche Trauerspiele zu schreiben sich herabließen, es darin versehen, daß sie den derben, gründlichen Menschen, mit denen sie es zu tun hatten, allerlei übertriebene Empfindeleien oder eine stöckige Borniertheit andichteten, die sie als amphibienhafte Zwitter-Wesen, die eben nirgends zu Hause waren, erschienen ließen.“9

Denn tragisch wirken – und das bedeutet nach klassischer Lesart ja gerade kathartisieren – könne allein ein diesen Konflikten vorgängiges, „mit Nothwendigkeit Bedingtes“10. Sobald man sich mit einem „Hätte er […] oder einem: Wäre sie […] helfen kann, wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial“11 und die tragische Wirkung verpufft, meint HebbelHebbel, Friedrich im Vorwort zur Maria MagdalenaVorwort zur Maria Magdalena.

3.) Der dritte Einwand betrifft neben dem Vorwurf der Trivialität vor allem die Absurdität und die Lächerlichkeit, die das Bürgerliche TrauerspielBürgerliches Trauerspiel kennzeichnen würden. Dagegen setzt Hebbel, dass die Willkürlichkeit der Figurenwahl in ein „allgemein Menschliches“12 aufgelöst werden müsse. Er empfiehlt im Hinblick auf sein Stück, nach der himmlischen Schönheit, die sich nur im „allergewaltsamsten Zustande“13 zeigen könne, zu fragen. Diese „Erbfehler des bürgerlichen Trauerspiels“14, schließt er selbstbewusst das Vorwort ab, habe er vermieden.

Schönheit lässt sich also nur in Situationen der Gewalt aufzeigen. Die Rückkehr zur antiken Tragödiensituation (natürlich neuzeitlich geschichtsphilosophisch anverwandelt, Moira und Ananke übernehmen die ‚Schirmfrauschaft‘) und die Vorgabe, nicht Empfindungen und LeidenschaftenLeidenschaften sollen dargestellt werden, sondern allein ein Handeln, – das ist die eine Seite, die Seite des Theoretikers Hebbel und seines autopoetologischen, selbstexplikativen Diskurses im Vorwort zu seinem Drama. Die andere Seite, nämlich diejenige des Textes, lässt aber eine andere Lesart zu. Indem Hebbel das Numinose, die Notwendigkeit, exemplifizieren will, zeigt er, seiner eigenen Absicht widerstreitend, wie gesellschaftlich, familial und diskursiv bedingt die Gewaltverhältnisse sind.

Der Begriff der KatharsisKatharsis wurde erst spät im Zusammenhang mit Hebbels Maria Magdalena in Anspruch genommen.15 Als die „spezifisch Hebbelsche Katharsis“16 galt „die ‚Versöhnung‘“17 und war zunächst nicht mehr als eine geschichtsphilosophisch liquidierte Katharsis, sie war viel eher eine Entität, ein wirkungsästhetisches Phänomen oder anders ausgedrückt: Sie war eher ein Indiz für den Prozess der Dekathartisierung der KunstDekathartisierung der Kunst im 19. Jahrhundert.18 In dem Aufsatz Friedrich Hebbels tragischer HistorismusFriedrich Hebbels tragischer Historismus19 wurde zunächst der mythisch-archaische Ursprung der Katharsis rekonstruiert. „Die tragische Darstellung schafft zur mythischen Vorgeschichte jene Distanz, aus der Humanität als eigener, rationaler Bereich des Menschen entworfen wird – darin gründet KatharsisKatharsis.“20 Da nun HebbelHebbel, Friedrich den aufklärerischen Ursprung des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel auf ein historisierendes Konstrukt hin, nämlich die tragische Notwendigkeit, depriviere, stelle sich Katharsis dort ein, „wo Protest stehen sollte“21. Hebbels „restaurative Einstellung“ sei eher in gattungspoetischen als in politischen Motiven begründet.

