Читать книгу Die Genese Europas III - Matthias von Hellfeld - Страница 23
Ökonomischer Wandel
ОглавлениеEs scheint ein Widerspruch zu sein: Während sich – vergleichbar mit dem Pendelschlag einer Uhr – die politischen Verhältnisse nach den revolutionären Jahren wieder zurück bewegen, erleben die Menschen einen Schwindel erregenden ökonomischen Wandel. Überall entstehen Fabriken, Hütten und Gruben, die auf neue Produktionsmittel setzen und Arbeitsplätze schaffen. Wie ein Spinnennetz breitet sich die Eisenbahn über Deutschland aus und bringt nicht nur die Menschen aus verschiedenen Orten schneller zueinander, sondern befördert auch ein Wirtschaftswachstum, das den Konjunktureinbruch der 40er Jahre vergessen lässt. Die Lebensumstände der Arbeiter bleiben dennoch trostlos. Sie verbringen ihre besten Jahre in eintönigen, lärmenden Maschinenhallen und haben nichts als ihre Haut, die sie zu Markte tragen können. Viele von ihnen resignieren und verlassen das Land. Mehr als eine Million Deutsche wandert zwischen 1850 und 1860 nach Amerika aus, wo sie auf eine Teilhabe an dem ungeheuren Wirtschaftsboom des jungen Landes hoffen. Die Einwanderer aus Deutschland haben rasch einen erheblichen Anteil am Aufstieg der Vereinigten Staaten von Amerika, müssen aber auch die Kehrseite der Medaille schlucken: Den Sezessionskrieg, der zwischen 1861 und 1865 in der neuen Welt tobt und mehr als 600.000 Tote fordert.
Der Massenexodus hinterlässt in Deutschland eine erhebliche Lücke in der Arbeiterschaft, gleichzeitig reduziert die Abwanderung aber die Zahl der Hungermäuler, die die industrialisierte Gesellschaft Tag für Tag ausspuckt und nicht ernähren kann. Die Menschen müssen der Arbeit folgen, am Ort ihrer Geburt finden sie meist keine Beschäftigung. Die industrielle Revolution fordert Mobilität, die die Eisenbahn gewährleistet. Ländliche Handwerker ziehen in die schnell wachsenden Städte, städtische Unternehmer siedeln sich in den Industriemetropolen an und ein immer größer werdender staatlicher Verwaltungsapparat zieht ein neu entstehendes Heer von Beamten nach sich.
Der rasante Wandel und die massenhafte Mobilität machen das Leben unsicher und vermitteln ein Gefühl dauernder Bedrängnis durch Neuerungen, die diesen Kreislauf noch beschleunigen. Der Trostlosigkeit ihrer Arbeit folgt ein Zusammenbruch aller sozialen Systeme, in denen sie bis dahin gelebt haben. Gleichzeitig merken die Menschen aber auch, dass das Deutschland größer ist als die von ihnen überschaubare Region. Sie erfahren, dass der ostelbische Junker, der sich in rheinischen Verwaltungsstuben als Landrat versucht, ebenso Deutscher ist, wie der katholische Westfale, der im protestantischen Preußen arbeitet. Die Beschleunigung des Lebens führt nicht nur zum Zusammenbruch der alten Werte, sondern auch zu einem neuen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl.