Читать книгу Buchstäblichkeit und symbolische Deutung - Matthias Luserke-Jaqui - Страница 36
Schubart Die Fürstengruft (1781)
ОглавлениеReiner Wilds Buch Literatur im Prozeß der Zivilisation. Entwurf einer theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft (1982) versucht, die Zivilisationstheorie von Norbert EliasElias, Norbert für eine zeitgemäße literaturtheoretische Diskussion fruchtbar zu machen. Wilds Ansatz, insbesondere sein auf Raymond WilliamsWilliams, Raymond zurückgreifendes Modell residualer, dominanter und progredierender Verhaltensstandards im Prozess der Zivilisation, hat in der Aufklärungsforschung eine Zeitlang eine differenzierte diskurshistorische Diskussion erlaubt, wonach residuale, dominante und progredierende Diskursformen unterschieden wurden und als Schnittstelle von Macht – als der soziohistorischen Denkfigur bürgerlicher Emanzipation des 18. Jahrhunderts – und BegehrenBegehren – als der psychohistorischen Denkfigur der zivilisatorisch indizierten Disziplinierungserfordernis – verstanden werden konnten.
Das Werk des Schwaben Christian Friedrich Daniel SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791) ist überschaubar, eine Gesamtausgabe auf editionsphilologisch verlässlicher und vollständiger Grundlage fehlt bis heute. Seit einiger Zeit liegt der erhaltene Briefwechsel in einer mustergültigen Edition vor.1 Als Journalist ist Schubart vor allem in seiner Rolle des Herausgebers, Redakteurs und maßgeblichen Beiträgers der Deutschen ChronikDeutsche Chronik bekannt, die in den Jahren 1774 bis 1777 zweimal in der Woche erschien. Die Deutsche Chronik trug maßgeblich zur Publizistik des Sturm und DrangSturm und Drang bei. Die meisten Beiträge schrieb Schubart selbst, sein erklärtes Ziel war es, eine nationale Zeitschrift zu schaffen. Mit einer Auflage von zunächst 1600 Stück im Jahr 1775 wurde die Deutsche Chronik ein durchschlagender Publikumserfolg. Die Zahl seiner Leser in ganz Europa wird auf 20000 geschätzt.2 Einen Großteil seiner eigenen Gedichte veröffentlichte er hier. Viele der Gedichte, Erzählungen, Kompositionen, historischen Schriften und musikästhetischen Arbeiten, journalistischen Texten, Satiren und Sottisen sind allerdings längst vergessen, viele Drucke gehören heute zu den Rara und Rarissima öffentlicher Bibliotheken. Einem größeren bildungsbürgerlichen und literaturgeschichtlich interessierten Publikum ist Schubart vor allem als Verfasser des Gedichts Die ForelleDie Forelle (1783) bekannt geworden. Allerdings löschte die Vertonung durch Franz SchubertSchubert, Franz Schubarts eigene Vertonung geradezu aus der Erinnerung aus. SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel hat darüber hinaus einige weitere seiner Gedichte selbst vertont, eine Übersicht über seine Kompositionen bietet die Monografie von Kurt Honolka.3
Schubart war weder ein Volksdichter noch ein Rebell, auch wenn dieser Habitus zur eigenen Inszenierung passte und bis heute in der Germanistik gerne als Ursprungsmythos eines politischen Sturm und Drang in Deutschland in Anspruch genommen wird. Ob insgesamt sein politisch kritisches Werk für eine wie auch immer geartete politische Tendenz des Sturm und Drang überhaupt zu Recht herhalten kann, bleibt umstritten.4 Demgegenüber steht ein nicht unbeträchtlicher Teil seines lyrischen Werks, das sich in Huldigungs- und Widmungs- und Gelegenheitsgedichten, in Idyllen und in dynastischer Lobhudelei ergeht. Das Schicksal, ins Repertoire bürgerlicher KulturKultur aufgenommen worden zu sein, teilt Schubart mit SchillerSchiller, Friedrich.