So wichtig und begründet diese ideologiekritischen Einwände sind, so notwendig ist es – dies als das vorliegende Erkenntnisinteresse formuliert –, diese gattungstheoretische restaurative Wende oder zugespitzter formuliert: diese Katharsis-Deprivation zu entpersonalisieren. Mag es richtig sein, von einer eingestandenen oder uneingestandenen restaurativen Einstellung Hebbels zu sprechen, sein Stück Maria MagdalenaMaria Magdalena leistet dies aber nicht. Vielmehr zeigt es, entgegen seiner programmatischen Absicht, eine bürgerliche Gesellschaft, deren Gewaltverhältnisse gerade nicht mehr die sozialpsychologische Triebabfuhr als Katharsis zulassen. Konnte Peter SzondiSzondi, Peter über das bürgerliche Publikum der 1750er/60er-Jahre noch schreiben, dass es im Theater ohnmächtig die eigene Misere beweine,22 so muss es jetzt heißen, dass es sich der Vergegenwärtigung dessen verweigert, was es ist, eine soziale Organisationsform, in der Gewaltverhältnisse die Lebensverhältnisse der Menschen bestimmen. Nicht einmal die späte Einsicht des Vaters Meister Anton, der als das Gravitationszentrum von Gewalt gelten kann, gesteht Hebbel seinem bürgerlichen Publikum zu, er verzichtet sogar auf die Exploration eines dramatischen Geschehens, das im kathartischen Erleben des Publikums seinen Abschluss fände. Der Verzicht auf die Potenz kathartischer Wirkung potenziert die Binnenperspektive. Der Verzicht auf die Befreiung vom Schmerz gesellschaftlicher Gewalt schafft erst das Bewusstsein vom eigenen Schmerz. Insofern liefert Hebbel einen sozialpsychologischen Tiefenschnitt gesellschaftlicher Verhältnisse, die vom Emanzipationsbegehren ihres Ursprungs nicht einmal mehr eine Erinnerung bewahren. Konkret heißt dies, LeidenschaftenLeidenschaften sind nicht mehr kathartisierbar, das Begehren ist nicht mehr diskursivierbar zum Zwecke der KatharsisKatharsis, die aufgeklärte Vernunft findet kein Ohr mehr, das sie hört, da kein Wort gesprochen wird, das vernommen werden könnte. Diese weniger restaurative, eher schon apokalyptische Vision entfaltet HebbelHebbel, Friedrich in seinem Stück. „Unser Gott Λόγος“23 ist ein Deus absconditus, die Abwesenheit des Vater-Wortes ist die Anwesenheit der Todesgewalt. Der unvernünftige, schreibunkundige Vater versteht die Welt nicht mehr (vgl. III/11)24, den alphabetisierten wissenden und verstehenden Kindern – Klara bewahrt bereits das Wissen um die Vielfalt der Möglichkeiten auf der Welt (vgl. II/4), wie sie das Kind ihrer Leidenschaft in ihrem Leib bewahrt – bleibt angesichts der realen Gewalt des Vaters nur die Flucht. Der Sohn ergeht sich in der Abenteuer und Ferne garantierenden Fluchtfantasie Seefahrt. Die Tochter hingegen segelt nicht auf dem Wasser, sie ertrinkt in ihm, nicht in der Ferne, sondern in der Nähe unter den Augen des Vaters. Und diesen lässt nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft schaudern, er, der als einziger ein Glas Wasser durchs Mikroskop betrachtet hat (vgl. II/1) und dann nicht mehr trinken konnte. Doch trinken musste der Vater wieder, wenn er anders nicht sterben wollte, aber das Wort, das Tochter und Enkelkind tötet, hätte er nicht sprechen müssen: „Da sprach er [Meister Anton] ein Wort aus, das sie zur Verzweiflung trieb“ (III/11). Der Sekretär, dessen Beruf die Worte sind, entschleiert den verborgenen Gott Logos: „Denk Er nur an das, was Er ihr gesagt hat! Er hat sie auf den Weg des Todes hinaus gewiesen […]“ (III/11).

