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Die Deutsche Nationalversammlung
ОглавлениеIm März 1848 reagiert die Bundesversammlung in Frankfurt auf die revolutionären Ereignisse und die zahlreichen Rufe nach einer Reform des Deutschen Bundes. Ein Vorbereitungsausschuss soll sich mit den „Märzforderungen“ auseinandersetzen und eine Reichsverfassung erarbeiten. Wenige Tage später wird in Frankfurt ein Vorparlament zusammengerufen, dem 500 Männer angehören, die sich vorher in den unterschiedlichsten nationalen Zirkeln einen Namen gemacht haben. Daraus geht schließlich die Deutsche Nationalversammlung hervor, die am 18. Mai 1848 zusammentritt, um eine Verfassung zu erarbeiten und freie Wahlen vorzubereiten. Für die kommenden 13 Monate wird ihre Tagungsstätte zum entscheidenden Ort für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte. Gelingt es den Abgeordneten einen deutschen Nationalstaat zu gründen oder scheitern sie an den Widerständen, die gegen einen deutschen Staat in der Mitte Europas ins Feld geführt werden? Die Ereignisse nehmen einen dramatischen Verlauf.
Am 19. Mai 1848 wird Heinrich von Gagern zum Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er ist kein Unbekannter. 1815 hat er an der Schlacht von Waterloo teilgenommen, ist einige Jahre später als liberaler Finanzexperte ins hessische Parlament eingezogen. Aber seine erste Personalentscheidung erweist sich als Fehlgriff. Weil er – wie die Mehrheit der Nationalversammlung – an einen gesamtdeutschen Staat unter Einschluss Österreichs glaubt, schlägt Heinrich von Gagern Erzherzog Johann von Österreich (1782 – 1859) für das Amt des Reichsverwesers, also des kaiserlichen Vertreters, vor. Der Reichsverweser soll die Zentralgewalt des Deutschen Bundes so lange innehaben, bis nach einer Parlamentswahl eine neue Regierung im Amt ist. Der liberale Erzherzog wird am 29. Juni 1848 mit überwältigender Mehrheit gewählt und verfasst kurze Zeit später einen Aufruf an das deutsche Volk:
„Deutsche! Eure in Frankfurt versammelten Vertreter haben mich zum deutschen Reichsverweser erwählt. Unter dem Zurufe des Vertrauens, unter den Grüßen voll Herzlichkeit, die mich überall empfangen, und die mich rührten, übernahm ich die Leitung der provisorischen Centralgewalt für unser Vaterland. (…) Unser Vaterland hat ernste Prüfungen zu bestehen. Sie werden überwunden werden. Eure Straßen, Eure Strome werden sich wieder beleben, Euer Fleiß wird Arbeit finden, Euer Wohlstand wird sich heben, wenn Ihr vertrauet Euren Vertretern, wenn Ihr mir vertraut, den Ihr gewählt, um mit Euch Deutschland einig, frei und mächtig zu machen. (…) Deutsche! Lasst mich hoffen, daß sich Deutschland eines ungestörten Friedens erfreuen werde. Ihn zu erhalten ist meine heiligste Pflicht. Sollte aber die deutsche Ehre, das deutsche Recht gefährdet werden, dann wird das tapfere deutsche Heer für das Vaterland zu kämpfen und zu siegen wissen.
Der Reichsverweser Erzherzog Johann“
Für die Radikalen in der Nationalversammlung ist Erzherzog Johann aber ein Vertreter des alten politischen Systems und deshalb nicht akzeptabel. Wie schwer, wenn nicht unmöglich die Aufgabe des Reichsverwesers ist, zeigt sich schon bald. Angesteckt vom revolutionären Schwung in Berlin und Frankfurt hat sich schon im März 1848 in Schleswig-Holstein eine provisorische Revolutionsregierung gebildet, die gegen ihren Landesherrn, den dänischen König Frederick VII. (1808 – 1863), opponiert. Der schickt daraufhin seine Truppen nach Kiel, was - auf Wunsch der Nationalversammlung - am 2. Mai 1848 mit dem Einmarsch preußischer Truppen in Dänemark beantwortet wird. Als englische Kriegsschiffe im Sommer 1848 ihre Stärke durch massive Präsenz in der Nordsee demonstrieren, russische Truppen an der preußischen Ostgrenze aufmarschieren und schließlich auch der französische Gesandte insistiert, zieht Preußen seine Truppen aus Dänemark zurück und unterzeichnet am 26. August 1848 den Waffenstillstand von Malmö. Die Revolution gewinnt, wer die Macht hat. Das ist jetzt ebenso klar, wie die Erkenntnis, dass diese Macht nicht in Händen der Frankfurter Nationalversammlung liegt. Seine faktische Machtlosigkeit – ohne eigenes Heer und ohne zentrale Kompetenz – muss auch Erzherzog Johann am 16. September 1848 erkennen, als die Frankfurter Nationalversammlung den Waffenstillstand notgedrungen ratifiziert und damit die Interessen eines Bundesmitglieds – nämlich Schleswig-Holsteins - aufgibt.
Einen Tag später bricht deswegen in Frankfurt ein Volksaufstand aus, der die revolutionäre Stimmung auch in anderen Teilen des Deutschen Bundes anheizt. Während der Barrikadenkämpfe vor dem Portal der Paulskirche kommen zwei Abgeordnete ums Leben, über die Stadt wird der Belagerungszustand verhängt, bevor der Aufstand militärisch niedergeschlagen wird. Am nächsten Tag hält der sichtlich erregte Heinrich von Gagern eine Rede vor der Nationalversammlung, in der er die Abgeordneten zu mehr Mut und Entschlossenheit aufruft:
„Wenn man sich bemüht hätte, Verständigung zu suchen, statt die Leidenschaften aufzuregen und walten zu lassen, statt im Parteigeist sich abzuschließen, wir würden die Ereignisse nicht erlebt haben, wie wir sie haben erleben müssen (…) Es sind Maßregeln zur Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe von den Reichsministerien getroffen worden, und wir werden gewiss zu allem die Hand bieten, was zur Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung notwendig ist (…) Wollen wir die Freiheit, so müssen wir sie mit Maß wollen und ihr Maß lehren; wollen wir die Einheit, so lassen Sie uns vor allem hier einträchtiger zusammenwirken!“
Aber die Herstellung der Einheit unter den Abgeordneten ist genau so schwierig, wie die Herstellung einer staatlichen Einheit. Schnell merken die Delegierten, dass es an allem fehlt: Es gibt keine Hauptstadt, keine nationalen Institutionen, keine nationale Kunst und schon gar keinen Nationalstaat. Alles muss neu geschaffen werden – eine Aufgabe, die noch dadurch erschwert wird, dass die meisten Abgeordneten Professoren und Akademiker sind. Ihre Neigung den Dingen mit akribischer Genauigkeit auf den Grund zu gehen, verhindert pragmatische Entscheidungen und lähmt ihre Handlungsfähigkeit. Während in der Frankfurter Paulskirche die Abgeordneten wochenlang um die Ausgestaltung der Bürgerrechte, die Meinungs- und Pressefreiheit debattieren, werden genau diese Rechte in einigen Staaten des Deutschen Bundes außer Kraft gesetzt.