Читать книгу Wettbewerbs- und Kartellrecht - Meinrad Dreher - Страница 40
4. Grundfreiheiten
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Die Grundfreiheiten des AEUV werden durch das sekundäre Unionsrecht nicht ganz verdrängt. Sie bleiben für die Interpretation der Richtlinien von Bedeutung[107] und sind in den nicht harmonisierten Bereichen der alleinige Maßstab für die EU-konforme Auslegung des deutschen Rechts.[108] Im Bereich des Warenverkehrs (Art. 28 ff AEUV) verbietet Art. 34 AEUV mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle „Maßnahmen gleicher Wirkung“.[109] Die Regelungen des Wettbewerbsrechts sind zwar keine mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen. Sie können aber Maßnahmen gleicher Wirkung darstellen.[110] Dies ist seit dem EuGH-Urteil in der Sache Keck[111] nur dann ohne weiteres der Fall, wenn es sich um produktbezogene Regelungen handelt. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob der Mitgliedstaat in- und ausländische Unternehmen unterschiedlich behandelt hat oder ob er den innergemeinschaftlichen Handel überhaupt regeln wollte.[112] Werden dagegen Verkaufsmodalitäten geregelt, dann setzt die Bejahung einer Maßnahme gleicher Wirkung voraus, dass die Regelung ausländische Unternehmen bewusst diskriminiert oder dass sie sich auf ausländische Produkte „rechtlich wie tatsächlich“ anders auswirkt als auf inländische.[113]
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Im Einzelfall kann die Zuordnung zu einer der beiden Gruppen schwierig sein. Produktbezogene Regelungen betreffen die Merkmale der Ware selbst, z. B. ihren Namen, die Form, die Abmessung, das Gewicht, die Zusammensetzung, die Aufmachung, die Etikettierung oder die Verpackung.[114] Eine produktbezogene Regelung liegt etwa vor, wenn nationales Wettbewerbsrecht den Gebrauch eines Produktnamens wegen Irreführung verbietet.[115] Verkaufsmodalitäten sind demgegenüber die näheren Umstände der Produktvermarktung, z. B. die Preisgestaltung, die Werbung, die Durchführung besonderer Verkaufsveranstaltungen. Auch das Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln betrifft eine Verkaufsmodalität; es wirkt sich aber nach Ansicht des EuGH in der Sache DocMorris[116] auf den Verkauf inländischer und ausländischer Medikamente unterschiedlich aus und ist deshalb eine Maßnahme gleicher Wirkung.
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Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit in dem vorstehenden Sinn können gerechtfertigt sein, wenn eine der Ausnahmen des Art. 36 AEUV vorliegt.[117] Vor allem auf den Schutz der Gesundheit haben sich die Mitgliedstaaten zur Verteidigung nationaler Vorschriften oft berufen.[118] Darüber hinaus erkennt der EuGH seit der Sache Cassis de Dijon[119] weitere „zwingende Erfordernisse“ des Allgemeininteresses als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe an, insbesondere solche „des Verbraucherschutzes und der Lauterkeit des Handelsverkehrs“. Zusätzliche Anforderungen an die Rechtfertigung ergeben sich im Fall von Art. 36 AEUV aus dessen Satz 2, im Fall der „zwingenden Erfordernisse“ aus dem Gebot, dass die nationale Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und erforderlich sein muss.
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Für die Beeinträchtigungen der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 56 ff AEUV) gelten vergleichbare Grundsätze.[120] Über Art. 62 i. V. m. Art. 52 AEUV hinaus kann sich auch hier eine Rechtfertigung aus „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“[121] ergeben. So hat beispielsweise der EuGH in der Sache Alpine Investments[122] das niederländische Verbot des „cold calling“, das es Finanzdienstleistern untersagte, potentiellen Kunden aus anderen Mitgliedstaaten unaufgefordert telefonisch ihre Dienstleistungen anzubieten, als gerechtfertigt angesehen, weil es dazu diente, das Vertrauen der Kapitalanleger in die nationalen Finanzmärkte zu schützen.