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Joseph Martin Kraus Tolon (1776)

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Der aus dem Odenwald stammende Dichter und Komponist Joseph Martin KrausKraus, Joseph Martin (1756–1792) veröffentlichte im Jahr 1776 anonym ein Drama mit dem Titel TolonTolon. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen (Frankfurt und Leipzig bey Johann Joachim Keßler). In dem Sammelband Deutsches TheaterDeutsches Theater mit verschiedenen Schauspielen des 18. Jahrhunderts ist in Band 62 als Nr. 3 ein text- und seitenidentischer Nachdruck des Tolon erschienen. Inzwischen wurde auch eine schwedische Übersetzung des Tolon veröffentlicht in der schwedischen Zeitschrift Hesperos, Band 12: Tolon: ett sorgespel i tre akter ([Gusselby:] Ordbrand 2016, 99 Seiten). Weitere Nachdrucke oder Übersetzungen, gar ein Aufführungsdatum sind nicht bekannt. Ob der Tolon von Kraus zum Fundus der typischen Sturm-und-DrangSturm und Drang-Stücke gehört, ist in der Forschung umstritten. Denn diese Frage setzt zum einen voraus Übereinstimmung darin zu erzielen, worin diese definierten Textmerkmale bestehen, zum anderen ist der Tolon bislang kaum bekannt, geschweige denn von der Sturm-und-Drang-Forschung wahrgenommen worden.1

Joseph Martin Kraus wurde am 20. Juni 1756 in Miltenberg am Main geboren.2 1761 zog die Familie nach Buchen im Odenwald, wo sich heute ein Kraus-Museum befindet. Der Vater war kurpfälzischer Beamter, die Familie also katholisch. 1768 ging Kraus nach Mannheim auf die jesuitische Schule und lernte den musikalischen Stil der ‚Mannheimer Schule‘ kennen. Seit dieser Zeit komponierte KrausKraus, Joseph Martin und schrieb Gedichte. Er begann im Januar 1773 ein Jurastudium in Mainz und setzte es zum Jahreswechsel in Erfurt an der zweiten mainzischen Universität fort, bis familiäre Verhältnisse ihn 1775 zwangen, das Studium zu unterbrechen und nach Buchen zurückzukehren. Dem Vater wurden ungerechtfertigte Untreuevorwürfe gemacht, ein drei Jahre dauernder Gerichtsprozess belastete die Familie. Im November 1775 musste Kraus für ein Jahr nach Buchen zurückkehren, um seinen Vater zu unterstützen. Im November 1776 ging Kraus nach Göttingen, um sein Studium fortzusetzen.3 Hier knüpfte er auch Kontakte zu den restlichen Vertretern des Göttinger HainGöttinger Hain, einer Dichtergemeinschaft, die sich im Herbst 1774 wieder aufgelöst hatte und die vor allem dem großen Vorbild KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb huldigte und die Lyrik des Sturm und DrangSturm und Drang maßgeblich prägte.4 Namentlich mit Friedrich Leopold von StolbergStolberg, Friedrich Leopold Graf zu (1750–1818) und dem jungen Johann Friedrich HahnHahn, Johann Friedrich (1753–1779) verband ihn eine enge Freundschaft.5 In diesem Umfeld entstanden auch eigene Gedichte. Welche davon später von ihm in eigenen Liedkompositionen auch vertont wurden, bedarf weiterer exakter Untersuchungen. Im Juni 1778 wanderte er nach Schweden aus, um dort sein Glück als Komponist, Musiker und königlicher Kapellmeister am Hof von Gustav IIIGustav III.. zu finden. Seine musikalisch-literarische Doppelbegabung entschied sich schließlich für die Musik. Er schrieb ein umfangreiches musikalisches Werk, darunter Symphonien, Opern, Kantaten, Lieder, Instrumentalmusik.6 Kraus starb am 15. Dezember 1792 in Stockholm. Dass sein Geburtsjahr das gleiche ist wie dasjenige von MozartMozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791), hat für allerhand bedeutungsvolle Interpretationen genügt. Auch die Titulierung als sogenannter Odenwälder Mozart oder als Badener Mozart trug mit dazu bei, den Musiker und Komponisten KrausKraus, Joseph Martin sehr gründlich zu erforschen.7 Anders steht es um den Literaten Kraus, der in den für die deutsche Literaturgeschichte so umwälzenden Jahren zwischen 1770 und 1776 versuchte, sich literarisch zu positionieren, durch eigene Gedichte, durch eine Satire, durch ein Drama und durch den musikkritischen Almanach Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777 (Frankfurt a.M. 1777. Faksimilenachdruck hgg. v. Friedrich W. Riedel 1977).8 Die Autorschaft für den anonym erschienenen, ebenfalls musikkritischen Almanach Wahrheiten die Musik betreffendWahrheiten die Musik betreffend […] (Frankfurt a.M. 1779) konnte eindeutig geklärt werden, Kraus ist nicht der Verfasser, wie gelegentlich noch zu lesen ist, sondern der Weimarer Hofkapellmeister Ernst Wilhelm WolfWolf, Ernst Wilhelm (1735–1792).9