Im Jahr 1781 lernt Friedrich Schiller neben Andreas StreicherStreicher, Andreas (1761–1833), der ihn nach Mannheim und Frankfurt auf der Flucht aus Stuttgart begleitete, eben auch Christian Friedrich Daniel Schubart kennen. Wie Schubart ist auch der junge Schiller als Publizist aktiv, so gründet er im März 1782 zusammen mit Jakob Friedrich Abel (1751–1829), Johann Jakob AtzelAtzel, Johann Jakob (1754–1816) und Johann Wilhelm PetersenPetersen, Johann Wilhelm (1758–1815) seine erste Zeitschrift Wirtembergisches Repertorium der LitteraturWirtembergisches Repertorium der Litteratur. Sie erscheint allerdings nur in drei Stücken ein knappes Jahr lang bis Frühjahr 1783. Die meisten Beiträge stammen von den Herausgebern selbst. Und wie Schubart macht auch Schiller früh seine prägenden Erfahrungen mit dem duodezfürstlichen Absolutismus. Die erste literarische Reaktion darauf findet sich in den RäubernDie Räuber, die bis Ende 1780 fertig waren. SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Erzählung Zur Geschichte des menschlichen HerzensZur Geschichte des menschlichen Herzens, auf die sich SchillerSchiller, Friedrich bei der Entwicklung seiner Räuber-Fabel maßgeblich stützt, erschien im Januar 1775 im Schwäbischen Magazin von gelehrten Sachen auf das Jahr 1775.5 Schiller hat sie gekannt und für seine Räuber ausgewertet. Einige Übereinstimmungen sind bemerkenswert. In Schubarts Erzählung heißen die beiden Brüder Wilhelm und Carl. Während Wilhelm den scheinbar moralischen, in Wahrheit aber schlechten Charakter verkörpert, entwickelt sich Carl vom Lebemann zum wiederkehrenden verlorenen Sohn. In der Geschichte des menschlichen Herzens wird Wilhelm als fromm, geradezu bigott, zelotisch, misanthropisch, ordnungsliebend und wirtschaftlich denkend beschrieben. Carl hingegen ist der Antipode seines Bruders, beide sind aristokratischer Abstammung. Wein, Sex, Schulden, schließlich ein Duell und seine Flucht zum Militär lassen ihn eine adlige oder bürgerliche Karriere verfehlen. Er landet als Knecht bei einem Bauern in der Nähe seines Vaterhauses. Seine Briefe an den Vater, worin er um Vergebung bittet, werden vom Bruder unterschlagen. Als dieser einen Mordanschlag auf den Vater einfädelt, kann Carl das Leben des Vaters retten und wird schließlich als verlorener Sohn wieder aufgenommen. Wilhelm hingegen gründet eine Sekte der Zeloten. Bemerkenswert ist die Schlussformulierung Schubarts: „Wann wird einmal der Philosoph auftretten, der sich in die Tiefen des menschlichen Herzens hinabläßt, jeder Handlung bis zur Empfängniß nachspührt, jeden Winkelzug bemerkt, und alsdann eine Geschichte des menschlichen Herzens schreibt, worinn er das trügerische Inkarnat vom Antlize des Heuchlers hinweg wischt, und gegen ihn die Rechte des offenen Herzens behauptet.“6 Kein Philosoph wird es sein, sondern ein junger Dichter, der diesem Anspruch genügt. Man ist geneigt, Schillers Bemerkungen in seiner Unterdrückten VorredeUnterdrückte Vorrede zu den Räubern als direkte Antwort auf Schubarts Frage zu lesen. Schubarts Erzählung spielt – wie Schillers Räuber – in den Zeiten des Siebenjährigen Kriegs (1756–1763). Die Absicht des Autors Schubart besteht darin, „Leute mit Leidenschaften“7 zu zeichnen, die es auch in Deutschland gebe. Der Deutschen Leben bestehe nicht nur aus „Essen, Trinken, Dummarbeiten und Schlafen“8, so SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel. Ausdrücklich fordert Schubart die Dichter seiner Zeit auf, den von ihm mitgeteilten Stoff dramatisch oder episch zu bearbeiten. Er schreibt: „Hier ist ein Geschichtgen, das sich mitten unter uns zugetragen hat; und ich gebe es einem Genie Preiß, eine Comödie oder einen Roman daraus zu machen, wann er nur nicht aus Zaghaftigkeit die Scene in Spanien und Griechenland; sondern auf teutschem Grund und Boden eröfnet“9. Schwer vorzustellen, dass sich der junge SchillerSchiller, Friedrich von diesen Worten nicht angesprochen gefühlt haben mag.
Anfang Dezember 1788 besuchte der Sohn Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht Schiller in Weimar. Unmittelbar danach schrieb Schiller die kleine Erzählung Spiel des SchicksalsSpiel des Schicksals nieder, die 1789 erschien und die in der Schiller-Rezeption nahezu untergegangen ist. Der Ich-Erzähler weist explizit darauf hin, dass er von dieser Person nur aus „mündlichen Überlieferungen“10 wisse, gedruckte Quellen also auszuschließen seien. Dies ist eine geschickt gelegte blinde Spur des Autors, ermöglicht sie ihm doch gegebenenfalls, auf den Charakter des Mündlichen als einer ungesicherten Überlieferung und nicht wahrheitsgetreuen Darstellung zu verweisen und somit den Wahrheitsanspruch seiner Erzählung der Kritik zu entziehen. Immerhin war es für die zeitgenössischen Leser ein