Ist LessingLessing, Gotthold Ephraims Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson gewissermaßen der Holotypus des Bürgerlichen Trauerspiels, wonach sich also die Beschreibung der Gattung richtet, so ist Hebbels Maria MagdalenaMaria Magdalena das letzte Exemplar. Der Tod Klaras symbolisiert das Ende des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Logos und Leidenschaft werden nicht mehr empfindsamEmpfindsamkeit ausbalanciert oder pathetisch verhandelt. Die KatharsisKatharsis dient nicht mehr als Fluchtpunkt der Macht über das BegehrenBegehren. Nur noch Gewalt kann das literarische Trauerspiel beenden. Wird Literatur bzw. Kunst dekathartisiert, lassen sich fiktionale und nicht-fiktionale Konfliktkonstellationen nur noch gewaltsam lösen.

Die Katharsis ist keineswegs das, wozu die bürgerlichen Tragiker sie im Sinne eines Versöhnungsprogramms machen möchten, nämlich der Ort behüteter Affektmodellierung, wo sich gleichsam am Locus amoenus die LeidenschaftLeidenschaften das Gefieder putzt. Und gerade hier ist HebbelsHebbel, Friedrich Verzicht auf die Katharsis konsequent. In einer gesellschaftlichen Schicht, der es nicht mehr um Emanzipationsbegehren oder Trauerarbeit an verlorenen Utopien geht, sondern allein um die Stabilisierung von Herrschaftsanteilen, ist Katharsis de facto nicht mehr möglich. Vielleicht war die Katharsis in der Neuzeit schon immer ein Klassenphänomen, man denke nur an die Johann Gottlob Benjamin PfeilPfeil, Johann Gottlob Benjamin zugeschriebene Abhandlung Vom bürgerlichen TrauerspieleVom bürgerlichen Trauerspiele (1755) oder an den Briefwechsel über das TrauerspielBriefwechsel über das Trauerspiel zwischen LessingLessing, Gotthold Ephraim, MendelssohnMendelssohn, Moses und NicolaiNicolai, Friedrich, doch wird spätestens bei Hebbels Maria MagdalenaMaria Magdalena evident, dass es eine Versöhnung zwischen Logos und Leidenschaft, zwischen Macht und BegehrenBegehren in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht geben kann. So ist ich auch Peter SzondisSzondi, Peter Bemerkung zu verstehen, dass Hebbels Denken einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts markiere, „indem es noch den metaphysischen Weg des Idealismus geht, aber ohne das Wissen um den Sinn, in dessen Besitz der Weg einst angetreten wurde.“25 Von hier aus ist es ein weiter Weg bis zu Hans Robert Jauß’Jauß, Hans Robert Bestimmung der Katharsis als eine kommunikative Leistung ästhetischer Erfahrung neben Aisthesis und Poiesis.26 Erst die radikale Vernunftkritik NietzschesNietzsche, Friedrich wird die Möglichkeit einer neuen Funktionsbestimmung der Katharsis eröffnen, mündend in den psychoanalytischen Diskurs BreuersBreuer, Josef und FreudsFreud, Sigmund.27

Der Verzicht Hebbels auf die Katharsis verschleiert also gerade nicht die wahren Gewaltverhältnisse, sondern treibt sie erst deutlich hervor. Dialektisch kann dieser Verzicht gedeutet werden: Das Emanzipationsbegehren ist so saturiert und die Gewaltverhältnisse sind so stabilisiert, dass der Verzicht auf die KatharsisKatharsis bedrohlicher LeidenschaftenLeidenschaften nicht mehr als bedrohlich empfunden wird. Indem HebbelHebbel, Friedrich diesem Verzichtswunsch folgt und auf ein antik-mythologisches Tragödienschema regrediert, deckt er damit zugleich die wahren Gewaltverhältnisse auf. Die kleinbürgerliche Familie reproduziert die politischen Gewaltverhältnisse: Die Emanzipation des Individuums, noch dazu eines weiblichen, ist gegen das Diktat patriarchaler Unvernunft nicht möglich. Das Begehren der Frau findet seinen einzigen Ausweg in der Todessehnsucht. Im Tod bewahrt sich das weibliche Individuum jene Freiheit, mit deren Vollzug sie auch gleich schon erlischt. Spannt man diese Perspektive kulturgeschichtlichKulturgeschichte auf, dann steht „im Anfang“ der Vater-Logos (ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, „im Anfang war das Wort“, wie der Beginn des Johannes-Evangeliums heißt, vgl. Joh 1, 1) und am Ende steht der Tochtertod und nicht der stellvertretende Erlösertod des Gottessohnes, der über die Gottverlassenheit klagt (vgl. „Eli, Eli, lama asabtani“, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, vgl. Mt 27, 46), sondern die Selbsttötung der Schreinerstochter, die von keinem Gott verlassen wird, vielmehr selbst die Welt verlässt.