Die frühen literarischen Texte – seine späteren Textvertonungen und Libretti werden hier nicht mitgerechnet – von Joseph Martin Kraus sind in ihrer literaturhistorischen Bedeutung nach wie vor nur wenig erhellt. Das beginnt schon mit einem Gedichtband, der heute als verschollen gilt und dessen Titel nicht verifiziert werden konnte. Hieß das Büchlein tatsächlich Versuch in SchäfersgedichtenVersuch in Schäfersgedichten, wie in der Kraus-Forschung tradiert wird, und erschien es in Mainz im Jahr 1773? Oder hieß es vielleicht doch Idyllen? Oder trugen die Gedichte einen völlig anderen Titel? Gab es ein Autodafé von Kraus in Stockholm? Wollte er von dieser Arbeit nichts mehr wissen? Immerhin hat er einige eigene Gedichte und ähnliche Gedichte anderer vertont. Erhalten geblieben ist dieser Gedichtband nicht, selbst nicht in Kraus’ eigenem Nachlass. Es sollen insgesamt 15 Schäfergedichte gewesen sein, immerhin hat am 5. Oktober 1800 sein ehemaliger jesuitischer Musiklehrer Pater Alexander KeckKeck, Alexander (1724–1804) bestätigt, dass er damals ein Bändchen mit den Gedichten von Kraus erhalten hatte.10

Der Versuch in SchäfersgedichtenVersuch in Schäfersgedichten bleibt weiterhin geheimnisumwittert. Denn nicht auszuschließen ist, dass es sich um eine philologische Mär handelt. Die Fakten sind dürr, wir wissen lediglich, dass KrausKraus, Joseph Martin eine Handvoll Gedichte in Art traditioneller Schäferlyrik geschrieben hat und diese in Mainz 1773 drucken ließ. Allerdings macht der Titel stutzig. Denn dieser Titel wäre die namensgleiche Reprise des Gedichtbands Versuch von Schäfer-Gedichten und andern poëtischen AusarbeitungenVersuch von Schäfer-Gedichten und andern poëtischen Ausarbeitungen (o.O. [Dresden] 1744) von Johann Christoph RostRost, Johann Christoph (1717–1765). Nach der Erstauflage von 1744 folgten mehrere Nachdrucke und Neuauflagen, so in den Jahren 1748, 1751, 1760, 1768 und zuletzt in einer neuen, vermehrten Auflage 1778. Einem „I. Krauß“ wird ein Buch mit dem Titel Versuch in Schäfer-Gedichten (Maynz 1774 [!]) zugeschrieben. Quelle ist das Buch Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod (Bd. 2, Berlin 1798, S. 193) von Erduin Julius KochKoch, Erduin Julius. Wir wissen nicht, ob ihm ein Original vorlag oder ob auch er diese Daten nur vom Hörensagen kannte. Nach heutigem Stand der Wissenschaft lässt sich das nicht mehr rekonstruieren, man ist auf Zufallsfunde angewiesen. Da die Titelgleichheit von Rosts Gedichtband und Kraus’ Gedichtband also zu auffällig ist, muss man so lange von einer Verwechslung oder einem gravierenden Irrtum der Überlieferung ausgehen, bis tatsächlich der Gedichtband von Kraus eines Tages auftauchen und zu autopsieren sein wird.

Der Musiker und Musikkritiker Birger Anrep-Nordin (1888–1946) stützt sich in seiner schwedischen Dissertation Studien über Josef Martin Kraus (Stockholm 1924) auf Samuel SilverstolpeSilverstolpe, Samuel (1769–1851) und dessen Kraus-Biografie, die auf Schwedisch 1833 in Stockholm erschienen ist.11 Aus der Beschreibung Silverstolpes, dass es sich bei Kraus’ Gedichten um Idyllen handle und Kraus selbst sie einen „Versuch“ genannt hatte, ist im Laufe der Überlieferungsgeschichte mutmaßlich der an Rost angelehnte Titel Versuch in Schäfersgedichten geworden. Nach Anrep-Nordin erscheint der Titel in der Wissenschaft mit unterschiedlichen Schreibweisen, die aber lediglich auf orthografischen Ungenauigkeiten beruhen. Dass SilverstolpeSilverstolpe, Samuel selbst ein Exemplar vorgelegen hat, kann angenommen werden. Der Versuch, in seinem Nachlass und dessen Umfeld fündig zu werden, blieb ohne Ergebnis. Silverstolpe spricht jedenfalls von 15 Idyllen und 47 Druckseiten. Er schreibt:

„Zu dieser Zeit überließ er sich zum ersten Mal dem Reiz, Schriftsteller zu sein. Er schrieb damals die Idyllen zusammen, 15 an der Zahl, welche Herr Klein in seinem Brief erwähnt, und ließ sie 1773 in Maynz [!] mit seinem Namen auf dem Titelblatt drucken. Sie ergaben 47 Seiten in kleinem Oktavformat. In seinem Vorwort bat er um ‚Nachsicht, wenn er sich bei dieser ersten Arbeit, mit der er sich in die Welt hinauswagte, gegen die Sprache und gegen das Natürliche versündigt habe, das in Idyllen herrschen sollte.‘ – Wenn man bedenkt, dass er sich im Alter von 17 Jahren an eine der heikelsten Gesangsarten sogar für den ungebundenen Stil wagte, fürchtet man doch, dass seine Entschuldigung in letzter Hinsicht nötig ist. Aber stattdessen erkennt man in diesem sicherlich auf sein Betreiben so genannten Versuch alle Spuren der einfachen und edlen Eingebungen der Natur. Die Einfalt und Zufriedenheit des tugendhaften Hirtenlebens durchdringt die kleinen Geschichten; sie sind sozusagen planlos und im Ausdruck frei von allem Anspruch. Es ist erwähnenswert, dass die gleiche Reinheit der Empfindung sich in seinen zwei und drei Jahre später gewagten Musikkompositionen für die Kirche offenbart, welche mit ihrer geringeren Vollkommenheit bezeugen, dass Tonkunst und schöne Literatur bei KrausKraus, Joseph Martin die gleiche Urquelle hatten, die Natur.“12

