Читать книгу Tod am See - Max van Berque - Страница 9

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»Acht Uhr morgens? Was glaubst du, wie lange wir bleiben?«, fragte Rosi zu laut. Sein nachwachsender 17 Uhr Bart kratze ihre Wange. »Aua.« Mit uns meinte Rosi sich und die anderen Gäste. Hardy standen die Schweißperlen auf der Stirn. Er blickte sie aus großen Augen und mit offenem Mund an. Die beiden kannten sich eine gefühlte Ewigkeit und wussten, dass Rosi seine Achillesferse erwischt hatte. Sie musste ihm auf die Sprünge helfen.

»Hast du nicht gesagt, du hättest dich breitschlagen lassen, nach Waren zu kommen?«

»Ja, aber erst um acht Uhr abends.«

»Weißt du, wo Waren liegt?«

»Nee, also doch, an den Seen da oben im Norden.«

»Hast du dir ein Auto gekauft?«, in ihrer Frage lag ein hinterhältig, verschlagener Unterton.

»Sag mal was, haben sie dir denn gegeben? Warum sollte ich mir ...?« Er brach im Satz ab. Außer Atem stoppte er auf der steilen Treppe. Er hatte kein Auto und sie wusste das. Weil sie das meiste, über ihn und alles über seine Finanzen wusste. Seit er ihr seinen Teil der gemeinsamen Firma überschrieben hatte, gab es auch in diesem Bereich höchstens noch die eine oder andere Überraschung für ihn. Üblicherweise, wenn die Steuer fällig war. Nicht dass er auf sein Mitspracherecht verzichtet hätte, aber seine Ex machte ihm zu schaffen, wollte das Letzte aus ihrer Scheidung herausholen. Er hatte kurzerhand, alles Rosi überschreiben. Die damit nicht nur die alleinige Besitzerin ihrer Medienproduktion war, sondern offiziell Zugang zu allen Konten hatte. Er müsste sie zu jeder Ausgabe befragen. Wo er im Traum nicht dran dachte.

Dieses Mal hätte er sie fragen sollen. Sein Zeitplan und die Entfernung passten nicht. Nicht wenn er, wie üblich, seine privaten Wege mit dem Rad erledigte. Er schüttelte seinen Kopf. Sagte aber nichts. Er hatte diesen Frank schon an der Uni nicht leiden können.

Rosi drückte er gegen seinen Oberkörper, seine Füße tasteten, auf der steilen Außentreppe seines Hausbootes nach der nächsten Stufe. Den Weg aufs Oberdeck hatten sie noch nicht hinter sich gebracht, da spürten beide das Vibrieren seines Handys in der Brusttasche. Sie sah ihn mit finsterer Miene an. »Wehe«.

Tief unter ihnen glitzerte die Spree. Hardy geriet ins Schwanken. Für einen Moment drohte er das Gleichgewicht zu verlieren. Fing sich aber wieder. Rosis Rollstuhl stand an Land. Er lächelte verlegen.

»Lass die Termine übers Büro laufen, dann passiert dir so ein Quatsch nicht.«, antwortete Rosi auf seine zerknirschte Miene. »Der Typ hat mich gerade eben angerufen. Und es ist eilig. Außerdem kann ich dich nicht meine Privattermine machen lassen.«, wehrte er ab.

»Wenn ich deine Unruhe richtig deute, vermutest du in Waren eine Geschichte. Damit ist das kein privater Termin«, erklärte sie spitzfindig.

»Setz mich zu den Getränken, aber nicht zum Prosecco ich brauche ein Bier.«, kommandierte sie. Hardy sah der rothaarigen Frau in ihre blauen Augen, die ihm aus ihrem sommersprossigen Gesicht entgegen funkelten. Er wusste, er konnte sich auf sie verlassen. Ihre Struktur rettete ihn aus seinem Schlamassel. Auch wenn er das nie öffentlich zugegeben hätte, war er ihr dankbar.

»Musst du nicht noch fahren?«, kalauerte er mit einem Blick auf ihren Rollstuhl. »Und wolltest du nicht bei diesem Fitnessstudio ...?«

»Ganz kalt!«, schnitt er Rosi, die immer noch auf seinen Armen saß, das Wort ab. Sie quittierte sein fragendes Gesicht mit samtweicher Stimme. »Das Bier. Ich hätte es gerne gut gekühlt«.

Er setzte sie sanft auf einen Stuhl, am Buffet, trat einen Schritt zurück und deutete eine Verneigung an. Auf dem Weg zur Treppe fingerte er endlich nach seinem Smartphone.

Er sah zu den schwarzen Plastikwannen, in denen die Bierflaschen in mehr oder weniger kaltem Wasser ihre Etiketten verloren. »Denk nicht mal dran!« Rosi wusste, dass er einen gut gefüllten Getränkekühlschrank an Bord hatte.

