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3 Die Karte

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Sie hatten ihm eine Million überwiesen. Auf dem Esstisch vor ihm lag der Kontoauszug. Zweimal im Jahr stand diese Summe dort. Als das Geld zum allerersten Mal dort landete, folgten zwei duzend Visitenkarten mit Empfehlungen von Anlageberatern und Consultants.

Steuervermeidung war ihr Stichwort. Jeder Einzelne wollte, ihm professionell helfen, seine Steuern nicht an den Staat zu zahlen. Nebenbei strichen sie dafür einen ordentlichen Teil des übriggebliebenen Geldes ein.

Die Krawatte hatte er gelockert, das Jackett über die Stuhllehne gehängt. Heute musste er erst spät ins Unternehmen. Solche Tage waren selten. Er genoss sie. Er nutzte die Zeit für die Zeitungslektüre und studierte die Wohnungsanzeigen bei einer Tasse Tee. Er saß am Esstisch, des großzügig geschnittenen Esszimmers, das von der Küche nur durch einen Tresen getrennt war und offen in das Wohnzimmer überging.

Er suchte nach einem Klebezettel, es war kein Tee mehr da. Er musste welchen kaufen. Einen Moment überlegte er, ob er Jelena bitten sollte, dies zu erledigen. Sonst regelte seine Frau solche Dinge, aber sie war für ein paar Tage verreist.

Von den Visitenkarten hatte er nicht eine der Nummern gewählt. Er hatte sogar Termine abgesagt, um diesen Menschen nicht zu begegnen. Deshalb überwies er Jahr für Jahr über die Hälfte dieses Geldes, an das Finanzamt. Den größeren Teil des Geldes, was ihm noch blieb, spendete er. Er tat das nicht öffentlichkeitswirksam vor Kameras, sondern still. Er ließ diese Zahlungen nicht quittieren, konnte sie also auch nicht beim Finanzamt absetzen. Zum Unverständnis der Kollegen, die davon Wind bekamen. Er hatte sich oft gefragt, wie sie davon erfahren hatten. Bis ihm eine Idee kam.

Vor ihm auf dem Tisch lag eine Visitenkarte. Noch eine. Wolfgang Labhaus hatte sie da gelassen. Mit dieser Visitenkarte war es anders. Er hatte die Nummer gewählt und eine Verabredung getroffen. Heute. Die Ereignisse und was er erfahren hatte, konnte er noch nicht einsortieren. Er griff nach seinem Handy. Er musst mit Jelena sprechen. Sie hatte auf alles einen unverstellten Blick. Er fragte sich, ob sie nicht sowieso heute käme?

Sie hielt das Infomaterial dieses Beraters Labhaus in den Händen und stellte fest, das Ihr Freund Adam recht hatte. Es klang gruselig. In den dem Prospekt gab er sich nachhaltig. Deshalb war er wohl auch nicht auf Hochglanzpapier, sondern betont umweltfreundlich auf mattem, grau schimmernden Papier gedruckt. Es klang ein bisschen nach: Wir lösen jeden Fall. Das war es aber nicht. Immerhin war der Mensch Finanzexperte und versprach bei diversen Großprojekten Erfolg. Sie verstand nicht wirklich, was er sagen wollte. Aber sie ahnte, dass er gefährlich war.

Vielleicht wäre Adam noch am Leben, wenn sie ihr Handy eingeschaltet hätte? So hatte sie seinen Anruf verpasst. Auf der Mailbox hatte er irgendwas von gruselig gesprochen und, dass er unbedingt mit ihr reden müsste. Das alles hatte sie erst einen ganzen Tag später gehört. Im Trubel mit der Polizei war es schlicht untergegangen.

Vor dem Fenster folgte sein Blick einer Biene. Er zweifelte einen Moment an seinen Sinnen. Im Hals spürte er ein Kribbeln. Er stutzte. Sollte ihn eine Biene gestochen haben? Das unangenehme Gefühl nahm zu. Das Atmen fiel ihm schwerer. Er schmunzelte. Zur Hypochondrie neigte er schon immer. Jetzt reichte der Anblick eines Insekts und sein Gehirn löste Alarm aus. Er wandte sich seiner Lektüre zu.

Das Zeitungspapier raschelte unter seiner krampfenden Hand. Schweiß trat auf seine Stirn. Er verstand nicht gleich. Seine Atemnot begleitete ein fieses Kribbeln und Jucken im Rachen das sich pulsierend in seinem Körper auszubreiten schien. Irritiert sah er zu der Biene hinüber. Sie war verschwunden. Er suchte nach Einstichen an seinen Unterarmen und den Händen.

Er wusste immer noch nicht, was mit ihm geschah. Sah auf den Tee. Daneben stand nur eine Schale Nüsse auf dem Tisch. Er schüttelte seinen Kopf.

Das wäre ihm nicht passiert. Plötzlich spürte er diese Angst in ihm aufsteigen. Die Angst, verwundbar zu sein, begleitete ihn seit Jahren. Das man mit Eiern und Tomaten nach ihm schmiss, brachte sein Job mit sich. Schon diese Angriffe hatte bei ihm ein Gefühl der Ohnmacht und, was er als noch schlimmer empfand, der Ungerechtigkeit hinterlassen.

Dieses Gefühl hatte den tiefen Wunsch in ihm genähert, rauszukommen aus seiner Rolle als Manager. Die Zwänge abzulegen und Menschen einfach so zu begegnen wie sie waren. Er selbst war stets um Fairness und um Harmonie bemüht. Ja er hatte auch diese durchsetzungsstarke Seite, aber der Biss war ihm mit den Jahren abhandengekommen. Nie hatte er diesen Wunsch nach Frieden stärker gespürt als jetzt.