Klara ist nicht exorzistisches und therapeutisches Objekt des Gotteslogos, es ist auch nicht die Rede von „etliche[n] Frauen, die er [JesusJesus] gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, genannt Magdalena, von der sieben Dämonen ausgefahren waren“ (Lk 8, 2a). Von allen guten Geistern verlassen wird Hebbels Maria Magdalena krank gemacht, nicht von Ferne schaut sie dem Kreuzestod des Sohnes zu, wie die biblische Magdalena, „und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena“ (Mk 15, 40). Sie selbst ist diejenige, die getötet wird. „Gott im Himmel, ich würde mich erbarmen, wenn ich du wäre und du ich!“ (II/5), fleht Klara mit Tränen der Verzweiflung und nicht der Empfindung. Schon BüchnersBüchner, Georg Lenz hielt dem Gottesmann und Papa genannte Oberlin entgegen: „Aber ich, wär’ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten […].“28 Bei Hebbel widerstreitet der Leidenschaft der Tochter der Vaterlogos, Versöhnung gibt es auf der Ebene des Begehrens nicht mehr. Der Leidenschaftsdiskurs ist nun einem Gewaltdiskurs eingeschrieben.

Schon 1934 arbeitete Leo LöwenthalLöwenthal, Leo diese Form der RezeptionRezeptionsanalyse heraus. Sie diene dem „Studium derjenigen Faktoren […], die über die bloße Machtapparatur hinaus durch ihre psychische Gewalt eine gesellschaftlich konservierende und retardierende Funktion ausüben“29. Allgemein versteht Löwenthal Kunst und Religion als diejenigen gesellschaftlich produzierten affektiven Ausdrucksformen, „in denen sich mehr oder minder intensiv entrechtete Schichten mit der sozialen Wirklichkeit abzufinden suchen und andere den Triumph in ihr verklären“30.

Klara ist Delinquentin des Vaterwortes, noch bevor sie um ihre Schwangerschaft weiß.

„AristotelesAristoteles hat auf die dramatische Kunst vielleicht noch schlimmer eingewirkt durch seine Bestimmung, daß die Tragödie FurchtFurcht und MitleidMitleid erwecken solle, als durch seine Einheiten. Und doch ist jene richtig, wenn man nur eine Beschreibung des Gemütszustands, den die TragödieTragödie hervorbringen muß, falls sie echt ist, nicht für die Definition ihres Zwecks hält. Allerdings muß die Tragödie Furcht erregen, denn wenn sie es nicht tut, so ist dies ein Beweis, daß sie aus nichtigen Elementen aufgebaut ist, und wenn sich zu dieser Furcht nicht Mitleid gesellt, so zeigt es an, daß die dargestellten Charaktere oder die Situationen, in die sie hineingeraten, sich vom Menschlichen und vom Möglichen oder doch Wahrscheinlichen zu weit entfernen“31.

Dies notiert HebbelHebbel, Friedrich in sein Tagebuch im Dezember 1845 und wenig später nennt er Aristoteles in seiner Rezension des 1847 erschienenen Briefwechsels zwischen SchillerSchiller, Friedrich und KörnerKörner, Christian Gottfried immerhin wieder den „größte[n] Kunstrichter aller Zeiten“32, übrigens ist auch dies eine abgegriffene Formel aus dem aufgeklärten poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Kann dies als ein später Widerruf Hebbels gelesen werden? Wird hier nicht doch wieder die KatharsisKatharsis a tergo eingeführt? Die Abwesenheit des Wortes ist seine Signifikanz: Die Evokation von Furcht und Mitleid wird genannt, nicht aber deren oder anderer Leidenschaften Katharsis.

