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3. Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken

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Den zweifellos größten Einfluss auf das nationale Wettbewerbsrecht hat heute die Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-RL),[99] die 2019 durch die RL (EU) 2019/2161 geändert worden ist.[100] Sie bezweckt im Gegensatz zur RL 2006/114/EG – und mit Ausnahme des Art. 3 Abs. 5 UGP-RL i. d. F. von Art. 3 Nr. 2 RL (EU) 2019/2161 – eine „Vollharmonisierung“ der nationalen Rechte[101] und zwingt in dem harmonisierten Bereich[102] zu Anpassungen milderer ebenso wie strengerer nationaler Vorschriften. In Deutschland hat die UGP-RL zu den umfangreichen Änderungen des UWG 2004 durch die Novellen 2008 und 2015 geführt (vgl. Rdnr. 57 ff); weitere Änderungen erfordert die RL (EU) 2019/2161.[103] Die UGP-RL betrifft unmittelbar nur den Geschäftsverkehr mit Verbrauchern. Kernstück der Richtlinie ist in Art. 5 das Verbot „unlauterer Geschäftspraktiken“ (Abs. 1), „insbesondere“ solcher „irreführender“ oder „aggressiver“ Art (Abs. 4). Die irreführenden Handlungen und Unterlassungen werden in Art. 6 und 7, die aggressiven Geschäftspraktiken in Art. 8 und 9 konkretisiert. Ein Katalog von Geschäftspraktiken in Anhang I enthält diejenigen Verhaltensweisen, „die unter allen Umständen als unlauter gelten“ sollen. Die RL (EU) 2019/2161 ergänzt diese Vorschriften um weitere Tatbestände, vor allem im Online-Bereich, um einen Schadensersatzanspruch für Verbraucher und um Bußgeldsanktionen.

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Seit ihrem Inkrafttreten führt die UGP-RL zu erheblichen Eingriffen in das deutsche Wettbewerbsrecht. So besagt etwa Art. 3 Abs. 1 UGP-RL (vgl. ferner Art. 2 lit. d und lit. k UGP-RL), dass die Richtlinie auch für unlautere Geschäftspraktiken „nach“ Vertragsschluss gilt. Dieser Bereich, die Durchführung geschlossener Verträge, war zuvor von der Anwendung des UWG ausgenommen und dem Bürgerlichen Recht vorbehalten geblieben, weil er den Wettbewerb um die Marktgegenseite nicht oder nur mittelbar betrifft (vgl. Rdnr. 191 ff). Ferner wurde auf Grund der Legaldefinition in Art. 2 lit. d UGP-RL das traditionell über die Anwendbarkeit des UWG mitentscheidende subjektive Kriterium der Wettbewerbsförderungsabsicht aufgegeben und durch ein kaum eindeutigeres objektives Kriterium ersetzt (vgl. Rdnr. 182 ff). Weitere Umwälzungen bringt die Änderungs-RL (EU) 2019/2161, die den deutschen Gesetzgeber verpflichtet, Verbrauchern einen eigenen Schadensersatzanspruch einzuräumen und zur Durchsetzung der verbraucherschützenden Vorschriften einen neuen Bußgeldtatbestand und UWG-fremde behördliche Befugnisse zu schaffen.

