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Jordanus de Nemore und das Gleichgewichtsproblem
ОглавлениеKehrt eine Waage, die sich im Gleichgewicht befindet, in die horizontale Ausgangslage zurück, wenn man den Waagebalken nach unten oder oben auslenkt? Im Mittelalter ist dies eine fundamentale Frage, und auch heute wird der eine oder andere nicht sofort eine Antwort darauf geben können. Mit anderen Worten: Es geht um die physikalischen Begriffe Gewicht, Schwerpunkt, Kraft und Drehmoment – Begriffe, die erst im Verlauf einer langen Geschichte ihre heutige Bedeutung finden.
Im 13. Jahrhundert behandelt Jordanus de Nemore in verschiedenen Manuskripten das Gleichgewichtsproblem mit den Mitteln der Geometrie, wie sie in den Elementen Euklids überliefert ist. Was wir heute über diesen Mathematiker aus dem Mittelalter und seine Überlegungen zum Gleichgewichtsproblem wissen, verdanken wir den Renaissance-Mathematikern Nicolo Tartaglia und Peter Apian, die sein Werk im 16. Jahrhundert unter dem Titel De ratione ponderis bzw. Liber de ponderibus in Buchform gebracht und mit eigenen Kommentaren dazu der Nachwelt erhalten haben.
Ein Beispiel: Jordanus platziert zwei mit einer Schnur verbundene Gewichte auf zwei aneinander grenzende schiefe Ebenen. Gewichte und Neigungswinkel sind verschieden. Welches Verhältnis muss zwischen den Gewichten bestehen, um sie in der Balance zu halten? Nach Jordanus (in der Überlieferung von Tartaglia) müssen sich dazu die Gewichte verhalten wie die Weglängen, die sie auf ihrer jeweiligen schiefen Ebene zurücklegen würden: G1/G2 = AC/BC.
Jordanus zeigt dies, indem er verschiedene Arten von Schwere unterscheidet: Wenn ein Körper in seiner Bewegung frei ist, ist seine Schwere gleich seinem Gewicht (pondus). Wenn er aber auf einer schrägen Fläche liegt, hat er eine vom Neigungswinkel abhängige Schwere (gravitas secundum situm). Auf einer steilen schiefen Ebene zieht es den Körper stärker nach unten als auf einer flachen schiefen Ebene. Nach unserem modernen physikalischen Verständnis entspricht diese „Lageschwere“ der potentiellen Energie, also dem Produkt aus Gewicht mal Höhe. Gleichgewicht herrscht demnach, wenn G1 h1 = G2 h2. Bei einer Lageveränderung auf der schiefen Ebene legen die Gewichte links und rechts die gleiche Distanz d zurück; dann folgt aus den Gesetzen für ähnliche Dreiecke nach Euklid für die Unterschiede ihrer jeweiligen vertikalen Lage: h1/d = h/AC; h2/d = h/BC; ➔ h1/h2 = BC/AC; ➔ G1/G2 = AC/BC.
Überlegungen dieser Art benutzt Jordanus auch, um das Hebelgesetz zu beweisen. Sein Konzept einer von der Lage abhängigen Schwere lässt Ansätze des Prinzips der virtuellen Arbeit erkennen, das im 18. und 19. Jahrhundert die Mechanik auf eine neue Grundlage stellt. Manche seiner Problemlösungen (wie das der Gewichte auf der schiefen Ebene und der Beweis des Hebelgesetzes) gehen über die Antike weit hinaus, doch es wäre anachronistisch, ihn deshalb zum Vorboten der wissenschaftlichen Revolution der frühen Neuzeit zu stempeln. Jordanus ist mit seinem Denken noch sehr stark der aristotelischen Tradition verpflichtet.
ME
Skizze zur Erklärung des Gleichgewichts.
Titelblatt von Jordanus‘ Buch der Gewichte.