Die Einsicht in das tragische Geschehen, die Suche nach jener Notwendigkeit, von der Hebbel im Vorwort zur Maria MagdalenaVorwort zur Maria Magdalena spricht, kann nicht der Logos vermitteln. Die Worte haben ihre Eindeutigkeit innerhalb einer aufgeklärtenAufklärung Vernunftordnung verloren, die traditionell hermeneutische Suche nach SinnSinn muss erfolglos bleiben, da es keinen Sinn mehr gibt. Die „Rebellion im Kopf“ (III/3), von der Leonhard spricht, betrifft nicht den rebellischen Kopf, der die Rebellion gegen jene Gewaltverhältnisse richtet, die erst die Kopf- und Vernunftlosigkeit produzieren. Nicht die LeidenschaftenLeidenschaften, wie es das aufgeklärte Bürgerliche TrauerspielBürgerliches Trauerspiel noch glaubte, bedrohen die Autonomie des Individuums und dessen Vernünftigkeit, sondern allein die sozialen und familialen Gewaltverhältnisse sind es, die diese Leidenschaften kriminalisieren. Die Angst des Vaters vor der gesellschaftlichen Stigmatisierung, Großvater eines unehelichen Enkelkinds zu sein, ist größer als die Furcht vor dem Selbstmord der Tochter. In der kleinbürgerlichen Familie gibt es nicht mehr den zärtlichen Vater und die zärtliche Tochter, wie in der empfindsamenEmpfindsamkeit Literatur der Aufklärung. Umso signifikanter sind die Strukturhomologien zwischen LessingsLessing, Gotthold Ephraim Bürgerlichem Trauerspiel Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson und der Maria MagdalenaMaria Magdalena. Die „Vorrechte der väterlichen Huld“33 bezeichnen eine generöse Haltung, die der Schreinermeister Anton – Repräsentant der Signifikanten A und O, Alpha und Omega, des Anfangs und des Endes – nicht kennt. Hingegen „die Rechte der väterlichen Gewalt gegen das Kind brauchen“34, wie es der in die Freundschaft – und das soll in Lessings Diskurs besagen: Gleichheit – entlassene Diener Sir William Sampsons Waitwell gegenüber Sara formuliert, das ist ein Recht, auf das nicht verzichtet werden kann, weil nur dies die Ordnung der patriarchalen Familien- und Gesellschaftsform sichern hilft. In dreifacher Hinsicht ist der Vater Herrschaftszentrum patriarchaler Gewaltverhältnisse: Erstens in der Zweierbeziehung zwischen Mann und Frau, zweitens im binnenfamiliären Vater-Kind-Verhältnis und drittens in der sozialen Herr-Knecht-Opposition.35 Früh müssen die Mütter aus dem empfindsamen Figurenensemble ausscheiden, da sie eigentlich keine Funktion erfüllen, ihrer dramaturgischen Abwesenheit entspricht ihre gesellschaftliche Unterdrückung. Auch Sara bezichtigt sich selbst, eine „Muttermörderin“ und „vorsätzliche Vatermörderin“36 zu sein. Bei HebbelHebbel, Friedrich wird der Sohn vom Vater des Muttermordes beschuldigt – „der Karl […] hat die Mutter umgebracht“ (I/7) –, während die Tochter „lieber“ „Selbstmörderin“ und „zugleich Kindesmörderin“ (III/4) wird, als „Vatermörderin“ (III/4) zu sein. Allerdings kann in der Maria MagdalenaMaria Magdalena kein gebildeter, will sagen kein vernünftiger Vater wie etwa bei LessingLessing, Gotthold Ephraim einen versöhnlichen Brief an die verstoßene Tochter schreiben und durch den Diener expedieren lassen. HebbelsHebbel, Friedrich Meister Anton vermag seiner Tochter nur einen Schwur abzupressen. Der Vater redet im delirierenden Diskurs der Tochter zur Prostitution zu, „sehr sanft“ (I/7), wie es in der Regieanweisung heißt, mit sanfter Stimme spricht er sein Todesbegehren aus. Das Begehren, durch die Hand der Tochter getötet zu werden, das ist die eigentliche Drohung mit Gewalt.

