Читать книгу Tod am See - Max van Berque - Страница 12
8 Weg nach Waren
Оглавление110 Umdrehungen in der Minute zeigte sein Radcomputer an. So oft sausten Hardys Füße auf den Fahrradpedalen im Kreis. Die Kurbeln brachten die Kraft seiner Beine schon seit Stunden auf die Landstraße. Hardys Blick haftetet am weißen Strich der Fahrbahn. Immer eine Handbreit neben dem schwarzen Gummi seines Vorderreifens rauschte das weiße Band mit knapp zehn Metern in der Sekunde entlang. Eine Bewegung in den Schultern, ein Zucken in der Hüfte und der Abstand zwischen Strich und Reifen wuchs. Eine Windböe, die übers freie Feld gerauscht kam, konnte ihn in den Straßengraben drücken. Von Zeit zu Zeit richtete er seinen Blick, ohne seinen Kopf merklich zu heben, nach vorn. Das Bild, vor seinen Augen, wechselte von Monochrome auf farbig. Die Landstraße war menschenleer, der Wind sein Freund. Er trieb ihn vor sich her gen Norden. Er hörte nur das gleichmäßige Abrollen der Reifen auf dem Asphalt. Er war in seinem Element. Dass er sich auf dem Rad so wohl fühlte, wie vor zwanzig Jahren verdankte er dem Holländer Gerrit Gaastra und seinem Team von Idworks. Er hatte das Exemplar unter seinem Hintern zu verantworten. Das Rad glitt über jede Unebenheit hinweg. Bei der Erinnerung an seine ersten großen Touren schmunzelte er. Damals hätten sie ihm so ein Rad hinstellen sollen. Er hätte nicht geglaubt, dass es so angenehm sein kann zu Reisen. Das perfekte Reiserad lud, während er fuhr, sein Smartphone. Und vor 20 Jahren hätte ihn niemand verstanden.
Ihm stieg der Duft von frischem Harz in die Nase. Kiefernwälder mit ihren langen astlosen Stämmen und Birken mit weiß glänzender Rinde zogen an seinem Auge vorbei. Ihre Wurzeln liebten den sandigen Boden, der zwischen den Bäumen mit frischem Gras bedeckt war. Hardy hörte die Melodie seiner Reifen. Dieses monotone Singen brachte ihn seinem Ziel mit jeder Kurbel Umdrehung näher. Für ihn war Radfahren Reisen mit allen Sinnen. Die verschiedenen Düfte der wechselnden Landschaften. Die unterschiedlichen Temperaturen. Wenn er ein schattiges Waldstück verließ und damit die feuchte Kühle der Bäume mit dem strohigen Duft einer trockenen Wärme wechselte. Mit mit jeder Stunde, mit der sich die Sonne vom Horizont erhob, dufteten die sommerlichen Felder intensiver. Nicht mehr lange, dann brachte die Sonne die Luft zum Vibrieren. Er genoss den Luxus auf dem Rad zu Reisen.
Die Zeit, die es kostete, sich so zu bewegen, war der Luxus.
Zeit, die sich heute keiner mehr nahm. Dabei ging alles schneller. Kaum noch etwas das man selbst tun musste. Sein Geschirr räumte er in den Geschirrspüler. Für die Banküberweisung ging er nicht mehr vor die Tür, er stand nicht einmal auf, immer mehr ging heute online. Das Radfahren war für ihn hautnahes Erleben und er genoss es. Vor Wanderern zog er den Helm. Die nahmen sich noch mehr Zeit.
Hardy versank in einen Zustand, in dem er sich von außen beim Fahren zusah. Irgendetwas störte seine Harmonie. Schob dieses Gefühl beiseite. Er erinnerte sich an Clara. Vielleicht sollte er sie fragen, ob sie ihn begleitet. Einfach ein paar Tage zusammen wegfahren. Er wollte schnell machen, damit die Angelegenheit in Waren nicht aus dem Ruder lief. Dann könnte er Rosis Rat folgen und Urlaub machen. Er überlegte, ob er Clara am Telefon fragen sollte, ob sie ihn begleitete? Er wollte diese Frage spontan entscheiden. Jetzt war etwas anderes wichtiger.
Mit steigender Sonne stieg ein Gefühl der Kraftlosigkeit in ihm auf. Es war nicht die übliche Entkräftung, er fühlte sich schlapp. Er brauchte eine Pause. Hätte er auf Rosi hören sollen? Sie hatte ihn gewarnt. Abends alle Speisen in den Kühlschrank zu stellen. Sein Blick scannte die vorbeiziehende Landschaft. Er suchte einen Platz, an dem er sich Erleichterung verschaffen konnte. Sein Bauch sagte ihm, dass er den nicht irgendwann brauchte, sondern jetzt. Er riss den Lenker herum. Zwischen den dicken Alleebäumen hätte er die Gelegenheit fast verpasst. Das Vorderrad rutschte über den losen Untergrund. Von der Landstraße führte der staubige Weg steil hinab in die Felder. Breit genug, für die Schlepper der Landwirte. Rechts Mais, soweit er sehen konnte, links säumte Buschwerk den schnurgeraden Sandweg, bis hinauf zu einer Hügelkuppe. Für die Details der Landschaft hatte Hardy keinen Blick. Er verlor das Gleichgewicht. Als er aufstand, blutete seine Hand. Wo waren die Papiertaschentücher? Eilig suchte er in der Packtasche. Er ertastete die kühle Verpackung. Sein Rad ließ er liegen. Er rutschte die ersten Meter auf seinen harten Sohlen, die ihm kaum Halt auf dem Untergrund boten. Fahrradschuhe waren toll. Zum Fahrradfahren, zum Laufen waren ihre brettharten Sohlen nicht zu gebrauchen. Er riss sich sein Trikot über den Kopf und kam blind ins Straucheln. Radlerkleidung hatte ihre unpraktischen Seiten. Seine Hose mit den Trägern konnte er nur ausziehen, wenn er vorher das Trikot über den Kopf gezogen hatte. In letzter Sekunde riss er die Träger seiner Radlerhose von den Schultern. Bei seinem zweiten Sturz musste er die Papiertaschentücher verloren haben. Ins Gebüsch hatte er es nicht mehr geschafft. Er atmete tief durch. Unter diesen Umständen fand er das Ergebnis nicht schlecht. Er schloss die Augen und war dankbar, dass er inmitten dieser riesigen Felder einen Flecken gefunden hatte, an dem er allein und unbeobachtet war. Jedenfalls glaubte er das.