Leichtes, die erzählte Geschichte nahezu auf jeden beliebigen Fürstenhof der Duodezfürstentümer im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu übertragen. Günstlingswirtschaft, Fürstenwillkür und Machtmissbrauch sind auch die Themen der Erzählung, die ja in nahezu allen Texten des jungen Schiller vorzufinden sind. Unausgesprochen steht bei dieser Erzählung wieder die Situation am württembergischen Hof des Herzogs Karl EugenKarl Eugen, Herzog von Württemberg im Hintergrund. Obwohl es keinen Beleg dafür gibt, dass Schiller mit Bedacht auf einen realen historischen Vorfall zurückgreift, geht die Forschung davon aus, dass in der Erzählfigur des Aloysius von G*** Schillers Taufpate General Philipp Friedrich RiegerRieger, Philipp Friedrich (1722–1782) zu erkennen ist. Zunächst Günstling des Herzogs, dann durch eine Intrige gestürzt, wurde Rieger aus dem Militärdienst entlassen und verbrachte vier Jahre in Haft. Nach seiner Rehabilitierung war er von 1776 bis zu seinem Tod Kommandant auf dem Hohenasperg und damit auch für den seit 1777 inhaftierten SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel verantwortlich.11 Auch er war während seiner eigenen Haftzeit zum Pietisten und KirchenlieddichterKirchenlied konvertiert und versuchte Schubart nun (erfolgreich) zur moralischen Bekehrung zu drängen. Am 15. Mai 1782 war RiegerRieger, Philipp Friedrich gestorben, und Schubart vergab ihm großzügig seine Schikanen, konnte aber in einem Brief an seine Frau HelenaRieger, Helena vom Juni 1782 nicht unerwähnt lassen: „Ich habe bei dem vorigen Kommandanten [Rieger] viel schwere Leiden ausgestanden. Er behandelte die Menschen nicht selten wie Bestien“12. Friedrich Schiller – über den es in dem nämlichen Brief heißt: „Schiller ist ein grosser Kerl – ich lieb’ ihn heiß – grüß ihn!“13 – verfasste im Auftrag der württembergischen Generalität eine Trauerode mit dem Titel Todenfeyer am Grabe Philipp Friderich von RiegersTodenfeyer am Grabe Philipp Friderich von Riegers (1782). Auch Schubart besang in einem Gedicht den verstorbenen Festungskommandanten. Ein halbes Jahr vor Schillers Gedicht noch wurde in der Anthologie auf das Jahr 1782Anthologie auf das Jahr 1782 der Geburtstag Riegers mit dem Gedicht Gefühl am ersten Oktober 1781Gefühl am ersten Oktober 1781 gefeiert, das Schubart zugeschrieben wird. Allerdings klingen einige Zeilen darin eher ironisch als aufrichtig, wenn beispielsweise die Vielzahl der Freunde Riegers, die ihn liebten, förmlich beschworen wird. Denn Rieger war für seine Unmenschlichkeit bekannt. Nicht minder unmenschlich ist die Willkür des württembergischen Herzogs zu nennen. Die zehn Jahre Haftzeit Schubarts von 1777 bis 1787 begründete Karl EugenEugen, Karl offiziell damit, „Schubart habe es ‚in der Unverschämtheit so weit gebracht, daß fast kein gekröntes Haupt und kein Fürst auf dem Erdboden ist, so nicht von ihm in seinen herausgegebenen Schriften aufs freventlichste angetastet worden‘“14.
Schillers Anthologie auf das Jahr 1782 bedeutete primär zunächst einen publizistischen Wettstreit mit dem wenig geschätzten schwäbischen Dichterkollegen Gotthold Friedrich StäudlinStäudlin, Gotthold Friedrich (1758–1796) und dessen Schwäbischem Musenalmanach Auf das Jahr 1782Schwäbischer Musenalmanach Auf das Jahr 1782, der im September 1781 erschienen war. Untergründig aber dürfte sich SchillerSchiller, Friedrich auch stark an Schubarts Stimme orientiert und abgearbeitet haben. In der Anthologie findet sich Schillers erstes Drama, die SemeleSemele. In der Forschung wurde und wird wiederholt behauptet, Schiller habe sich bei seinem Drama auf SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Gedicht Jupiter und SemeleJupiter und Semele stützen können.15 Als Beleg dient Schubarts Vers „Der Affe gaukelte vor ihr; das Eichhorn putzte sich“16. In der entsprechenden Zeile bei SchillerSchiller, Friedrich sagt SemeleSemele zu Zeus, „mein Herz war dem geweiht, deß Aff du bist“17. Dieses Wort fällt signifikant aus der sonst stark pathetisierenden Sprache Semeles heraus. So philologisch kleinteilig diese Argumentation ist, so sehr spricht dagegen, dass zum einen die Datierung von Schubarts Gedicht äußerst unsicher ist, das Entstehungsjahr 1781 oder 1782 ist nicht nachgewiesen, sondern bloße philologische Annahme. Man müsste also spekulativ davon ausgehen, dass es schon 1779 geschrieben worden sei.18 Zum anderen spricht dagegen, dass Schubarts Text erst 1786 erschienen ist, Schiller ihn also im Manuskript hätte kennenlernen müssen, was zu diesem Zeitpunkt der Entstehung der SemeleSemele (1779/80), immerhin war Schiller da noch Karlsschüler, mehr als unwahrscheinlich ist. Ein anderes Argument, dessen sich die Befürworter der Vermutung, Schubart biete die Quelle für Schiller, bislang