In der Hebbel-Forschung ist diese Vaterrede mit einem Höchstmaß an Interpretierbarkeit ausgeschöpft worden, so wurde etwa von der „erotische[n] Anziehungskraft Klaras“37 gesprochen. Der kleinbürgerliche Handwerker verschweigt aber das, was er begehrt und das ist die Macht der generellen Verfügbarkeit über den Frauenkörper. Es geht hier also keineswegs um erotische Qualitäten der Tochter, sondern um das Verhältnis von SexualitätSexualität und Macht. Mit Begriffen wie „Liebeserklärung des Vaters“38 und ‚erotische Anziehungskraft‘ droht eben diese Verschränkung nivelliert zu werden. Dass diese auch ökonomische Macht impliziert, verdeutlicht Hebbel selbst. In der 1837 geschriebenen und 1848 veröffentlichten Erzählung Schnock. Ein niederländisches GemäldeSchnock. Ein niederländisches Gemälde heißt es beispielsweise:

„Ja, sie ging zuletzt so weit, daß sie ihre ökonomischen Rücksichten auf meinen eigenen Körper ausdehnte und mir die unnütze Anstrengung desselben, wie sie sich ausdrückte, verbot, mir zum Beispiel die Erfüllung der ehelichen Pflichten nur selten verstattete; vermutlich, weil sie die Kosten einer Umarmung nach Heller und Pfenning abzuschätzen verstand und weil sie nun kalkulierte, daß ich meine Kräfte nützlicher und fruchtbringender im Handwerk anlegen könne, als in der Liebe.“39

Der Vater taumelt bei der Suche nach einem geordneten Diskurs. „Bist du – […], werde – […] es kommt mir so vor, dass du’s schon bist!“ (I/7), das sind die Worte, die er hervorbringt. Die Tochter nimmt, „fast wahnsinnig“ (I/7), Zuflucht beim Leichnam der Mutter. Zynisch ruft der Vater die Tote zur Zeugin des Schwurs: „Schwöre mir, dass du bist, was du sein sollst“ (I/7). Im zweiten Akt hallt dieser Imperativ, die letztmögliche Schwundform eines kategorischen Imperativs kantKant, Immanuelischer Provenienz, drohend nach: „Werde du die beste Tochter!“ (II/1), „werde du ein Weib, wie deine Mutter war“ (II/1), „bleib nur, was du bist, dann ist’s gut!“ (II/1) Und elliptisch dem Todesbegehren des Vaters folgend, beschwört die Tochter den Fluch des eigenen Todes herauf und sie ändert im Bewusstsein des unausweichlichen Todes den Schwur. Die diskursive Gewalt des Vaters reicht nur bis zum tragenden Verb, das sie unverändert vom Vater übernimmt („schwöre“), die Befehlsform – der Befehl ist die Wort gewordene Gewalt – und die Ich-Form, in beiden Fällen ist das Subjekt zugleich das Objekt der Gewalt, das Begehren lässt sie in jedem Wort einsilbig und zweisilbig die Vokale ihres eigentlichen und ihres uneigentlichen Namens, ihrer Herkunft und ihrer Bestimmung, reproduzieren. „Ich“ – Maria, „dir“ – Maria, „dass“ – Klara, „ich“ – Maria, „dir“ – Maria, „nie“ – Maria, „Schande“ – Klara, „machen“ – Klara, „will“ – Maria (vgl. II/1). Das Begehren antizipiert die Verwandlung des bürgerlichen Namens in den Namen der Todesbestimmung.40 Das Ausrufungszeichen, in dem die Phallozentrik der väterlichen Satzzeichen kulminiert, wird gebrochen. Die horizontale Lage der Bindestriche, die den Schwur der Tochter durchstreichen, vollzieht die drohende Ökonomisierung des Tochterleibes nach und kämpft zugleich mit dem BegehrenBegehren des Vatermords, dem angedeuteten Ende der Phallokratie, eingekerkert aber zwischen dem Satzsubjekt „Ich“ und dem Hilfsverb des Nebensatzes, nochmals die Willensfreiheit eines autonomen Ichs beschwörend. Das abschließende Ausrufungszeichen desavouiert aber auch diese als Objekt und Opfer der väterlichen Gewalt. In der Reproduktion des phallozentrischen SymbolsSymbol wendet sich das Vatermordbegehren gegen den eigenen Leib.41 Zufrieden ist der Vater mit dem Sieg väterlicher Gewalt („Gut!“, I/7) und setzt sich den Hut auf (vgl. I/7).