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Eine Gesamtwürdigung der UGP-RL kann nicht positiv ausfallen. Die Geschichte ihrer Umsetzung in Deutschland ist eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen (vgl. Rdnr. 57 ff). Fraglich ist außerdem, ob es klug war, das Wettbewerbsrecht als ortsnahes, von den unteren Gerichten anzuwendendes Zivilrecht unionsrechtlich zu vereinheitlichen. Weiter tendiert die einseitige EU-rechtliche Betonung des Verbraucherschutzes dazu, den integrierten Ansatz des UWG (vgl. § 1 UWG (§ 1 Abs. 1 RegE) und Rdnr. 82 ff) allmählich auszuhöhlen. Regelungstechnisch weist die UGP-RL mit zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen auf der einen Seite, eng und kleinteilig gefassten, nach kaum erkennbaren Kriterien ausgewählten und geordneten Tatbeständen auf der anderen Seite viele Mängel auf. Ihre teils umständlich formulierten, teils unzureichend übersetzten Vorschriften, insbesondere die überlangen Legaldefinitionen, haben auch 15 Jahre nach Inkrafttreten wenig Rechtssicherheit gebracht. Daran hat das bereits 2009 von den Kommissionsdienststellen herausgegebene Arbeitspapier mit „Leitlinien zur Umsetzung/Anwendung“ der UGP-Richtlinie,[104] das im Mai 2016 durch eine überarbeitete Fassung ersetzt worden ist,[105] kaum etwas geändert. Das Papier ist auch weder für die Europäische Kommission als Organ noch für die Gerichte bindend. Der EuGH befindet sich auf Grund zahlreicher Vorabentscheidungsersuchen in einem langwierigen Konkretisierungsprozess, der die ohnehin zeitraubenden nationalen Gerichtsverfahren weiter in die Länge zieht.[106] Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen.

Merke: Die EU-Richtlinien 2006/114/EG und 2005/29/EG (UGP-RL)

Die EU-Richtlinien 2006/114/EG und 2005/29/EG (UGP-RL) unterscheiden sich in Regelungsgegenstand, Anwendungsbereich und Harmonisierungsgrad: Die RL 2006/114/EG betrifft nur die irreführende und die vergleichende Werbung; sie schützt vor irreführender Werbung nur Unternehmer, unterscheidet bei der vergleichenden Werbung aber nicht nach deren Adressaten; sie sieht nur eine Mindestharmonisierung vor, d.h. die Mitgliedstaaten dürfen strengere Vorschriften erlassen. Die RL 2005/29/EG (UGP-RL) dagegen betrifft unlautere Geschäftspraktiken allgemein, schützt aber nur Verbraucher; sie sieht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Vollharmonisierung vor.

Beispiel: BGH vom 5.10.2010 – I ZR 4/06 – Millionenchance II = BGHZ 187, 231

Sachverhalt: Ein großes Einzelhandelsunternehmen warb in einer Werbebeilage mit dem Hinweis: „Einkaufen, Punkte sammeln, gratis Lotto spielen“ für die Bonusaktion „Ihre Millionenchance“. Kunden konnten in einem bestimmten Zeitraum beim Einkauf Bonuspunkte sammeln und bei Erreichen einer Mindestanzahl von Punkten einmal kostenlos an bestimmten Ziehungen des deutschen Lottoblocks teilnehmen. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs (§ 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG) sah darin eine unlautere Handlung gem. § 3 Abs. 1 i. V. m. § 4 Nr. 6 UWG 2008, der ein uneingeschränktes Kopplungsverbot enthielt, und verlangte Unterlassung. Das Unternehmen war der Ansicht, dass § 4 Nr. 6 UWG 2008 gegen die UGP-RL verstieß. War das richtig?

Lösung: Die UGP-RL erlaubt in ihrem Anwendungsbereich (Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern) keine milderen oder strengeren nationalen Regelungen (Vollharmonisierung). Sie enthält anders als das UWG 2008 kein ausdrückliches Verbot, die Teilnahme an einem Gewinnspiel an den Warenerwerb zu koppeln. Eine derartige Kopplung konnte daher nur im Einzelfall verboten werden, wenn die zusätzlichen Voraussetzungen von Art. 6 und 7 UGP-RL (Irreführung) oder Art. 5 Abs. 2 UGP-RL (Verstoß gegen die berufliche Sorgfaltspflicht) erfüllt waren. § 4 Nr. 6 UWG 2008 durfte deshalb nicht als generelles Kopplungsverbot verstanden werden. Die Vorschrift war vielmehr richtlinienkonform so auszulegen, dass Kopplungen nur dann unlauter waren, wenn im Einzelfall eine Irreführung (Art. 6 und 7 UGP-RL) oder ein Verstoß gegen die berufliche Sorgfaltspflicht (Art. 5 Abs. 2 UGP-RL) vorlag. Vor diesem Hintergrund hat das UWG 2015 schließlich § 4 Nr. 6 UWG 2008 aufgehoben.

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