Gemeinhin bezeichnet man die Periode der Jahre 1770 bis 1776 in der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte als die Hochphase des Sturm und DrangSturm und Drang.13 1776 erscheint das Drama TolonTolon, KrausKraus, Joseph Martin ist eindeutig der Verfasser, obwohl auch dieser Text – wie in der Zeit üblich – anonym erschienen ist. Allerdings liegen hier Briefe von Kraus an seine Eltern vor, in denen er auf das Drama Bezug nimmt.14 Der äußere Anlass zur Abfassung des Dramas bestand in dem ungerechtfertigten Korruptionsprozess gegen seinen Vater. Diese Beschuldigung hing mit dem Mainzer politischen Regierungswechsel von Kurfürst Wenzel von Breidbach-Bürresheim zu Friedrich Carl Joseph von ErthalErthal, Friedrich Carl Joseph von (1719–1802) 1774 zusammen.15 Dem Vater wurde Bestechlichkeit im Amt vorgeworfen. In KrausKraus, Joseph Martin’ Drama bilden sich diese kleinstaatlichen Verhältnisse fast realgetreu ab. Die Haupt- und Titelfigur Tolon ist Minister an einem typischen Duodezfürstentum des 18. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit seiner Kleinstaaterei. Tolon wird von seinen politischen Gegnern eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat und das ihn kurzerhand seines Amtes enthebt und ihn zur Flucht zwingt. Auch in diesem Stück wird, wie in vielen anderen der Zeit, an der politischen Auffassung eines aufgeklärten Absolutismus festgehalten, obwohl sich durchaus auch reforminspirierte Hinweise finden lassen. Aber für Tolon ist ein Fürst von Natur aus gut, er wird nur schlecht beraten. Dies ist ein diskursives Erklärungsmuster, das sich in zahlreichen Publikationen der Zeit findet. Erst mit der Französischen RevolutionFranzösische Revolution wird sich dieses Muster ändern.

Man hat in der Forschung auf das Vorbild von Johann Anton LeisewitzLeisewitz, Johann Anton (1752–1806) mit seinem Drama Julius von TarentJulius von Tarent (1776 gedruckt, bereits 1774 entstanden) und seine Bedeutung für den TolonTolon hingewiesen.16 Allerdings kann dieser Text, der als wichtiges Drama der Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang gilt, kaum herangezogen werden, denn Kraus wählt die Gegenwart seiner Zeit als Bezugshintergrund und verlegt die Handlung seines Schauspiels nicht in eine weit zurückliegende Vergangenheit wie Leisewitz, dessen Drama in der gleichnamigen Hauptstadt des italienischen Fürstentums Tarent am Ende des 15. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Auch spielt das für Leisewitz zentrale Thema des Bruderkonflikts und schließlich des Brudermords als ein zentrales Thema der Sturm-und-Drang-Literatur bei KrausKraus, Joseph Martin keine Rolle. Inwiefern ist dann der TolonTolon ein Drama des Sturm und DrangSturm und Drang? Der Text bietet zahlreiche strukturelle, sprachliche und diskursive Anhaltspunkte (eine eingehende Analyse fehlt allerdings bis heute).