nicht bedienten, ist Folgendes: In Andreas Streichers Buch über Schiller berichtet der Autor, Schiller habe auf der Flucht aus Stuttgart in Enzweihingen auf einer Poststation ein Heft mit ungedruckten Gedichten Christian Friedrich Daniel Schubarts hervorgezogen und daraus vorgelesen. Um welche Gedichte es sich dabei handelte, wird nicht überliefert – mit Ausnahme der FürstengruftDie Fürstengruft. Ob diese Gedichte tatsächlich auch ungedruckt waren, lässt sich ebenfalls nicht mehr überprüfen. Fest steht jedoch, dass Schiller Schubarts Gedichte gelesen hat, allerdings war zu diesem Zeitpunkt (Schiller verließ Stuttgart, das von Schubart schon einmal als „Sklavenneste“19 bezeichnet wurde, am 22. September 1782) Schillers Semele bzw. die AnthologieAnthologie auf das Jahr 1782 bereits im Druck, der Almanach erschien im Februar 1782. „Schiller hatte für die dichterischen Talente des Gefangenen, sehr viele Hochachtung. Auch hatte er ihn einigemale auf dem Asperg besucht“20, schreibt Streicher über Schillers Kontakt zu Schubart. In einer späteren Fassung von Streichers Schiller-Buch ist nur noch von einem einmaligen Besuch die Rede.21 Schiller lernte SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel erst im November 1781 persönlich kennen, als er ihn auf dem Hohenasperg besuchte. Schubarts Sohn LudwigSchubart, Ludwig Albrecht war jedoch schon seit 1777 Karlsschüler. Nicht ausgeschlossen ist also, dass Schiller über ihn unveröffentlichte Gedichte des Vaters zu lesen bekam. Und umgekehrt, ist Schubarts Bemerkung, SchillerSchiller, Friedrich sei ein großer Kerl, vielleicht eine Reaktion auf die Lektüre der Anthologie oder auf Schillers Besuch auf dem Hohenasperg?22
In der Anthologie auf das Jahr 1782Anthologie auf das Jahr 1782 ist auch Schillers Gedicht Die schlimmen MonarchenDie schlimmen Monarchenabgedruckt. Mutmaßlich ist es um 1780 entstanden, es gehört damit in die Entstehungszeit der RäuberDie Räuber und der SemeleSemele. Das bedeutet thematisch gesehen, dass sich Schiller in dieser Lebensphase – er war ja bis Ende 1780 noch Karlsschüler – intensiv mit dem Thema der Herrschaftskritik beschäftigt hat. Die intertextuellen Referenzen, welche die Forschung ausmachen konnte, verweisen auch auf Schubarts Gedicht Die Gruft der FürstenDie Gruft der Fürsten, das zuerst in Heinrich Leopold WagnersWagner, Heinrich Leopold Frankfurter Musenalmanach auf das Jahr 1781 erschien und später unter dem Titel Die FürstengruftDie Fürstengruft nachgedruckt wurde. Schiller kannte es ja aus einer Handschrift. Die Nationalausgabe der Werke Schillers spricht sogar von einer „Abhängigkeit des Schillerschen Gedichts von dem Schubarts“23. Allerdings gehört das Thema der Fürstengruft auch zu den zeitgenössisch gängigen literarischen Motiven.
Schiller trägt seine Kritik an absolutistischer Herrschaft im Ton radikal vor. Die kritisierten Monarchen werden als ‚Erdengötter‘ und ‚Gottes Reisenpuppen‘ tituliert, die mit ‚pompendem Getöse‘ ihren ‚Spleen‘ ausleben. Im Unterschied zu Schubarts versöhnlichem Schluss mit seinem Appell an die guten, sprich aufgeklärten Vertreter des Absolutismus, wendet der junge Schiller die Richtung seines Angriffs in der Schlussstrophe und droht mit der Verheißung: „Aber zittert für des Liedes Sprache, / Kühnlich durch den Purpur bohrt der Pfeil der Rache / Fürstenherzen kalt.“24
In Schillers Anthologie findet sich auch das Ludwig Schubart zugeschriebene, dem Duktus schillerscher Jugendlyrik durchaus gewachsene Gedicht Aufschrift einer FürstengruftAufschrift einer Fürstengruft: „Zurük! Hier ruhn die Erdenriesen, / Fern von dem Volk in ihrer Gruft – / Um mit dem Volk nicht auferstehn zu müssen, / Wenn einstens die Trompete ruft.“25
SchubartsSchubart, Christian Friedrich Daniel Gedicht Die FürstengruftDie Fürstengruft kann als Palimpsest von SchillersSchiller, Friedrich Schlimmen MonarchenSchlimme Monarchen gelesen werden.26 Es erschien erstmals im Frankfurter Musenalmanach auf das Jahr 1781 und wurde 1781 im Leipziger Musenalmanach sowie 1782 im Deutschen Museum nachgedruckt. Die Fürstengruft gehört zu den bekannteren Schubart-Texten. Formal ist es, wie alle Gedichte Schubarts, durchweg konventionell. Schubart teilt mit den Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang die Verehrung für KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb. Der junge GoetheGoethe, Johann Wolfgang hatte bereits am 10. Juni 1774 sein Klopstock-Bekenntnis brieflich niedergelegt, bevor er dann selbst als neue Literaturikone aufs Podest kongenialer Bewunderung gehoben wurde27: „Klopstocks herrliches Werck hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die Einzige Poetick aller Zeiten und Völcker, die einzige Regeln die möglich sind!“28
