Читать книгу Tod am See - Max van Berque - Страница 18
13 Noch mehr Polizeifragen
ОглавлениеIhr Mund stand offen. Ihr Kopf war voll. Wie in einer Achterbahn rasten ihre Gedanken durch die vergangenen Wochen und Monate ihres Lebens. Seit es passierte, waren fast zwei Jahre vergangen. Wie heute hatte es geregnet. Sie war gerade dabei, das Schloss an ihrem Fahrrad zu öffnen, da kam er nach Hause. Er parkte seinen Mercedes nicht, in der Garage, sondern direkt neben ihr und ihrem Rad. Durch das offene Beifahrerfenster bot er ihr an, einzusteigen. Sie lehnte ab. Es war ihr unangenehm. Der Regen, die Nässe, außerdem brauchte sie ihr Rad am nächsten Tag.
Dann war er ausgestiegen. Raus in den strömenden Regen. Sie hatte er auf den Beifahrersitz gesetzt, ihr Rad wortlos in den Kofferraum gelegt. Sie kannte ihn kaum. Trotzdem hatte sie es zugelassen. Er war überzeugend. Sanft, aber bestimmt.
Er hatte sich nach ihr erkundigt. Was sie gemacht hatte, bevor sie nach Deutschland kam, nach ihren Plänen gefragt. Vorher hätte sie nicht einmal sagen können, welche Farbe seine Haare, geschweige denn seine Augen hatten. Außer ein paar höflichen Worten, konnte sie sich kaum an Begegnungen mit ihm erinnern. Mit einem Mal saß er auf ihrem Bett in ihrem Kellerapartment. Die nassen Haare mit einem Frotteehandtuch zerzaust. Ein Dosenbier in der Hand. Sie hatten über Musik gesprochen und was sie vom Leben erwartete. Sie war nicht mehr das Mädchen, was putze und den Haushalt zusammenhielt. Er war nicht mehr der distanziert, freundliche Hausherr, der seine halbvollen Kaffeetassen auf dem Esstisch stehen ließ. Frotteehandtuch und Dosenbier machten einen Menschen aus ihm.
Er brachte sie ab diesem Tag immer wieder mal nach Haus, nicht nur bei Regen. Musik, ferne Länder, Nachrichten, sie sprachen über alles. An einem Abend erwartete Sie ein paar Freundinnen und fing an zu kochen. Er saß auf dem Bett, er nippte am Bier.
Er stellte sich zu ihr und kochte, es machte ihm Spaß. Dabei hatte er nach seinem Studium nie gekocht. Er ließ kochen. Er war nicht einmal gegangen, als die Freundinnen kamen. Später waren sie gemeinsam in sein Häuschen auf Mallorca geflogen. Offiziell waren es Dienstreisen gewesen. Als ungleiches Paar lebten sie ihr junges Glück. Sie war zwanzig Jahre jünger. Er, der in der Wirtschaft erfolgreiche Chemieprofessor, sie die Chemikerin ohne Anstellung, die putzen ging. In einer Kellerwohnung lebte und die Villen der Professoren und Ärzte sauber hielt. Zuerst sah es für sie aus, wie eine Flucht aus einem Leben, in dem er zwar alles erreicht hatte, was ihm aber keine Freiheiten mehr ließ. Dann wuchs aus diesem Chaos, der planlosen Flucht, eine Idee für eine Zukunft. Irgendwann saßen sie barfuß auf diesem alten Holzsteg, die Hosenbeine hochgeschlagene. Ihre Füße baumelten im Wasser. Sie aßen Pizza aus dem Karton und tranken Bier aus der Flasche. Die Ärmel hochgekrempelt, die Haare vom Wind zerzaust. Später hatte sie auf dem Steg gelegen und Wolkengeschichten erzählt. Jeder erzählte zu seiner Wolke eine Geschichte. Je stärker der Wind wehte, desto schneller mussten sie erzählen. Ständig trieb der Wind neue Formen vor den blauen Himmel. Sie hatten sich geliebt. Einfach so auf dem alten Steg über dem gurgelnden Wasser. Es war eine Welt ohne Etikette, keine Empfänge und kein Blitzlichtgewitter. Es war das Gegenteil von dem, was er bis dahin gelebt hatte. Er machte ihr Geschenke, völlig planlos und chaotisch. Keine Geschenke, zu denen er die Sekretärin losschickte, um eine Aufmerksamkeit zu besorgen. Persönliche Dinge. Ein Buch, Lederstiefel, die sie im Vorbeigehen in einem Schaufenster entdeckt hatten und die viel zu hoch waren. Sachen, die sie allein nie gekauft oder angezogen hätte. Es gab nichts Peinliches.
»Wir finden keine Einbruchsspuren.« Mit einer Kopfbewegung Richtung Küche, wo die Leiche lag: »Er muss in die Pathologie.« Es waren zwei Männer ohne Uniform, die sich nicht für die kleine Gruppe vor dem Sofa interessierten. Immer noch hockten der Arzt im karierten Flanellhemd und die freundliche Polizistin mit dem schwarzen Notizbuch vor ihr. Bis jetzt hatte sie auf einen schrecklichen Zufall gehofft. Hatte geglaubt, dass er und sie das Geheimnis zwischen zwei Menschen gelebt hatten. Jetzt spürte sie, dass es mindestens drei waren. Das schwarze Notizbuch der freundlichen Polizistin blieb leer. Sie musste herausfinden, ob es jemanden gab, der ihr Geheimnis kannte und um ein weiteres wusste, dass gefährlich war. Sie glaubte nicht an einen Unfall.
Die Polizistin sprach mit ihrem Kollegen. Jelena überlegte einen Moment ob sie aufspringen und zu ihrem Fahrrad laufen sollte. Noch konnte sie fliehen. Die Beamten hatten offenbar Verdacht geschöpft und das war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie würde unter Mordverdacht keine Arbeitserlaubnis oder einen deutschen Pass erhalten. Aber Gedanken an ihre eigene Zukunft machte sie sich jetzt keine. Es waren eher Reflexe aus der Vergangenheit.
Jelena zählte die Fakten zusammen. Es gab keine Einbruchsspuren. Sie war mit ihrem Schlüssel ins Haus gekommen. Dass ihr Verhältnis zum Professor keine Normales war, hatten die Beamten spätestens nach der vollgekotzten Terrasse mitgeschnitten. Verdammt dachte sie, die nehmen mich fest. Ich bin Chemikerin, komme ins Haus, mache mir Hoffnungen auf mehr und jetzt liegt er tot in der Küche.
Sie konnte auch in Krisen klar denken. Sie hatte es immer wieder bewiesen. Diese Stärke musste sie jetzt nutzen. Schnell, bevor man ihr die Möglichkeit zum Handeln nahm.