Читать книгу Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen - Michael De Boni - Страница 18

Das schwankende Selbstbild in der Adoleszenz

Оглавление

Auch die Hirngebiete, die mit der Entwicklung eines kohärenten, stabilen Selbstbildes zu tun haben und für das Selbstbewusstsein verantwortlich sind, befinden sich während der Adoleszenz in einem »Umbauprozess«. Diese neuronalen »Selbstrepräsentationen« sind über mehrere Hirnregionen verteilt. Beteiligt sind namentlich die in Abbildung 1-15 (Seite 36) dargestellten Areale. Vor allem sind es Gebiete auf der Innenseite der Hirnhälften, an der cortikalen Mittellinie. Aber auch cinguläre, orbitofrontale und präfrontale cortikale Regionen sind beteiligt, zusätzlich Gebiete des Scheitellappens, die Amygdala und die Insula.

Die heutige Psychologie versteht das »Selbst« als dynamisches Konstrukt, das sich ständig verändert und dennoch ungemein stabil ist. Wir erleben uns im Alltag biologisch, psychologisch und biografisch als etwas Konstantes, es ist ein »Gefühl der Vertrautheit mit uns selbst«. Dies führt zu einer verlässlichen Selbstwahrnehmung. Nur so können wir uns als Handelnde psychisch und physisch in und mit unserer Umwelt erleben. Das Selbsterleben ist, hirnphysiologisch betrachtet, ein sehr komplexes Geschehen, es sind Bereiche des Gehirns beteiligt, die von den »Umbauprozessen« während der Adoleszenz mitbetroffen sind. Schwankungen des Selbstgefühls und die intensive Beschäftigung mit dem äußeren Körperselbst, gepaart mit ständigen Neubewertungen, sind hirnphysiologisch offensichtlich normal, vor allem während der Adoleszenz.

Welche Hirnstrukturen sind am Zustandekommen des Selbst oder des Selbstgefühls beteiligt? Antonio Damasio (2009) hat dazu drei Ebenen definiert, die zusammen die Erfahrung eines persönlichen Selbst ermöglichen: Damasio unterscheidet ein »Protoselbst«, ein »Kernselbst« und ein »autobiografisches Selbst«.

Das Protoselbst stellt eine Art neuronale Grundlage des Organismus dar. Diese Funktionen bleiben völlig unbewusst. Sie sind für die körperlichen Abläufe zuständig und vermitteln das »Hintergrundgefühl« – im Sinne eines inneren Gleichgewichts. Nur wenn in diesen Bereichen Probleme auftreten, werden höhere Hirnzentren aufmerksam. Störungen des Protoselbst können sich als innere Unruhe ausdrücken, oder man hat das Gefühl, dass »etwas mit einem nicht stimmt«. Die Zentren für das Protoselbst sind tiefe Strukturen des Gehirns, nämlich der Hirnstamm, das Mittelhirn und der Hypothalamus. Signale des Protoselbst erzeugen im Kernselbst zum Beispiel Hungergefühle usw.

Die mittlere Ebene bezeichnet Damasio als Kernselbst. Dieses bewusste Selbst vermittelt uns ständig ein zeitliches und örtliches Präsenzgefühl im »Hier und Jetzt«. Das Thema des Kernselbst ist die Interaktion mit der Umwelt. Dabei erlebe ich mich immer als eine dieser Umwelt gegenüber abgegrenzte, körperliche und geistige Einheit. Fallen diese Funktionen aus, dann entstehen dramatische Veränderungen in der Selbstwahrnehmung. Der Neurologe Oliver Sacks (2009) schildert einen Patienten, der eines Morgens ein »fremdes Bein« neben sich im Bett vorfindet. Der Patient denkt zuerst an einen üblen Scherz des Krankenhauspersonals. Als er das »fremde Bein« aus dem Bett werfen will, fällt er selbst aus dem Bett: Das »fremde Bein« ist sein eigenes. Er gerät daraufhin derart außer sich, dass er das halbe Krankenhaus zusammenruft. Auf dem Boden liegend und wild gestikulierend, wird er von Oliver Sacks vorgefunden. Das Kernselbst des Patienten hat ihm das Gefühl, dass sein Bein zu ihm gehört, nicht mehr liefern können. Wenn man das eigene Gesicht unter Fremden auf einer Fotografie betrachtet, werden übrigens auch die Hirnregionen aktiviert, die das Kernselbst erzeugen, namentlich Thalamus, Amygdala, cingulärer Cortex, Insula und medianer präfrontaler Cortex.

Die oberste Ebene des Selbst ist bei Damasio das autobiografische Selbst. Dank ihm können wir unser Verhalten reflektieren und gezielt beeinflussen. Im Gegensatz zum Kernselbst, das für den Vollzug der Interaktion mit der Umwelt wesentlich ist, ermöglicht das autobiografische Selbst auch eine Art Außensicht. Ich kann mich in einer Situation gleichzeitig als Zuschauer und als Agierender auf der Bühne des Geschehens wahrnehmen. Dafür braucht es ein »sprachliches Bewusstsein«. Aus diesem Grund ist beim autobiografischen Selbst, neben dem präfrontalen Cortex und dem Hippocampus, auch das Broca-Areal (das motorische Sprachzentrum) beteiligt. Da das autobiografische Selbst auch fremdes Verhalten reflektiert, sind neben präfrontalen Regionen auch parietale Regionen (Scheitelbereich) aktiviert, die für die Wahrnehmung fremder Bewegungen zuständig sind.

Warum entwickelt sich etwas wie ein Selbst, und welche Bedeutung hat dieses Selbst für die Persönlichkeitsentwicklung während der Jugendphase?

Es ist für einen Organismus wichtig, dass er die Fähigkeit zu »selbstreflexiven Prozessen« besitzt. Der Hauptvorteil liegt in der Gefühlskontrolle. Indem wir uns der eigenen Gefühle bewusst werden, können wir sie bewerten, also unter Umständen auch neu bewerten oder sogar modulieren. Dadurch bekommen die Kontrollprozesse mehr Handlungsspielraum – ein situationsgerechtes Verhalten wird möglich. Wenn die Hirnprozesse, die für das Selbsterleben zuständig sind, noch nicht stabil sind, weil sie sich in einer neuronalen Umbauphase befinden, kann dieses Selbsterleben dramatischen Schwankungen unterliegen. »Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt« ist eines der Phänomene, die in der Jugendzeit vermehrt auftreten. Starke Schwankungen des Selbstgefühls, wie Selbstüberschätzung, -überhöhung, aber auch -entwertung – man findet sich plötzlich nicht mehr liebenswert – bis hin zu Suizidgedanken, sind »Hirnentwicklungsphänomene«, die typisch für die Jugendzeit sind.

Abbildung 1-15 (a und b) zeigt, welche Hirnregionen für die verschiedenen Ebenen des Selbst zuständig sind. Es lässt sich daraus erahnen, wie komplex und damit auch störungsanfällig die psychischen Prozesse sind, die das »innere Gefühl« eines kohärenten und stabilen Selbstbildes vermitteln.


Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen

Подняться наверх