Will man Schubart als politisch kritischen Lyriker klassifizieren, dann zeigt der direkte Vergleich etwa mit der Feudalismuskritik in Johann Anton Leisewitz’Leisewitz, Johann Anton (1752–1806) Text Die PfandungDie Pfandung (1775) erhebliche Differenzen in den Möglichkeiten soziohistorischer Analyse und sprachlicher Direktheit. Schubarts Gedicht Der Bauer im WinterDer Bauer im Winter (1774) ist harmlos idyllisch und beschwört anakreontisch das Landleben – die Schlussfrage, zudem leicht als rhetorische Frage zu erkennen – wirkt geradezu provokant, angesichts der konkreten Nöte der Bauern in den 1770er-Jahren: „Kann wohl ein Mensch vergnügter seyn?“29 In den beiden KapliedernKaplieder (1787) wird den Soldaten und ihren Familien Mut zugesprochen. Auch wenn sie im fernen Südafrika für deutsche Interessen stürben, sei Gott mit ihnen, denn schließlich gehe es um „Ehre und Gold“30 und vaterländische Pflicht. Die konsolatorische Funktion dieser Gedichte hebt SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel in seinem Brief an den Verleger HimburgHimburg, Christian Friedrich vom 22. Februar 1787 hervor, die Gedichte seien Klagelieder, die Mut und Trost spenden sollten. In diesem Zusammenhang kann nochmals an Reiner Wilds Unterscheidung von zwei Funktionsgruppen in der Literatur im Prozess der Zivilisation erinnert werden, die stabilisierenden Funktionen und die reflexiven Funktionen von Literatur. Zu den stabilisierenden Funktionen zählen die didaktische Funktion, die gesellige und sensibilisierende Funktion, die entlastende Funktion und die erfahrungserweiternde Funktion. Zu den reflexiven Funktionen gehören die kritische Funktion und die antizipierende Funktion von Literatur im Prozess der ZivilisationZivilisation. Die didaktische Funktion von Literatur besteht in der Vorführung und Einübung zivilisatorischer Standards. Der bloße Appell in pragmatischer Literatur wird durch die Vorstellung von personal und figural gestalteten Möglichkeiten zur Identifikation in der fiktionalen Literatur ergänzt. Die Psychologisierung in der Darstellung und Gestaltung literarischer Figuren entspricht der zunehmenden Psychologisierung des Menschenbilds, wie sie Norbert EliasElias, Norbert im Zivilisationsprozess beobachtet und beschrieben hat. Die gesellige oder sensibilisierende Funktion von Literatur nennt Wild auch als die Außen- und Innenseite einer Funktion die eigentliche zivilisatorische Funktion von Literatur. Diese Funktion meint ein besonderes Merkmal von Zivilisiertheit, nämlich den Umgang mit Literatur. Daran, wie ein Einzelner mit Literatur umgeht, wird der Grad seiner Zivilisiertheit abgelesen. Die Literatur selbst bekommt die Funktion zugeschrieben, den Umgang mit Literatur als Ausdruck zivilisatorischen Höhenbewusstseins zu vermitteln und entsprechend einzuüben. Die in der Literatur vermittelten Formen zivilisatorischer Standards werden zur Messlatte individuellen Verhaltens. Die sensibilisierende, psychologische Funktion von Literatur besteht darin, die im Zivilisationsprozess vom Einzelnen abverlangte Affektmodellierung und Selbstkontrolle zu unterstützen, wobei der Begriff der Sensibilität auch „die vorbewußt bleibende Steuerung eines entsprechend sensiblen Verhaltens“31 meint und insofern die Innenseite der geselligen Funktion darstellt. Die Sensibilität betrifft eigenes Verhalten ebenso wie das Verhalten anderer. Die entlastende Funktion von Literatur nennt Wild auch die kompensierende Funktion. Damit wird deutlich, welches Gewicht der Literatur bei der Triebabfuhr im ZivilisationsprozessZivilisationsprozess zukommt. Wild beschreibt dieses Verhältnis wesentlich differenzierter und exakter als EliasElias, Norbert. Da der zivilisatorische Druck auf den Einzelnen mehr und mehr zunimmt, erfordert dies – nach Elias – auch einen zunehmenden Triebverzicht. Die affektiven Ansprüche und Bedürfnisse werden entweder verdrängt oder sozialverträglich umgewandelt. Die individuelle Selbstkontrollapparatur und die gesellschaftlich institutionalisierte Triebkontrolle „verlangt Möglichkeiten der Kompensation der unterdrückten Wünsche, durch die sie in einer Weise ‚ausgelebt‘ werden können, die den zivilisierten Umgang der Menschen miteinander nicht stört oder behindert. Eine solche Möglichkeit ist auch die Literatur“32. Die erfahrungserweiternde Funktion von Literatur besteht in der Vermittlungsleistung der Literatur von Kenntnissen über das grundsätzlich Andere, das Fremde. Diese Funktion entspringt einem vermehrten Informationsbedürfnis der Menschen als Folge der zunehmend differenten gesellschaftlichen Funktions- und Arbeitsteilung. Wild bezeichnet die erfahrungserweiternde Funktion als eine der zentralen und wesentlichen Funktionen von Literatur, da sie Einsichten, Erfahrungen, Erkenntnisse und Kenntnisse des gesamten Spektrums