Heinrich Theodor RötscherRötscher, Heinrich Theodor schreibt 1848 über HebbelsHebbel, Friedrich Maria MagdalenaMaria Magdalena, dass zwar die Ordnung des alten Moralgesetzes erschüttert, noch nicht aber die „neue Ordnung der Dinge“, die durch eine „freie Sittlichkeit“ gestiftet werde, mitgegeben sei, „in der das bisherige Urtheil über die Handlungen der Menschen, wie die gesammten gesellschaftlichen Konflikte eine durchaus andere Gestalt gewinnen werden. Wir, die Hörer und Leser, ziehen allerdings diesen Schluß, aber er ist nur ein Produkt unserer Reflexion, das wir erst durch Schlüsse gewinnen […].“42 Vor dem Hintergrund der Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere der Philosophie HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich, wurde dies zutreffend gedeutet, dass es sich dabei um den für das 19. Jahrhundert signifikanten ästhetischen Begriff der Versöhnung handelt.43 Allerdings wird damit den Begriffen der Versöhnung und der KatharsisKatharsis – diese sei das Versöhnungsproblem – an dieser Stelle eine Synonymie unterschoben, die diese nicht habenPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles). Die Katharsis, die als gattungsspezifisches Theorem in der aristotelischenAristoteles Poetik begründet ist und im ausgehenden 18. Jahrhundert zum sozialpsychologischen Interpretament von Literatur bzw. Kunst erweitert wird, hat Mitte der 1820er-Jahre ihre literarische Relevanz und literaturtheoretische Dignität längst verloren. Das Paradigma der Katharsis von Leidenschaften ist abgelöst durch großräumige geschichtsphilosophische Entitäten. Daher kann ein kleinbürgerliches Trauerspiel auch nicht mehr eine Art von Katharsisangebot machen, sondern nur noch, wenn man die geschichtsphilosophische und historisierende Überformung aufbricht, die sozialen und familialen Verhältnisse so darstellen, wie sie sind. Keine Katharsis befreit von LeidenschaftenLeidenschaften, allein Gewalt liquidiert sie. Benötigte das bürgerliche Emanzipationsbegehren des 18. Jahrhunderts noch die Katharsis, um mit der eigenen Misere fertigzuwerden, so will der Kleinbürger des 19. Jahrhunderts, dem eine geschichtsphilosophisch-teleologische Umformung versagt bleibt, nicht mehr daran erinnert werden, und der Bürger verbindet sich die Augen mit dem einst empfindsamenEmpfindsamkeit Requisit (auch weinender Väter!), der Kleinbürger spielt die Tragödie zu Ende, eben gewaltsam.

HebbelsHebbel, Friedrich Maria MagdalenaMaria Magdalena ist die adäquate Ausdrucksform eines Kleinbürgertums in dem Sinne, dass es „Gelegenheit“ gibt, „in die Mikrologien eines Daseins hineinzuschauen“,44 wie es in SchnockSchnock. Ein niederländisches Gemälde heißt. Dieses Kleinbürgertum hat sein Emanzipationsbegehren endgültig aufgegeben, es besitzt nun weder ökonomische Macht noch partizipiert an politischer Macht. Für das BegehrenBegehren nach Emanzipation der LeidenschaftenEmanzipation der Leidenschaften ist hier kein Raum mehr, man hat sich mit den bestehenden Gewaltverhältnissen arrangiert. Insofern ist HebbelsHebbel, Friedrich Drama Prototyp eines kleinbürgerlichen Trauerspiels,45 in dem die Gewalt die Katharsis ersetzt hat, weil das Bürgertum zur herrschenden Macht geworden ist und keiner KatharsisKatharsis mehr bedarf. Denn die Katharsis hält das Bewusstsein von einem Ungenügen wach, von jenen Leidenschaften, aus denen immer noch bedrohlich Rebellion blickt.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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