Sie betrieben mit ein paar Kollegen eine Medienproduktion. Die meisten Aufträge waren TV-Produktionen. Deren Organisation brach jedes Jahr einmal zusammen. Wenn Rosi im Sommer Urlaub machte.

Sie musterte anerkennend seinen Po in der eng sitzenden Jeans. »Aus dem Glas ...«, rief Rosi ihm hinterher.

»Sehr wohl, die Dame, aus dem Glas. Wie auch sonst? Bei einer Stehparty.« Wer die beiden nicht kannte, konnte diese Anspielung angesichts ihrer gelähmten Beine falsch verstehen. Der derbe Ton drückte eher Vertrauen aus. Das ging weit über ein kollegiales Verhältnis hinaus.

Er hörte die Wahlwiederholung, die Nummer war in seinem Gerät nicht gespeichert, zeigte keinen Namen an.

»Hallo, ähm, eine Sache. Ich habe hier heute ...« Frank erkannte ihn und plapperte los, als hätte er seinen Anruf erwartet. »Super, das du dich nochmal meldest. Das geht nicht. Nicht bei mir und nicht morgen. Ich bringe meine Familie in Sicherheit. Dafür brauche ich zwei Tage. Übermorgen um acht am Stadthafen. Ich schicke dir die Adresse«.

Hardy fühlte sich überrumpelt und erleichtert. Genau das wollte er vorschlagen. »Siehst du«, hörte er aus dem Telefon. »Wir verstehen uns blind. Mann Alter, wie ich mich freue. Du ich muss!« Dann war die Leitung tot. Hardy stand verdutzt in seiner Kombüse. Wenigstens einer, dachte er.

Kaum aufgelegt, klingelte sein Telefon wieder. Nach zwei Navigationshilfen für seine Gäste kehrte Hardy auf das sonnige Oberdeck zurück. Auf der steilen Treppe balancierte er ein riesiges Tablett. Es hätte gut und gerne einem üppigen Frühstück für zwei Personen Platz geboten. Jetzt diente es einigen Gläsern und drei kühlen Flaschen Bier und einer angebrochenen Tüte Twix. Die fehlte weder auf seinem Schreibtisch noch in den Produktionswagen.

»Warum drei Flaschen? Mir reicht eine.«

»Weil es so schön bunt ist. Stammen alle direkt aus der Braumanufaktur Potsdam. Du hast die Wahl zwischen dem Hellen, der Weissen und der Potsdamer Stange.« Rosi sah ihn fragend an. »Nimm das Babyblaue. Ist die Weiße aus dieser Biobrauerei und erfrischt. Ich sag nur, Sauer macht lustig.«

»Diese Kiste da ...«, sie zeigte auf seinen Röhrenfernseher. Er hatte ihn extra für den heutigen Abend aus seinem Wohnzimmer auf das Oberdeck geschafft. »Was ist das?«, vollendete sie ihre Frage, ohne sich einen kämpferischen Unterton zu verkneifen.

»Rosi, dein Weg hierher war anstrengend. Trink erstmal was, dann erkläre ich dir die Welt.« Sie schwieg, was ihn überraschte. Er schenkte ihr ein. Erst als er ihr das Glas reichte, bemerkte er, dass sie in ihrem Telefon nach einer Nummer suchte.

»Mein Lieber wir werden heute über 20 Leute sein. Mit dieser Kiste aus dem historischen Museum kann nicht mal die Hälfte irgendwas sehen. Die Jungs wollten sich den Bulli für das Wochenende leihen. Die sollen in der Redaktion vorbeifahren und den Beamer und eine Leinwand mitbringen.« Die Jungs, das waren ihre jüngeren Kollegen. Hoch engagiert, jedenfalls die meisten und alle zählten zur Generation irgendwas mit Medien. Auf unterschiedlichen Wegen waren sie in ihrer Produktionsfirma gelandet und verdienten ihren Unterhalt zum Leben oder machten Praktika. Die Hierarchien waren flach. Beide Chefs saßen auf dem Dach des Hausbootes und die Stimmung war gut. Wer im richtigen Moment danach fragte, konnte das Arbeitsequipment, zu dem auch Autos zählten, ausleihen.

»Bevor ich es vergesse,« hob Rosi an. Diese Worte lösten bei Hardy einen natürlichen Fluchtreflex aus, denn er ahnte, was folgte.

»Wo ist deine aktuelle GEMA-Liste oder wolltest du denen die Liedtitel, die du in deinem Stück verwendet hast, vorsingen?« Hardys Empörung war gespielt, beide wussten, was er über solche Formalia dachte.