Die erste Szene des Stücks spielt in einer Bauernhütte und evoziert damit bereits durch die Requisite eine soziale Thematik. Tolon, immerhin „gewesener Minister an dem Hofe eines Prinzens“ (S. 6), packt seine Reisesachen aus, darunter eine versiegelte Schrift. Seine ersten Worte geben zu erkennen, dass er sich in seinem Elternhaus befindet, er selbst also aus einer Bauernfamilie stammt. Dieser Herkunftsverweis ist insofern wichtig, als er auf die grundsätzliche Möglichkeit einer sozialen Karriere in diesem Fürstentum verweist. Auch ein Bauer kann Minister werden, eine aristokratische Abstammung ist keineswegs zwingend notwendig. Tolon bittet seine Mutter, das versiegelte Papier unter dem Getreide zu verstecken. Damit macht der Sohn die Mutter zur Mitwisserin und bringt sie wissentlich in Gefahr, denn er ist auf der Flucht. Im Gegensatz zu den meisten Bürgerlichen Trauerspielen der Zeit ist im Tolon die Mutter am Leben, die bäuerliche Kleinfamilie also intakt.17 Allerdings könnte die Anrede „Mutter“ (S. 7) durch Tolon grundsätzlich auch als eine allgemeine zeitgemäße Anrede gelesen werden und würde dann nicht als Beleg für eine familiäre Filiation gelten können. Dass sie Tolon mit „mein Herr“ (S. 7) anspricht, könnte darauf hindeuten. Tolon verpflichtet sie zur Verschwiegenheit. Daraufhin vernichtet er verschiedene Papiere. Sein Monolog im zweiten Auftritt reproduziert sprachlich eine typische Interjektion der Sturm-und-Drang-Dramen. Kaum ein Dramenheld dieses Typs kommt ohne sie aus: „Ha!“ (S. 8)18 Tolon räsoniert über seinen Sturz, er ist Opfer einer politischen Intrige geworden, durch die er die Gnade des Fürsten und die Möglichkeit, direkt mit ihm zu kommunizieren, verloren hat. Er erwähnt seine Güter, die er nun verlieren wird, und unterstreicht damit nochmals seine privilegierte soziale Stellung. Damit ist also von Beginn an eng der literarische mit dem politischen Diskurs verflochten. Dann tritt Amalie auf. Dieser Name entfaltet mehrere Anbindungsmöglichkeiten. In Benjamin PfeilsPfeil, Johann Gottlob Benjamin (1732–1800) Drama Lucie WoodvilLucie Woodvil (1756), das neben LessingLessing, Gotthold Ephraims Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) als der Prototyp des deutschsprachigen empfindsamenEmpfindsamkeit Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel gilt, taucht dieser Name auf. Möglicherweise hat Kraus sogar auf PfeilsPfeil, Johann Gottlob Benjamin Amalie-Figur Bezug genommen. Das empfindsame Vorbild der literarischen Amalie-Figur ist aber in Christian Fürchtegott GellertsGellert, Christian Fürchtegott (1715–1769) Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von G***Das Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1747/48) zu finden. Da es sich um einen Epochenroman der aufgeklärten Empfindsamkeit handelt, kann angenommen werden, dass er KrausKraus, Joseph Martin oder zumindest dem schulischen Umfeld in Mannheim nicht unbekannt geblieben war. Daneben ist Amalie ein Vorname adeliger Regentinnen, der zur Zeit von Kraus’ Beschäftigung mit dem TolonTolon-Material manche Aristokratin zierte. Die deutsche Übersetzung von Voltaires Tragödie Amalie erschien 1773. Und das anonyme Drama Amalie, unglücklich durch ihre StiefmutterAmalie, unglücklich durch ihre Stiefmutter (1777) nimmt den Namen in der Titelfigur wieder auf. Schließlich ist eine Amalie in SchillersSchiller, Friedrich RäubernDie Räuber (1781) die Geliebte des Räuberhauptmanns Karl von Moor. Amalie, oder einige Züge der wahren GrosmuthAmalie, oder einige Züge der wahren Grosmuth (1770) von Christoph Heinrich KornKorn, Christoph Heinrich (1726–1783) runden die Bezugsmöglichkeiten ab.

Der Name Tolon hingegen gibt Rätsel auf, möglicherweise ist ihm Kraus in einem der Reiseberichte über die griechische Stadt Tolon begegnet, vielleicht war ihm aber auch bekannt, dass Tolon auch ein spanischer Familienname ist. Unabhängig davon kann das Wort Tolon auch als ein doppeltes Anagramm aus Not und Ton gelesen werden. Mit dem Wort Ton läge der Verweis auf die musikalische Begabung des Autors vor, mit dem Wort Not wäre der mutmaßlich entscheidende Grund zur Entstehung des Dramas eingefangen, die unberechtigten Korruptionsvorwürfe gegen den Vater. Aber auch diese Deutung ist möglich: Der Name Tolon lässt sich aus dem Wort Revolution anagrammieren und enthielte dann ein revolutionäres Potenzial, das aber nicht zur Entfaltung kommt.

In der Bauernstube begegnet Tolon seiner Geliebten Amalie, die dort auf der Suche nach ihm Unterschlupf gefunden hat. Sie versichern sich ihrer gegenseitigen Liebe, womit das Motiv der Mitwisserschaft und Mittäterschaft eine emotionale Bindung erfährt. Denn Amalie ist die Tochter von Jennemer, „eines vornehmen Hofbedienten“ (S. 6), der Teil der Verschwörung gegen Tolon ist. Aber Amalie hat die Absichten ihres Vaters durchschaut, der sie mit Barwill, einem Regimentsoberst und Kopf der Verschwörung, verheiraten will. In dem Wortwechsel zwischen Amalie und Tolon findet sich manch ein Satz, der einem Zitat aus einem Lehrbuch über moralisch tugendhaftes Verhalten gleicht. Tolon durchbricht ein klassisches GenderstereotypGenderstereotyp, wenn er wörtlich für sich EmpfindsamkeitEmpfindsamkeit reklamiert, die darin besteht, dass er wegen „seiner Redlichkeit“ (S. 13) leiden muss. Die Welt hält er für ungerecht, da sie die Menschen nach ihrem Äußeren, ihrem sozialen Status oder politischen Einfluss beurteilt. Amalies Vater ist ein Beispiel dafür, er hat die Hochachtung für Tolon in dem Moment verloren, als Tolon seinen privilegierten Status auf der politischen Bühne einbüßt. Amalie wirft er sogar vor, sie halte die Welt für besser, als sie tatsächlich sei. So gesehen kann es sich bei dieser Welt nicht um die beste aller möglichen Welten handeln. KrausKraus, Joseph Martin spielt an dieser Stelle ironisch mit der leibnizschenLeibniz, Gottfried Wilhelm Theodizee. Für Tolon ist das Fühlen und in dessen ethischer Erweiterung das Mitfühlen und MitleidenMitleiden die Voraussetzung dafür, dass seine Unschuld erkannt wird. Wer ihn für schuldig hält, verfügt nicht über diese sozial-ethische Kompetenz.

