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4. Weisung

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„Seht, heute werde ich euch den Segen und den Fluch vorlegen: den Segen, weil ihr auf die Gebote des Herrn, eures Gottes, auf die ich euch heute verpflichte, hört, und den Fluch für den Fall, dass ihr nicht auf die Gebote des Herrn, eures Gottes hört, sondern von dem Weg abweicht, den ich euch heute vorschreibe, und anderen Göttern nachfolgt, die ihr früher nicht gekannt habt.

[…]

Wenn ihr jetzt den Jordan überschreitet, um in das Land, das der Herr, euer Gott, euch gibt, hineinzuziehen und es in Besitz zu nehmen, und wenn ihr es in Besitz genommen habt und es bewohnt, dann sollt ihr auf alle Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch heute vorlege, achten und sie halten.“ (Dt 11,26 – 28.31f.)

Thora

Ähnlich häufig wie von Gottes Handeln in der Geschichte spricht das Alte Testament von den Worten Gottes, die menschlichem Leben die Richtung weisen. In den ersten fünf Büchern der Bibel – in der jüdischen Tradition „Thora“, in protestantischen Bibelausgaben „Die fünf Bücher Mose“ genannt – nehmen die Gebote und Verbote sogar den mit Abstand größten Raum ein. Was die so genannten „10 Gebote“ (Ex 20,1 – 21; par Dt 5,1 – 22) konzentriert auf wenige Grundsätze vorlegen, wird hier in zahlreichen Einzelvorschriften, die alle Bereiche des Lebens betreffen, entfaltet. Dass sich die Mehrzahl dieser Bestimmungen auf den Gottesdienst im Tempel beziehen, kann nicht verwundern. Galten doch bis zu seiner Zerstörung durch die römischen Truppen im Jahre 70 n. Chr. der Tempel und der dort gefeierte Gottesdienst als zentraler Ort der Gottesbegegnung. Deshalb bedurfte dieser Bereich der besonders sorgfältigen Regelung.

Außerhalb der Thora finden sich ausgeführte Regeln und Gebote nur selten. Umso mehr aber stellt der Verweis auf das Gesetz einen immer wiederkehrenden Grundton dar: Sei es in den Geschichtsbüchern, die das Unheil Israels als Folge des Abfalls vom Guten verstehen; sei es in der prophetischen Mahnung, zu den Weisungen Gottes zurückzukehren; sei es im freudigen Lob des Gesetzes.

Gesetz und Evangelium

Diese herausgehobene Stellung des gebietenden Wortes Gottes im Alten Testament wurde zum Anknüpfungspunkt einer Fehlinterpretation, die die christliche Auslegung dieser Texte über Jahrhunderte prägte (Stuhlmacher/ 88: 253 – 261). Spätestens seit Martin Luther die Unterscheidung zwischen „Gesetz und Evangelium“ (Luther/156: 1.265 – 276) zum Kriterium des rechten Glaubens erhob, nahm diese verzerrte Wahrnehmung ihren Lauf. Luther beruft sich mit dieser Unterscheidung auf Paulus, bei dem sie allerdings eine deutlich geringere Rolle spielt als in Luthers Schriften und deren späterer Rezeption. Sie zielt auf zwei gegensätzliche Möglichkeiten, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu bestimmen. Wo immer Menschen sich die Zuwendung Gottes glauben verdienen zu können und zu müssen, stehen sie unter dem „Gesetz“: unter den Vorschriften, die festlegen, welche Werke verdienstlich, welche strafwürdig sind. Wo hingegen geglaubt wird, dass Gott seine Zuwendung ohne Vorleistung des Menschen, aus reiner Gnade schenkt, werden die ohnehin vergeblichen Versuche, sich das Heil zu erarbeiten, falsch. Sie verstellen das „Evangelium“, die frohe Botschaft von der grundlosen Liebe Gottes.

Zweifellos eignet dieser Unterscheidung eine große erhellende Kraft. Es dürfte – einschließlich des Christentums! – keine mit personalen Gottesvorstellungen verbundene Religion geben oder gegeben haben, in deren Praxis das Prinzip „do ut des“ vollkommen fremd wäre: „Ich gebe, auf dass Du geben mögest“. Menschen suchen durch ein bestimmtes Verhalten Gott bzw. die Götter zu ihren Gunsten zu beeinflussen (Angenendt/92: 373 – 378). Unwahrscheinlich ist aber auch, dass einer Religion der entgegengesetzte Gedanke, dass Gott vom menschlichen Verhalten unbeeinflusst handelt, vollkommen fremd ist.

Christliche Theologie jedoch hat, nicht zuletzt verführt durch die Begriffe „Gesetz“ und „Evangelium“ Luthers Differenzierung zu einer ganz anderen Trennung verwendet: Das Evangelium von der unverdienten Gnade Gottes sei Inhalt des christlichen und damit des wahren Glaubens. Das Alte Testament dagegen zwinge den Menschen unter das unerfüllbare Gesetz. Bis in die Gegenwart ist deshalb die Auffassung verbreitet, das Judentum sei eine Gesetzesreligion – und deshalb eine falsche Religion.