menschlichen Verhaltens vermittelt. Doch ist die erfahrungserweiternde Funktion mehr als bloße Informationsvermittlung, da sie in der Erfahrung des Anderen die Möglichkeit und den Appell zur Selbsterfahrung mittels Identifikation oder Kontraidentifikation mitliefert. Die kritische Funktion von Literatur gehört zur Gruppe der reflexiven Funktionen. Während nach Wild die stabilisierenden Funktionen von Literatur in der Möglichkeit gründen, menschliche Bewusstseinsformen und Verhaltensweisen abbilden zu können, konstituieren die reflexiven Funktionen, also die kritische und die antizipierende Funktion, die Reflexion des Zivilisationsprozesses in der literarisch dargestellten Reflexion der zivilisatorischen Standards. Die kritische Funktion von Literatur ermöglicht den Lesern eine distanzierende Reflexion. Die Funktion besteht also darin, dass bestimmte zivilisatorische Standards „als dem erreichten Stand der Zivilisation nicht, nicht mehr oder noch nicht angemessen dargestellt werden“33. Die antizipierende Funktion von Literatur folgt schlüssig aus der kritischen Funktion. Denn bemisst die kritische Funktion den Rahmen dessen, was noch nicht als Stand des Zivilisationsprozesses erreicht ist, so tut sie dies von einem utopischen Denken aus. Vom Entwurf her kritisiert Literatur dann die Unzulänglichkeiten des Gegenwärtigen. Die antizipierende Funktion bedeutet für Wild die „Konkretisierung der utopischen Qualität“34 von Literatur. Wollte man Wilds Funktionenmodell weiterführen, könnten die sechs Funktionsgruppen in einer einzigen, basalen Funktion der Literatur im Prozess der Literatur aufgehen, der kathartischen Funktion von Literatur, zu der dann auch die oben genannte konsolatorische Funktion gehörte.35
„Der Zweck der Dichtkunst ist, nicht mit Geniezügen zu prahlen, sondern ihre himmlische Kraft zum Besten der Menschheit zu gebrauchen“36, schreibt SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel. Damit ist zugleich sein poetisches Programm auch der 1770er-Jahre ziemlich genau beschrieben. Das Freyheitslied eines KolonistenFreyheitslied eines Kolonisten (1775) bezieht sich direkt auf die Ereignisse des Nordamerikanischen Unabhängigkeitskriegs und ist nur schwer mit europäischen, schon gar nicht mit deutschen Verhältnissen zu verrechnen. Die exotische Ferne Amerikas generiert ein Freiheitspathos, das in Schubarts Gedicht nur als rhetorische Geste angemessen zu verstehen ist. Die Worte: „Wer nicht für unsre Freyheit ficht; / Den stürzet ins Meer!“37 suggerieren zwar eine radikale Kompromisslosigkeit, die möglicherweise, gleichsam subkutan, die Frage nach der politischen Freiheit in der duodezfürstlichen Heimat mitdenken lässt, sie aber explizit nicht stellt, geschweige denn beantwortet. Eine deutliche Ausnahme von dieser Art Dichtung bildet Schubarts Gedicht Der GefangeneDer Gefangene (1782), worin der Autor seine eigene Kerkerhaft auf dem Hohenasperg schildert. Die Erfahrungen absolutistischer Willkürherrschaft – Schubart wusste ja nicht, weshalb er inhaftiert war – am eigenen Leib erzeugen eine depressive Grundstimmung, die durch „Einsamkeit“ (S. 46) und Isolation noch verstärkt wird. Die Verse: „Mich drängt der hohen Freiheit Ruf; / Ich fühl’s, daß Gott nur Sklaven / Und Teufel für die Ketten schuf, / Um sie damit zu strafen.“ (S. 46), sind die zentrale Aussage des Gedichts. Der Appell an die christliche Mitmenschlichkeit, niedergelegt in der pietistischen ‚Bruder‘-Formel, unterstreicht Schubarts Verzweiflung: „Was hab ich, Brüder! euch gethan?“ (S. 46)
Auf den ersten Blick scheint Schubarts Gedicht Die FürstengruftDie Fürstengruft, das während dieser Hohenasperger Haftzeit entstanden ist, sehr eindrücklich die Spannung zwischen scharfsichtiger politischer Erkenntnis und Zugeständnissen an gesellschaftliche und ästhetische Normen zu spiegeln. Die schlechten Fürsten, die als Tyrannen geherrscht haben, werden am Jüngsten Tag dem Gericht Gottes zugeführt, während die „bessre[n] Fürsten“ mit ewiger Herrschaft belohnt werden. Mit dem Ausruf „Ihr seid zu herrschen werth“ bekennt sich SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel zum aufgeklärten Absolutismus. Unterschlägt man die letzten vier Strophen der FürstengruftDie Fürstengruft, dann lässt sich in der Tat eine AllegorieAllegorie auf die duodezfürstliche Tyrannis daraus konstruieren, doch der Schlussteil enthält die entscheidende theologische Wendung. Hier macht sich ein Ton geltend, den der Theologe David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich (1808–1874) im Hinblick auf die Deutsche ChronikDeutsche Chronik als Schubarts religiösen „Obscurantismus“38 bezeichnet hat. Die Kritik reicht immer nur so weit, wie es mit Schubarts doch zutiefst pietistisch geprägtem Weltbild verträglich ist.