Im vierten Auftritt zitiert Kraus die passionsgeschichtliche Ikonografie. Jennemer tritt in die Bauernstube, umarmt Tolon, nennt ihn seinen Freund und küsst ihn. Doch es ist nicht der zeitgenössisch übliche empfindsame Freundschaftskuss, sondern ein Judaskuss. Die Freundschaft, deren sich Tolon bei Jennemer versichert, ist geheuchelt. Das Gespräch kreist um den Begriff des Mitleidens, Tolon fordert „ein wirksames Mitleiden“ (S. 16), also ein Mitleiden, das auch konkretes Handeln zur Folge hat. Tolon ist sich keiner Schuld bewusst, und der Autor lässt die Leser auch immer noch im Unklaren darüber, was denn nun eigentlich vorgefallen ist. Allerdings erhebt Tolon sein Unrechtsbewusstsein zum Selbststolz, er sei stolz auf seine Redlichkeit, lässt er Jennemer wissen. Er gleicht in dieser Haltung sowohl einem lessingschen Prototypen tugendhaften Handelns als auch der Unbeugsamkeit eines Sturm-und-Drang-Sturm und DrangHelden. Jennemer bestätigt sein Versprechen, einer Heirat zwischen Amalie und Tolon zuzustimmen, er fordert von seiner Tochter Vertrauen in sein väterliches Wort. Als es klopft, erschrecken alle außer Jennemer. Die Affektsprache wird von Kraus in den Regieanweisungen sehr konkret definiert, was gelegentlich bis an die Unspielbarkeit grenzt, wenn sich beispielsweise die Gesichtsfarbe einer Figur verändern soll, – so etwa in dieser Regieanweisung, wo es über Tolon heißt: „man kann an den Abändrungen der Farbe in seinem Gesichte wahrnehmen, was in ihm vorgeht“ (S. 41) – und was als Hinweis darauf gesehen werden kann, dass es sich um ein Lesedrama handelt. In dieser gattungstypologischen Zuweisung ist ein weiteres Merkmal eines Sturm und Drang-Dramas zu erkennen. Tolon blickt in dieser fünften Szene furchtsam, Amalie erschrocken, Jennemer lächelt und Barwill, der mit einer Soldateska eintritt, sieht Tolon mit wilder Freude an. Der Verrat des Jennemer offenbart sich, er übergibt Tolon als Gefangenen an Barwill und erklärt seine Tochter zu Barwills zukünftiger Frau.

Der zweite Akt zeigt das Gefängnis, in dem Tolon gefangen gehalten wird. In seinem Monolog tituliert er sich nochmals als ein „Rechtschaffener“ (S. 23), der Opfer einer Intrige ist. Die Reflexion über seine beklagenswerte Situation lässt an den Sturm und Drang-DichterSturm und Drang und Journalisten Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791), ebenso eine literarisch-musikalische Doppelbegabung wie KrausKraus, Joseph Martin, denken. Sicherlich hätte Kraus uneingeschränkt diesem enthusiastischen Ausruf Schubarts zugestimmt: „Warum ist doch nicht in jeder Stadt eine Singschule […]!!“19 Schubarts Verhaftung stand im Februar 1777 zu dieser Zeit unmittelbar bevor, anschließend wurde er bis 1787 auf dem Hohenasperg ohne Gerichtsverfahren als Opfer absolutistischer Willkür eingekerkert. Tolon ist in dieser Hinsicht die Antizipation der Verfolgung eines Dichters und Journalisten des Sturm und Drang. Der Versuch, Tolon zu einem falschen Geständnis zu zwingen, scheitert. Stattdessen erkennt er: „Denn einmal haben die Großen die Gewalt über die Kleinern“ (S. 26). Das ist Ausdruck seiner Herrschaftskritik und Standeskritik, er zitiert damit ein wesentliches Merkmal der Literatur des Sturm und Drang. Und Tolon meint damit nicht nur die strukturelle Gewalt, sondern konkret die physische Repression. Tolon gesteht zwei Papiere versteckt zu haben. Er spricht von einem „Geheimniß“ (S. 27), dessen Entdeckung den Sturz des Prinzen bedeuten könnte. Im Laufe dieses Verhörs steigert sich Tolon auch sprachlich zu einem Sturm-und-Drang-Protagonisten, dies wird besonders an dieser Stelle deutlich: „Daß ich Macht gehabt hätte, meinem Verräther die Hirnschale einschlagen zu können. Ich würde von ihrem Blute mit der Hand geschöpft haben – Vielleicht hätte es meinen Durst gelöscht“ (S. 28). Oder später, wenn es heißt: „Blutbegierige! könnte ich mein Herz zerreissen und euch mein Blut ins Gesicht werfen!“ (S. 38) An diesen Textstellen kann sich der Autor Kraus durchaus mit Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) oder Friedrich Maximilian KlingerKlinger, Friedrich Maximilian (1752–1831), dessen Drama Sturm und DrangSturm und Drang (1776) dieser literaturgeschichtlichen Periode den Namen gab, messen lassen, was die Sprachgewalt und Drastik der Metaphern betrifft.

