Читать книгу Aus, Äpfel, Amen! Mia, die Feder - Mia May - Страница 6
DIE HEUTIGE DURCHSCHNITTLICH 70-JÄHRIGE
ОглавлениеIch denke über all die guten Wünsche nach. Eine „normale“ 70-jährige bin ich nicht. Wie ist denn in der heutigen Zeit die „durchschnittliche“ 70jährige Frau, die in der „Norm“ ist? Na ja, demnach müsste ich eine „glückliche“ Witwe sein, deren Mann sich für die Familie geopfert und mit einem Herzinfarkt das Zeitliche gesegnet hat.
Statistiken belegen, dass auf drei Frauen in meinem Alter ein Mann trifft.
Als Normfrau würden mir die Witwenrente, die Betriebsrente des Verblichenen und meine Altersrente mein Dasein großzügig finanzieren. Ich lebe alleine in einem viel zu großen Haus, Eigentumswohnung oder zumindest in einer geräumigen Mietwohnung. Die Kinder sind schon lange ausgezogen, sind verheiratet. Sie haben ihr eigenes Heim nach ihrem Geschmack.
Ich halte mich mit „nordic walking“ fit, übe im Fitnesscenter am Crossover-Gerät (lt. Melitta), gehe mindestens einmal in der Woche zum Schwimmen, in die Sauna und ins Sonnenstudio.
Natürlich gehören zwischendurch auch aufbauende Wellness-weekends dazu.
Ich nehme am Morgen meine Tabletten gegen Bluthochdruck ein; achte auf meinen Cholesterin- und Blutzuckerspiegel, damit es mir eines Tages nicht so ergeht, wie meinem verstorbenen Ehemann.
Selbstverständlich gehören auch Antiaging sowie 50plus-Produkte zu meinem Programm.
Einmal in der Woche fahre ich zum Friedhof, denn das muss sein. Was würden wohl die Leute sagen, wenn nicht immer frische Blumen auf dem Grab liegen würden?
Außerdem treffe ich mich einmal in der Woche mit meinen Freundinnen zum Kaffeeklatsch.
Da werden bei Kaffee Latte Macchiato (der ist nach Espresso und Cappuccino einfach „trendy“) und Sahnetorte alle Neuigkeiten und jeder Tritsch und Tratsch besprochen. Natürlich wird viel über ungelegte Eier gegackert (lt. Melitta) „Frau“ ist doch in!
Zuerst geht es um die, welche heute nicht kommen konnten.
„Was sagt ihr zu dem Rock, den Gaby das letzte Mal an hatte? Doch viel zu kurz! In deeem Alter soll man doch nicht mehr sooo auf jung machen!
Vielleicht hat sie mal wieder einen jüngeren Verehrer an der Angel.
Und Jutta, die will heuer wieder in die Dominikanische Republik fliegen.
Die war doch schon in der Schule eine ganz ‚Gspinnerte‘.
Und die Martha, die sitzt jetzt alleine da! Ihr Mann hat sie nach vierzig Jahren Ehe wegen einer jungen Russendeutschen hocken lassen. Vielleicht trägt sie auch etwas Schuld. Sie hat ja wenig auf ihr Äußeres geschaut.
Aber dann die Gerdi. Meine Güte, die pflegt ihre neunzigjährige, bettlägerige Mutter zu Hause.
Wie kann man sich nur so was antun!“
Als Nächstes geht es um die erfolgreichen Kinder. Sie sind verheiratet, leben in gesicherten, gehobenen Positionen und bieten ihrer Familie ein sorgenfreies Leben.
Billig ist das nicht! Besonders die Enkelkinder sind überaus teuer und wichtig. Jetzt werden Fotos ausgetauscht. Oh, wie hübsch, wie süß, wie lieb, wie gescheit die heute alle sind.
Ich mag Kinder, leuchtende Kinderaugen, und Kinderlachen, solange diese Kinder nicht verzogen sind.
Heute ist die Erziehung antiautoritär. Man hat keine dressierten Affen mehr, die Gedichte vortragen oder „Danke“ sagen, wenn sie etwas bekommen.
Für was auch bedanken? Das steht ihnen doch zu!
Nur wollen, wollen, bekommen, bekommen, haben, haben! Aber „Geben“ Fremdwort!
Nein, die wissen selbst alle, was sie wollen. Sachen von C&A! Um Gottes Willen!!! Das kann man doch den Kindern heute nicht mehr zumuten! Das müssen schon Designer-Klamotten sein, Schuhe von Adidas oder Nike. Sie haben farbige, gegelte Haare und die Mädchen kennen sich mit Make-up aus. Gegessen wird nur, was die Werbung vorgibt. Ein Gang zu McDonald gehört zu den Gepflogenheiten.
Bereits im Kindergarten wissen sie alles über Sex und Kinderkriegen. Ich wundere mich da nur, wie sich die Menschheit ohne diese Frühaufklärung oder überhaupt ohne Aufklärung bisher fortpflanzen konnte.
Die Kinder werden von den Müttern hin und her geschleppt.
Zum Tennis, Fußball, Ballett, Eisläufen, zum Singen (sie haben ja schon mal beim Karaoke-Auftritt so erfolgreich abgeschnitten), zum Proben von Theateraufführungen und zum Musikunterricht.
Es gefällt auch mir, wenn Kinder ein Instrument spielen lernen. Aber hier sollen nur Wunderkinder heranwachsen, kleine Mozarts, Lang Langs oder zumindest Konkurrenten für David Garrett. Wenn es dazu nicht reicht, dann gibt es doch auch noch den Dieter Bohlen, der das Supertalent sucht. Ein TV-Auftritt gehört einfach dazu.
Ja, die Enkelkinder sind alle „siebengescheit“, beherrschen alles, können alles, wissen wirklich über alles Bescheid. Über Computer, Fernsehen, Gameboy, Handy und was es noch alles an Neuigkeiten in der heutigen Zeit gibt.
Aber frag doch mal einen Zehnjährigen wieviel 6 x 7 ist, dann erfolgt erstmal der Griff zum Taschenrechner, der auch auf dem Handy installiert ist.
Aber wenn ich ehrlich bin, ist da bei mir nicht ein bisschen Neid dabei, wenn ich so kritisch über die heutigen Kinder schreibe?
Wenn ich also ganz, ganz, ganz ehrlich bin, hätte ich doch auch gerne so einen Wunderkind-Enkel oder -Enkelin, die bei einem Fernsehauftritt in die Kamera winken und sagen: „Ich will meine Omi grüßen, denn sie ist die beste Omi der Welt“.
Mich stört es auch nicht, wenn die Kids Strähnchen in den Haaren haben, die Mädchen die Fingernägel lackieren und Lippenstift benutzen.
Warum sollen sie diese harmlosen Freuden nicht genießen?
Wenn ich genau überlege, sind diese Kinder nicht auch zu bedauern?
Wird ihnen nicht eine unbeschwerte Kindheit gestohlen?
Diese stressigen Tage mit Terminen vollgestopft!
Was helfen da Computerspiele, wenn man nicht mal unbeschwert auf die Dorfstraße laufen, sich in den Staub setzen und mit anderen Kindern „schussern“ „Häusl oder Strick hüpfen“ „Reifen- oder Kreiseltreiben“ (diese Spiele waren wenigsten in meiner Kindheit angesagt) kann, ohne dass sich ein alter Mann über das Kinderlachen beschwert oder darüber, dass ein Ball auf den gepflegten Rasen, dessen Betreten verboten ist, gefallen ist, oder ohne dass ein Kind von einem vorbei rasenden Auto verletzt oder gar von einem Verrückten entführt wird?