Wer konnte so einen Zorn auf ihn haben, dass er ihn bedrohte? Oder gab es jemanden, der ihn und seine unsichtbare Schwäche kannte, und ihm schaden wollte? Seine Stimmung schlug um. Er schrie. Noch wusste er nicht, dass sein Schrei ein Fehler war. Die Gefahr sah er noch nicht.

Er war es gewohnt Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu tragen und das Unternehmen, zu repräsentieren. Er achtete er auf ein gepflegtes Äußeres. Seine silbernen Schläfen verrieten seine fünfzig Jahre. Der maßgeschneiderte Anzug, seinen gediegenen Geschmack. Auf Reisen und bei öffentlichen Auftritten verlangte die Versicherung Personenschutz.

Jetzt verfiel er in Hektik. Sprang er auf. Sein Verstand verriet ihm, während die erste Welle dieses Kribbelns im Rachen nachließ, dass er nicht aufgepasst hatte. Und das eine zweite Welle folgen würde. Er hatte Angst. Er bewegte sich in seiner vertrauten Umgebung, hier passte er nie auf. Nicht mehr, als die Routine es von ihm verlangte. Er lebte ein Gefühl der Sicherheit, dass vielleicht jemand ausgenutzt hatte. Sein Stuhl schlug hinter ihm auf das Parkett aus den siebziger Jahren. Er starrte auf die Tasse vor ihm und auf die Teebeutel, die noch in der gläsernen Kanne hingen. Seine Augen aufgerissen, stürzte er aus dem Wohnzimmer. Er hatte keinen Blick für den englischen Rasen, der sich hinter den Panoramascheiben in sattem Grün bis zu den hochgewachsenen Buchen am Ende des Grundstücks erstreckte. Er lief vorbei an der verspiegelten Wand im Eingangsbereich, nahm zwei Stufen auf einmal. Fast oben, nahm er drei Stufen. Zuviel. Die Spitze seines polierten Schuhs blieb an der obersten Stufe hängen. Die zweite Welle traf ihn härter. Pfeifen und Röcheln verrieten, dass auch mit seiner Lunge etwas nicht stimmt. Er spürte, dass es eiliger war, als er angenommen hatte.

Er strauchelte, schlug auf den Boden. Sein Blick war starr auf die Badezimmertür gerichtet. Dort befand sich sein Notfall-Stick. Er spielte die Griffe mit dem Adrenalinstick vor seinem inneren Auge durch. In wenigen Sekunden sollte er den handlichen Stift mit der rettenden Flüssigkeit in seinen Oberschenkel rammen. Seine Knie schmerzten vom Sturz. Die Stimme seiner Ärztin im Ohr: »Stoßen Sie den Stick in Ihren Oberschenkel. Wenn Sie ihn in den Finger rammen, platzt er.« Dabei hatte sie nicht gelächelt, wie sie es sonst bei Scherzen tat. Er schloss daraus, dass es kein Scherz war, und hatte Nachfragen unterlassen.

Seine Lunge pfiff. Unmengen Luft musste er in beide Lungenflügel saugen, damit ein bisschen Sauerstoff seine Blutbahn erreichte. Er musste sich beeilen, das wusste er. Es war ein Wettlauf zwischen ihm und der Ohnmacht. Ein Rennen zwischen Leben und Tod. Blieb seine Lunge zu lange ohne Sauerstoff, stieg das Kohlendioxid in seiner Blutbahn. Bewusstlosigkeit wäre die Folge. Soviel wusste er. Dieses Rennen musste er gewinnen. Längst dachte er an nichts anderes mehr. Die Anstrengung, am Leben zu bleiben, verdrängte seine Wut. Die nächste Aufgabe war wichtiger, als die Frage, wer ihm das angetan hatte. Wer wollte ihn umbringen? Es musste ein Mordversuch sein. Jetzt interessierte es ihn nicht. Sein Wutschrei, hatte ihn zu viel Kraft gekostet. Schwankend stand er auf. Seine Hände suchten an der Wand nach Halt. Die teuren Drucke in den edlen Rahmen, von seiner Frau ausgesucht, von ihm bezahlt, schlugen auf den Boden. Ihr Glas zerbarst. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter lautem Pfeifen. Mit zitternden Händen wühlte er in den Schubladen neben dem Badezimmerspiegel. Da lag der Stick. Eigentlich lag er da. Jetzt war der Notfall-Stick weg. Schweiß trat auf seine Stirn. Was er im Spiegel sah, war nur noch verschwommen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er stürzte raus auf den Flur. Rutsche die Treppe auf seinen glatten Ledersohlen mehr runter, als dass er sie lief. Das Telefon lag in der Küche. Sein Blick war starr, seine Pupillen lieferten nur noch undeutliche Bilder. Er wusste, dass dieses Signal echte Gefahr bedeutete. Er hatte die 112 gewählt. Versuchte zu sprechen. Da senkte sich ein tiefes Schwarz vor seine Augen. Den Aufschlag auf die Küchenfliesen spürte er nicht mehr. Genauso wenig bekam er mit, dass er die grüne Taste an seinem Telefon nicht gedrückt hatte.

Seinen Schrei hatte niemand gehört. Ihn konnte niemand hören. Die Fenster und Türen der gepflegten Villa waren, entgegen der Gewohnheit, säuberlich verschlossen. Wer an diesem Tage in das Haus käme, steckte erst in einer Stunde seinen Schlüssel in das Schloss der Haustür.

Tod am See

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