Tolon analysiert seine Situation als eine „Krankheit“, die „unheilbar“ sei (S. 29). Damit eröffnet er den Blick auf eine psychopathologische Dimension absolutistischer Herrschaftswillkür und erfüllt ein wesentliches Merkmal einer Sturm-und-DrangSturm und Drang-Dramatik, es geht um das psychische Leiden des Protagonisten, das repräsentativ verstanden wird als das Leiden jener von Tolon so bezeichneten „Kleinern“, gemeint sind also die Kleinbürger, Bauern und Unterschichtigen. GoetheGoethe, Johann Wolfgang hat in der Verschränkung des herrschaftskritischen Diskurses mit dem psychopathologischen Diskurs im Leiden eines Protagonisten literarisch den Weg bereitet, durch sein Drama Götz von BerlichingenGötz von Berlichingen (1773) und vor allem durch seinen Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers (1774), in dem Werthers Leiden als Krankheit zum Tode bezeichnet wird. Allerdings ist Tolon auch durchaus naiv, wenn er in der vierten Szene des zweiten Akts betont, dass er es für unmöglich gehalten hätte, wie niederträchtig und intrigant sich Menschen verhalten können. Barwill geriert sich als Tolons Helfer, doch dieser fällt nicht darauf herein, er nennt dessen Verhalten ein „verstelltes Mitleiden“ (S. 32). Barwill eröffnet Tolon, dass es Volkes Wille sei, ihn tot zu sehen. Barwill will den Prinzen um Gnade für Tolon bitten, doch dieser wehrt kämpferisch ab, er wolle nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit. Tolon ist der Repräsentant des Kampfes um Gerechtigkeit, auch wenn es ausschließlich um seine individuelle Gerechtigkeit und Freiheit geht, und der Schritt zum Selbsthelfertum als einem typischen Merkmal des Sturm und Drang liegt nahe. Tolon droht Barwill an ihn zu ermorden – und zwar nach seinem Tode. Nicht mehr Mitleiden, sondern Rache wird sein Handlungsantrieb. Nun entwickelt sich eine Spiegelungssituation. Hat Tolon bislang die mangelnde Vorurteilslosigkeit des Prinzen beklagt, so wirft ihm nun Barwill vor, selbst von einem „schrecklichen Vorurtheil eingenommen“ (S. 35) zu sein. Vorurteilskritik ist das wesentliche Movens der europäischen AufklärungAufklärung, und so wundert es nicht, dass Barwill von Tolon imperativisch verlangt: „Denken sie!“ (S. 35) In der fünften Szene wird Tolon das Todesurteil des Prinzen überstellt, das als Ausdruck seiner Gnade deklariert wird. Deutlich hat hier der Autor KrausKraus, Joseph Martin seine Kritik an der zeitgenössischen herrschenden Rechtspraxis formuliert, ein Urteil ohne Anhörung und Prozess zu fällen. Auch wenn Kraus seine eigene familiäre Situation zum Anlass genommen hat, dies so explizit auszuführen und zu kritisieren, so ist es doch auch wieder in erschreckender Weise die Vorwegnahme des Schicksals seines Autorkollegen SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel. Während er an einem Brief an den Prinzen schreibt, betritt Amalie das Gefängnis, bringt ihm die Schlüssel und sagt: „Sie sind frei“ (S. 42). Amalie wird also zur Befreierin Tolons. Doch Barwill trifft mit einer Wache ein und hindert das Paar an der endgültigen Flucht. Die Regieanweisungen nehmen am Ende der siebten und zu Beginn der achten Szene so an Umfang zu, dass sie fast schon als ein kleiner Erzählkommentar zum Geschehen selbstständig gelesen werden können. Tolon gelingt es schließlich zu entkommen.