»Was denn? Hat Robert dir die Liste nicht geschickt?«

»Robert war bis vor ein paar Wochen noch Praktikant. Du kannst nicht alles, was nach Formular aussieht, von den Praktikanten ausfüllen lassen.« Hardy sah sie verständnislos an.

»Warum? Das Erste was ich im Job lernen musste, war Ordnung.«

»Ich vermute, dass du in dieser Zeit durch Abwesenheit geglänzt hast.«

»Lange her.«

»Chaot«.

Jetzt wo auch der große Flatscreen aus der Redaktion organisiert, und klar war, an wen Rosi sich wegen fehlender Listen wenden konnte, setzte sich Hardy auf den Stuhl neben sie. Er prostete ihr zu.

»Schön, dass du da bist.« Hardys Stimme klang echt und müde.

»Du solltest jetzt ein paar Tage frei machen. Habe ich unten deinen Gleitschirm gesehen?« Er nickte.

»Ich sehe zu, dass ich das in Waren schnell über die Bühne kriege und dann bin ich weg, versprochen.«

»Kann es sein, dass du vor was wegläufst?«

Fast hätte er die Leiher von einer alten Freundschaft abgelassen. Aber dafür kannte Rosi ihn zu gut. Den Typen, der ihn angerufen hatte, kannte er kaum noch. Ja er wollte weglaufen. Das, was er in den zurückliegenden Monaten durchgemacht hatte, begriff er immer noch nicht. Es war eine Art Blitzscheidung gewesen, die ihm einer Gewissheit beraubt hatte.

Dass Menschen sich ändern, konnte er verstehen. Dass sie sich trennen auch. Aber warum aus Partnern bittere Feinde werden sollten, widersprach seinem Menschenbild. Dass er selbst nicht obdachlos geworden war, verdankte er nur Rosi, die weitsichtig genug war, ihn zu schützten.

Vielleicht war die Angst, dass es jeden treffen konnte, die Motivation für seine Reportage geworden. Auf einmal stehst du ohne da. Ohne Dach, ohne Familie ohne Freunde. Das hatte ihm einer der Menschen gesagt, die er für seine Reportage gesprochen hatte. Es stimmte, dass auch Arbeitsabbrecher dabei waren, solche die keine Ausbildung hatten, aber oft waren es Menschen, die mitten im Leben gestanden hatten. Menschen, die dann mit einer Sache nicht mehr klar kamen. Entweder war es der Alkohol, Job oder Beziehung. Diese drei Punkte kamen in allen Reihenfolgen vor. Was den Anfang machte, war bei jedem, dieser Obdachlosen unterschiedlich. Entweder machte der Alkohol ein Leben unmöglich oder der Job war weg oder die Beziehung zerbrach. Egal, was am Anfang stand, wenn alle drei Punkte erfüllt waren, saßen die meisten auf der Straße. Und da wieder wegzukommen war für die Berber, wie sie sich nannten verdammt schwer. Er hatte diese Menschen begleitet und er hatte Menschen zum Interview getroffen, die sich tagtäglich um sie kümmerten. Eine Frau war dabei, die ihm sagte, dass keiner dauerhaft auf der Straße lebte, der psychisch gesund war. Bei einigen Menschen war ihm die Reihenfolge dieser Ereignisse nicht klar geworden. Er wusste nicht, ob sie auf der Straße lebten, weil sie krank waren oder ob sie die Straße krank gemacht hatte. Mit Romantik hatte das alles nicht zu tun. Persönlich mitgenommen hatten ihn die Gespräche mit einem amerikanischen Pärchen. Beide über 50. Sie lebten als Akademiker in ihren Kombis, weil sie sich trotz Arbeit keine Wohnung mehr leisten konnten. Das Märchen vom Tellerwäscher hatte Kratzer bekommen und war ihm bei der Recherche zur Obdachlosigkeit vor die Füße gekracht.

Unten am Ufer glänzte der Rollstuhl immer noch in der abendlichen Sonne. Freunde und Kollegen hatten den Weg zum Seitenarm der Spree gefunden. Das Boot lag im Tiergarten auf der Rückseite der Zoos. Wie die anderen Hausboote an dieser Stelle, von der Straße aus schwer zu sehen. Wer die Liegeplätze kannte, fand den sandigen Pfad. Alle, die den Einstieg direkt hinter der Bushaltestelle nicht kannten, liefen vorbei. Die wackelige Holzbohle zum Hausboot blieb keinem Gast erspart. Dahinter öffnete sich für die Städter eine neue Welt. Schwankender und weiter, als sie es aus ihren Wohnungen kannten. Sie genossen die relaxte Location, wie es die jüngeren Kollegen nannten. Wasserbettfeeling nicht nur im Bett, sondern überall auf dem Boot. Ständig war eine sanfte Bewegung zu spüren. Das war nicht jedermanns Sache.

Tod am See

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