Ein genauer Blick auf die Texte des Alten Testaments deckt schnell die Unhaltbarkeit dieser These auf. Alle dafür notwendigen Aspekte finden sich bereits in dem kurzen, oben stehenden Textabschnitt.

Gottes Wille im menschlichen Gesetz

Die Gebote, die Israel vorgelegt werden, sind Gebote Gottes. Sie sind seine Worte, sie drücken seinen Willen aus (Sand/97: 7f.). Diese Überzeugung findet ihren sinnenfälligen Ausdruck in der Erzählung, dass Gott dem Mose, der sich hier im Namen Gottes an das Volk wendet, diese Gebote in direkter Rede mitgeteilt hat (Dt 5,31). Sie wird keineswegs hinfällig, wenn man in Rechnung stellt, dass sich das in den Büchern der Thora überlieferte Gesetzeswerk über lange Zeiträume hinweg durch die Erfahrung und Reflexion Israels gebildet hat; dass es in weiten Teilen den Rechtstraditionen der Völker, zwischen und mit denen Israel lebt, ähnlich ist. Selbst wenn es Mose als historische Gestalt nie gegeben haben sollte, müsste dies der Überzeugung keinen Abbruch tun, dass die überlieferten Gebote Worte Gottes sind. Denn warum sollten die auf verschlungenen menschlichen Wegen gefundenen Weisungen nicht dem Willen Gottes entsprechen, wie es ihre Qualifizierung als „Worte Gottes“ ausdrückt?

schriftliche und mündliche Thora

Diese Interpretation wird gestützt durch eine im spätantiken Judentum entfaltete Überzeugung: Dem Mose, so wird dort gelehrt, wurde nicht nur die schriftliche Thora offenbart, die in den Büchern der Bibel vorliegt, sondern auch die „mündliche Thora“. Unter dieser versteht man all die Auslegungen, Schlussfolgerungen und notwendigen Aktualisierungen, die an die schriftliche Thora über die Jahrhunderte herangetragen wurden. Was so gefunden wird, hat Gott selbst in die Thora hineingelegt – dem Mose bereits geoffenbart (Kern-Ulmer/27: 128f.; Stemberger/19: 79 – 83; Bruckstein/217: 51 – 55).

eröffnetes Leben

Gott, der dem Volk die Gebote als seinen Willen vorlegt, wird im gleichen Atemzug identifiziert mit dem, der Israel das gelobte Land gibt (Dt 11,31), der Israel „aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Dt 5,6). Zwischen dem rettenden Handeln Gottes und seinen Worten, auf die er Israel verpflichtet, besteht also ein enger Zusammenhang: Beide sind Ermöglichung von Leben (Kraus/51: 39 – 42; Schreiner/59: 127 – 131). Deshalb vermag Israel das Geschenk der Thora zu besingen. Sie ist nicht die Anleitung, nach der man sich die Huld Gottes verdienen könnte und müsste, sondern – wie die Rettung aus Ägypten – barmherzige und befreiende Gabe Gottes. Der längste unter den Psalmen gibt dieser Überzeugung eine beeindruckende Gestalt: „Deine Befehle zu befolgen ist das Glück, das mir zufiel“ (Ps 119,56).

gehörtes Wort

Das Handeln Gottes zielt auf die Gotteserkenntnis des Menschen. Auch das Wort der Weisung hat ein Ziel: das Hören (Dt 11,26). Dass es sich dabei nicht um ein reines Zur-Kenntnis-Nehmen handeln kann, sondern um das gehorsame „Achten und Halten“ (Dt 11,32) der Gebote, bedarf kaum der Erwähnung. Wie Ereignis und Erkenntnis gehören auch Sprechen und Hören zusammen. Das Geschehen, das die Bibel bezeugt und das die Offenbarungstheologie zu bedenken hat, ist offensichtlich durch Korrespondenz gekennzeichnet. Gott und Menschen müssen an ihm beteiligt sein, soll es zur Wirklichkeit kommen.

Abschließend gilt es noch die Rede des Textes von „Segen und Fluch“ zu analysieren. Auffallend ist, dass von Gott nicht gesagt wird, er reagiere auf das Handeln der Menschen, indem er segnet bzw. verflucht. Segen und Fluch erscheinen vielmehr als die Früchte, die das entsprechende Handeln selbst hervorbringt. Damit bestätigt sich, was schon zuvor über das Verständnis der Gebote als „Weisung“ gesagt wurde: Sie sind nicht willkürliche Setzungen Gottes, sondern leiten zu einem lebensdienlichen Handeln an.

Einführung in die Theologie der Offenbarung

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