Der dritte Akt spielt im fürstlichen Garten, ein Gebüsch im Vordergrund dient einem räuberischen Ambiente und zugleich als Versteck für Tolon und seinen Diener, der eine Handfeuerwaffe („Terzerol“, S. 45) und zwei Stichwaffen („Stilet“ und „Dolch“, S. 45) mitgenommen hat. Tolon will das Schicksal Amaliens mit Hilfe seines Dieners erfragen lassen. Sprachlich bemerkenswert ist am Ende der ersten Szene die Verwendung des Substantivs „Zurückkehre“, ebenso wie am Ende des Stücks das Wort „Erbarmniß“ (S. 65). Das sind sprachliche Freiheiten, die sich der Autor nimmt, er unterstreicht damit seine Souveränität, sich über grammatische und lexikalische Konventionen hinwegzusetzen. Dass dies die zeitgenössische Kritik anders sah, verwundert nicht (s. die beiden Rezensionen in diesem Band). Die „Gerechtigkeit meiner Sache“ (S. 46), von der Tolon spricht, hat sich nun in die Sache eines Gerechten mit durchaus biblischem Pathos gewandelt. Auch in dieser Überzeichnung der Figur Tolon folgt das Stück einem ‚Drehbuch‘ des Sturm und DrangSturm und Drang. Tolon versteckt sich, um sich zu rächen, Gerechtigkeit bedeutet für ihn nicht mehr Rehabilitation, sondern Rache. Anders als in GoetheGoethe, Johann Wolfgangs Sesenheimer LiedernSesenheimer Lieder, wo in einem Liebesgedicht mit dem späteren Titel Willkomm und AbschiedWillkomm und Abschied die bekannten Worte „Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde / Und fort […]“20 (1775) der physiologische Ausdruck der Liebe sind, legt Tolon die Hand auf sein Herz, fühlt den wilden Herzschlag und empfindet schlicht „Angst“ (S. 46). Wie viele Tragödienprotagonisten mag es geben, die offen – auf der Bühne! – von ihrer „Angst“ sprechen? Kraus geht hier einen völlig eigenen Weg, er verliert keineswegs das psychologische Profil seiner Figur aus dem Auge, trotz der plakativen Übertreibungen, und er bereitet einer mit Blick auf die ModerneModerne zunehmend wichtiger werdenden Binnenpsychologisierung der Protagonisten den Weg. In diesem langen Monolog am Anfang der zweiten Szene liefert Tolon nun auch endgültig seinen Erklärungsgrund, weshalb sich der Prinz gegen ihn stellte, Schuld an allem habe dessen „Leichtglaubigkeit“ (S. 47). Dieses Diskursmuster, mit dem der absolutistische Herrscher letztendlich stets verteidigt wurde und sein unrechtmäßiges Handeln auf seine schlechten Berater oder eben auf seine eigene Leichtgläubigkeit zurückgeführt wurde, zitiert also auch KrausKraus, Joseph Martin. Doch er fügt diesem Muster eine erstaunliche Anklage an, wenn er Tolon sagen lässt: „wer giebt ihm ein Recht, meine Tage zu verkürzen?“ (S. 47) Damit stellt sich KrausKraus, Joseph Martin gegen die Todesstrafe und er klagt mit Tolons Worten die Macht an, die es dem absolutistischen Herrscher erlaube, auch seine „Bürger verderben“ (S. 47) zu können. Tolon belauscht aus seinem Versteck heraus das Gespräch zwischen dem Notar und Jennemer, er erfährt, dass der Prinz das gefälschte Geständnis durchschaut habe und die Vorwürfe gegen Tolon frei erfunden seien. Er habe, da er ihn für tot halte, das Geständnisprotokoll weinend gelesen. Der Prinz erweist sich damit als ein ebenso absolutistischer wie empfindsamerEmpfindsamkeit Landesvater. Der Notar, der dies berichtet, erkennt seinen Fehler, dass er sich in eine Intrige hat einspannen lassen, und macht Jennemer gegenüber seinen angeborenen moralischen Sinn für das Gute und das Schlechte geltend (dies ist durchaus eine Anspielung von Kraus auf die zeitgenössische Moral-Sense-TheoryMoral-Sense-Theory), es sei seine Natur, mit jedem Unglücklichen Mitleiden zu fühlen (vgl. S. 50). Damit verweist Kraus zum wiederholten Male in unterschiedlich verteilten Figurenreden auf die Bedeutung des MitleidsbegriffsMitleid für dieses Drama, in dem sich durchaus auch Sedimente von LessingsLessing, Gotthold Ephraim Mitleidstheorie finden lassen, wenn man dessen Maßstab vom mitleidigsten Menschen als dem besten Menschen einer Gesellschaft zugrunde legt. So erklärt sich auch Kraus’ Hinweis auf Tolons Angst, denn Angst als gesteigerte Affektform der Furcht wird in der Lesart dieser lessingschen Mitleidstheorie das auf sich selbst bezogene Mitleid.21 Auf der Ebene einer Dramaturgie der Intrige muss verhindert werden, dass der Prinz die Wahrheit erfährt, Tolon muss für tot gehalten werden. Damit muss er auf der Realebene schnellstens getötet werden, denn seine Schwester soll mit dem Monarchen (immerhin einem König) des benachbarten Staats verheiratet werden. Jennemer erklärt dem Notar, es müsse verhindert werden, dass Tolon dieses Territorium erreicht und dort Schutz und Hilfe erfährt. So sehr sich der Notar eben noch als Verteidiger eines aufgeklärten Mitleidsbegriffs gezeigt hat, so schnell lässt er sich von Jennemer nun überzeugen, dass Tolon gefunden und getötet werden muss. Im vierten Auftritt findet sich wieder eine Evangelienallusion, wenn es heißt: „Die Bürger sogar suchen ihn mit Stangen auf“ (S. 54). Tolon erfährt dadurch beinahe schon christologische Züge. Dies dient der Überzeichnung des dramatischen Geschehens, es macht aber auch deutlich, dass sich selbst ein so unchristlich und mörderisch verhaltender Barwill, der dazugekommen ist, in einem kanonisierten Bild der Passionsgeschichte der LutherLuther, Martin-Sprache bedient. Die alludierte Textstelle verweist auf Jesu Gefangennahme im Garten Gethsemane. Im 26. Kapitel des Matthäus-Evangeliums heißt es, Judas kam „und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen“, um JesusJesus gefangen zu nehmen und ihn zu töten. Jennemer berichtet Barwill, dass der Prinz Tolon persönlich sprechen wolle, um sich von ihm sein Geständnis bestätigen zu lassen. Den Prinzen bezeichnet Barwill als „veränderlich“ (S. 55), wankelmütig und Stimmungsschwankungen unterworfen. „Sein geäussertes Mitleiden [!] heißt und nützt nichts“ (S. 55), meint Barwill, denn längst schon hat er insgeheim die Macht im Staat übernommen. Denn der Prinz hat inzwischen doch Tolons Todesurteil unterzeichnet, da ihm Barwill einen Volksaufstand mit Aufruhr und Tumult wegen Tolons angeblichen Vergehen vorgetäuscht hat. Auch die Schilderung dieser Szene erinnert wieder an die Passionsgeschichte, wenn dort das Volk von Pilatus den Tod Jesu verlangt. Schließlich habe er den Prinzen dadurch überzeugen können, dass er das von seiner Hand gefälschte Schriftstück Tolons aushändigte. Am Ende unterschreibt er das Todesurteil. Als Amalie von Tolons angeblichem Tod erfährt, verfällt sie in Wahnsinn. In Barwills Bericht darüber erwähnt er den Namen einer „Luzinde“ (S. 57), die sich gemeinsam mit einem Arzt um die Genesung Amaliens kümmerte. Diese Figur wird weder in ihrer Funktion erklärt noch taucht sie an einer anderen Stelle des Dramas nochmals auf. Das kann als ein Hinweis gelesen werden, dass der Autor Kraus sein Stück schnell geschrieben und in den Druck gegeben hat.