Doch eine genauere Lektüre kommt zu einem anderen Ergebnis: Schubarts Text drängt die Lektüre als parodistisch-sarkastisches Gedicht regelrecht auf. Die Fürsten sind „Gözen“, ihre „Eitelkeit“ ist selbst im Tod nicht zu tilgen. Die Ironie verdichtet sich im Satzzeichen: „Denn ach! hier liegt der edle Fürst! der Gute!“ Weder edel noch gut waren diese Fürsten, darüber spricht ja der Text, und Mitleid schwingt im sympathetischen „ach!“ auch nicht mit. Marmorne „Thränen“, die das Grabmal schmücken, ziseliert der fremdländische Steinmetz „lachend“ – auch hier werden Anteilnahme und Mitleid explizit ausgeschlossen. Zu Lebzeiten waren diese Fürsten „Der Menschheit Schrecken!“, willkürlich herrschten sie über „Leben oder Tod“. Freiheit von Kunst und Wissenschaft unterbanden sie, „Den Weisen, der am Thron zu laut gesprochen, / In harte Fesseln schlug“ – wer wollte ausschließen, dass Schubart hier an sich selbst dachte? „Geiles Blut“ floss in ihren Adern, „schaamlos und geil“ lebten sie, Zoten wiehernd, selbst das Heer der „Höflinge“ wird ironisiert. Auch diese Wortwahl lässt an Deutlichkeit sarkastischer Verachtung nichts zu wünschen übrig. Doch Schubart steigert die Antipathie noch weiter, Fürsten seien „Menschengeisseln“, die nun im Tod „verächtlicher als Sklaven, / In Kerker eingemaurt“ sind. Das fürstliche Grab als Kerker, der Fürst selbst als Sklave, verachtet von den Menschen, verachtet von Gott. Hier bleibt kein Raum für eine religiös überformte Deutung, Schubart legt in seine Zeilen alle Verachtung gegenüber absolutistischen Gewaltherrschern vom Typ eines Karl EugenEugen, Karl. Die Toten sind „Wüthrich[e]“, „Tirannen“ (dieses Wort fällt innerhalb von drei Strophen gleich zweimal!) und „Quäler“.
Das Entscheidende dabei ist aber, dass SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel nun in den letzten vier Strophen von den toten bessren Fürsten in der Fürstengruft spricht und seinen Text keineswegs an lebende Potentaten adressiert und damit implizit die Frage stellt, ob es denn auch lebende „bessre Fürsten“ geben könne oder ein Fürst als absolutistischer Herrscher nur tot, eben ‚süße schlummernd‘, ein guter Fürst sei. Diese ‚Adressierungslücke‘ schließt SchillerSchiller, Friedrich dann mit seinem Gedicht Die schlimmen MonarchenDie schlimmen Monarchen. Schubart setzt also darauf, dass die lebenden Fürsten sich nicht von seinem Gedicht angesprochen fühlen müssen. Die Realität hat ihn hier bitter belehrt, Herzog Karl EugenEugen, Karl nahm, wie Schubarts Sohn berichtet, die FürstengruftDie Fürstengruftzum Anlass, die bevorstehende Entlassung aus der Haft zu widerrufen und Schubarts Kinder zu schikanieren. Das Gedicht Die Fürstengruft kann somit als eine nekrophile Kontrafaktur zur Realpolitik des Absolutismus der Aufklärung gelesen werden.
AufklärungAufklärung hatte Schubart als „stolze[s] Wort“39 bezeichnet, das der Leser mit Begeisterung nachspreche, und das der Autor schon sehr nahe wähnt, bald werde „ganz Deutschland den Strahlenscepter der Aufklärung“40 küssen. Im Journal von und für Deutschland von 1785 wird unter der Überschrift Das erleuchtete JahrhundertDas erleuchtete Jahrhundert allerdings die schon wesentlich kritischere Anekdote erzählt:
„In einem der größten Opernhäuser Deutschlands hatte der Baumeister nichts vergessen, als daß das Gebäude zu Winterlustbarkeiten bestimmt war. Vor wenigen Jahren wurde darin, einem hohen Gaste zu Ehren eine große Opera in der Mitte des Jänners aufgeführt, und, um das prachtvolle Schauspiel noch prächtiger zu machen, der Saal mit einigen tausend Wachskerzen erleuchtet.
Ein Hofschranze befürchtete, daß dieser Aufwand einem von den fremden Zuschauern unbemerkt bleiben möchte, und fragte ihn: ob er noch irgendwo in der Welt eine so herrliche Beleuchtung angetroffen hätte?
Nirgend, antwortete der Fremde, habe ich das Auszeichnende unsers Jahrhunderts so lebhaft empfunden, als hier. Ich erblinde vor Glanz, und erstarre vor Kälte.“41
Sinnfälliger lässt sich kaum die Diskrepanz beschreiben, mit der bereits die Zeitgenossen AufklärungAufklärung als Programm und als Lebensform empfanden. Ein mutmaßlich unaufgeklärter Fremder bringt auf den Begriff, was der vernünftigen Aufklärung und ihrer begrifflichen Vernunft zu begreifen unmöglich war. Was der Mensch unmittelbar bedürfte, in der kalten Jahreszeit sich zu wärmen, bietet sie nicht, und, bleibt man im Bild, auch die Wachskerzen sind einmal niedergebrannt und die Dunkelheit wird wieder um sich greifen. Solange es jene „Tirannen“ gibt, die SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel in der FürstengruftDie Fürstengruft in den „Kerker“ schickt, so lange werden „Genie und Weisheit darben“ müssen, solange wird es keine Aufklärung geben.