Schließlich kommt Tolon, der diese Bekenntnisse und Berichte belauscht hat, aus seinem Versteck heraus. Sein Diener kehrt aus der Stadt zurück und bringt Tolon die Nachricht, dass Amalie gestorben ist. Dieser Szenenabschnitt mit Tolons Schmerz arbeitet vollständig mit den sprachlichen Mitteln des Sturm und DrangSturm und Drang, Gedankenstrich reiht sich an Gedankenstrich, Aposiopesen wechseln einander ab.22 Tolon beschließt „mit einer Miene die eine gräßliche Munterkeit ausdrückt“ (S. 61) zur Beisetzung Amaliens zu gehen. Und obwohl Tolons Diener ihm treu bis in den Tod folgen will, bleibt er im Stück doch namenlos, er ist und bleibt „Bedienter“. In der siebten und achten Schlussszene wird das Finale dieser Tragödie vorbereitet. Es erfolgt mitten in der Szene ein Kulissenwechsel – und dieser plötzliche Ortswechsel ist ein Sturm-und-DrangSturm und Drang-typischer Verstoß gegen das aristotelAristotelesisch-lessingLessing, Gotthold Ephraimsche Reglement einer Einheit des OrtsEinheit des Orts –, der einen Friedhof zeigt. Da es Nacht ist, kann sich Tolon später ungesehen an einem Grabstein in einen Mantel gehüllt verbergen. Man sieht „hie und da grosse Grabsteine als Merkmale verfallener Hoheiten“ (S. 64), heißt es in der Regieanweisung, was man als eine ironische Brechung absolutistischer Macht durch den Text verstehen kann. Tolon spricht über seine Liebe, die SexualitätSexualität nicht ausschloss („hier Amalie vereinigen wir uns – mit einem heiligern Triebe als sonst – “, S. 65). Das ist nur wenig sprachlich codiert, um den Schicklichkeitsstandards der Zeit zu entsprechen. Als der Sarg in die Erde gelassen wird, drängt sich Tolon zwischen Jennemer und Barwill, entledigt sich seines Mantels und sticht mit dem Ausruf „Rache für Amalien und Tolon!“ (S. 67) die beiden Männer zeitgleich mit zwei Messern nieder. Ein drittes dient seinem Selbstmord, den er mit den letzten Worten drapiert „Amalie, wir vereinigen uns auf ewig“ (S. 67), er sticht sich mitten ins Herz und fällt in die Grube. Dieser Selbsthelfer (so lautet das goetheGoethe, Johann Wolfgangsche Wort) als dem männlichen Handlungsmuster des Sturm und Drang wird zum Selbsträcher und endet im Scheitern. Eine Lösung im Sinne einer Utopie wie in LenzLenz, Jakob Michael Reinholdens HofmeisterDer Hofmeister (1774) oder in den SoldatenDie Soldaten (1776) bietet das Stück nicht, auch kein harmonisches Schlusstableau, wie ihn das Bürgerliche Trauerspiel kennt. Der TolonTolon ist eine TragödieTragödie des Sturm und Drang, die von Beginn an den Zugriff auf eine Architektur des Selbsthelfertums verweigert und stattdessen das Scheitern in dessen Erweiterung als Selbsträchertum demonstriert. Der Tolon von Joseph Martin KrausKraus, Joseph Martin hat als ein Stück des Sturm und Drang zweifelsohne eine ausführliche wissenschaftliche Würdigung verdient.

Buchstäblichkeit und symbolische Deutung

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