Kurz vor seinem Tod hat Schubart bilanziert, was gewiss auch als eine seiner Charaktereigenschaften bezeichnet werden kann. In einem Brief an Ludwig SchubartSchubart, Ludwig Albrecht vom 16. Februar 1791 schreibt er: „Wenn man so bekannt ist, wie ich; so kann man nicht mehr ganz unpartheiisch seyn.“42 In den Briefen, insbesondere im Briefwechsel mit seinem Sohn Ludwig Albrecht, zeigt sich ein durchaus anderer, politisch sehr engagiert argumentierender Schubart. Vor allem die Ereignisse im revolutionären Frankreich des Jahres 1789 nötigen ihm immer wieder Bekenntnisse und Kommentare ab, die öffentlich getan ihm schnell das Etikett einer jakobinisch gesinnten Einstellung hätten einhandeln können. Seit 2006 liegt der vollständige Briefwechsel – zumindest soweit er erhalten geblieben ist – Schubarts vor und muss zur Beurteilung der Person und des Werks herangezogen werden, will man nicht diese Seite des Autors ignorieren.
Am 15. August 1789 etwa ist zu lesen: „Jetzt, da die Freiheitsgluth so weit um sich frißt, da es scheint, das menschliche Geschlecht wolle den Tirannen die Ketten ums Ohr schmeissen; […]. Mein Gott, was für eine armseelige Figur machen wir krumme und sehr gebükte Deutsche – iezt gegen die Franzosen! […]. O Deutschland, wie tief bist du gefallen!! – –“43 Das Gedicht FreiheitFreiheit (1789) liest sich dann schon wieder wie eine Kontrafaktur zum Briefwechsel. Hier warnt Schubart vor revolutionärem Umsturz: „Ein Volk, bespritzt mit Blut, verdient nicht frei zu sein, / In härtre Sklaverei stürzt es sich selbst hinein.“44 Und über seine Landsleute schreibt er öffentlich in dem Gedicht Der DeutscheDer Deutsche (1790), im Ton eher beschwörend als beschreibend: „Gott liebt er, ist den Obern treu / Wie Gold – und doch kein Sklav dabey.“45 Am 17. September 1789 heißt es, wiederum in einem Brief an den Sohn: „Heil mir, daß ich die Zeit erlebte, wo man das schändliche Büken und Beugen u. Krümmen vor den Feudegöttern [!], die so wohl wie unser Eins auf den Nachtstuhl müßen, für Idololatrie hält.“46 Der Kommentar zum Briefwechsel mutmaßt plausibel in dem Wort „Feudegötter“ eine Wortneuschöpfung Schubarts, die semantisch den Feudalismus aufruft. Im Brief an den Straßburger Jakobiner Andreas MeyerMeyer, Andreas vom 4. Juli 1791 nennt SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel dessen politische Vision gar eine „Vorempfindung des Reichs Gottes“47, um wenige Tage später, am 9. Juli 1791, einen Monat vor seinem Tod, seinem Sohn folgendes Bekenntnis abzulegen: „In der politischen Welt sieht es jämmerlich aus. Ich sehe in diesem Toben der Völker, in diesem Freiheitsgebrülle, in diesem überhandnehmenden Ungehorsam gegen göttliche und weltliche Geseze, die Nacht der Zerrüttung und Barbarei sich nähern. […] Kein Staat hat in diesem ganzen Jahrhundert, das doch so reich an Paradoxien ist, in Einer Jahresfrist, so abscheuliche politische Fehler gemacht, als Preußen.“48 Antipathie gegenüber der russischen Zarin paart sich mit einer Verherrlichung Friedrich II.Friedrich II., der für Schubart der Inbegriff kluger Politik bleibt. Schon am 31. Mai 1790 hatte er seinem Sohn bekannt: „Kein Mensch kann Preussischer seyn als ich; dies weißt du wohl, da du mir ja selbst in meinem Kerker schwören mußtest, dich ganz für Preussen hinzuopfern.“49 Verständlich, wenn man bedenkt, dass das preußische Königshaus sich mit Nachdruck und mit „energischen diplomatischen Schritten“50 für die Freilassung Schubarts engagierte. Und verständlich vielleicht auch, dass er ein patriotisches PreußenliedPreußenlied (1790) schreibt, in dem es heißt: „Kein Preuße scheut die finstre Schlacht, / Kein Preuße schont sein Blut!“51 Dieser rhetorische Patriotismus war es denn auch, der Schubart seine Anerkennung im 19. Jahrhundert sicherte.
Eines wird damit offensichtlich: Schubart lebt die Spaltung in öffentliche Person und private Person, in öffentliches, und das heißt meist erzwungenes Geständnis und Zugeständnis, und dessen privaten Widerruf.
Ist SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel aktuell? Jedenfalls ist diese Bemerkung aus seinen Ideen zu einer Ästhetik der TonkunstIdeen zu einer Ästhetik der Tonkunst zeitlos: „Auch die populäre Musik ist ohne Naturausdruck ein Aas, das mit Recht auf dem Anger begraben wird.“52