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Abwehrmechanismen: Formen der Erlebnisverarbeitung

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Ubiquitäre Abwehr (alle Ebenen der strukturellen Entwicklung)

• Internalisierung

Internalisierung ist ein Grundmechanismus der Entwicklung, der für die Aneignung von Eigenschaften notwendig ist. Sie tritt je nach Strukturniveau in verschiedenen Reifegraden auf und kann als Affektabwehr eingesetzt werden.

– Introjektion: Sich den Anderen als Ganzes aneignen und sich mit ihm verschmolzen fühlen.

– Imitation: So sein wie der Andere; Eigenschaften getrennt erlebter Objekte werden verinnerlicht.

– Reife Identifikation: Sich einzelne Eigenschaften des Anderen zu eigen machen. Sie beruht auf Einfühlung in andere und ist ein bedeutender Bestandteil in der Gestaltung reifer Beziehungen. Identifizierung mit den Vorstellungen anderer ist identitätsstiftend und eine Grundlage für Lernprozesse.

Als Abwehr kommt Identifizierung besonders häufig bei hysterischen, depressiven und narzisstischen Pathologien vor. Sie zeigt sich in der Anklammerung an andere, die vor einem Verlust schützen soll. Besondere Formen der Identifizierung sind:

– Die Identifizierung mit den Erwartungen anderer, die man auch als Unterwerfung bezeichnen kann; häufig bei narzisstischen Störungen zur Sicherung der Zuwendung von anderen.

– Die Identifizierung mit dem Aggressor, bei der man Aggressionen anderer gegen sich selbst wendet. Sie kommt bei der Verarbeitung intensiver destruktiver Erlebnisse vor, z. B. bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse.

• Regression

Zur Vermeidung von Konflikten und Erfahrungen, die nicht verarbeitet werden können (Traumatisierungen), wird das aktuelle Strukturniveau zu Gunsten früherer Erlebnisweisen aufgegeben. Ein Erwachsener beginnt, sich unbewusst wie ein Kind zu fühlen und zu verhalten. Man unterscheidet Regression des Ich (Fühlen, Denken, kognitive und körperlicher Funktionen38), der Bedürfnisse, der Bedürfnisbefriedigung und der Objektbeziehungen und Objektverwendung.

– Eine besondere Form ist die strukturelle Regression. Es werden reife Funktionsweisen des Ich zu Gunsten unreiferer aufgegeben. So wird z. B. die Verdrängungsabwehr als relativ reife Ichleistung durch Spaltungsabwehr ersetzt oder es werden bereits »desomatisierte« Affekte wieder »resomatisiert«. Strukturelle Regression kann auch zum Realitätsverlust und zum Verlust des Selbstgefühls führen. Sie ist typisch für die Entwicklungs- und Traumapathologie und für psychosomatische Symptombildungen, kann im Prinzip aber auch bei allen anderen Störungen vorkommen.

• Verleugnung

Die Realität wird zwar kognitiv wahrgenommen, aber nicht anerkannt. Je nach Ausmaß der Verleugnung spricht man von partieller und von totaler Verleugnung. Verleugnung ist ein unspezifischer, ubiquitärer Abwehrmechanismus, der auch als Copingmechanismus bei der Bewältigung von Belastungen vorkommt ( Kap. 1.2.1). Totale (»primitive«) Verleugnung ist ein Ausdruck einer starken Regression oder eines niederen Strukturniveaus.

Verdrängungsabwehr (reife, höher strukturierte Abwehr)

• Verdrängung

Zur Konfliktabwehr wird eine Absicht, eine Vorstellung, ein Impuls oder eine Wahrnehmung vergessen, d. h. unbewusst »gemacht«. Häufiger Mechanismus bei allen höher strukturierten neurotischen Störungen. Sie bildet den Kern der hysterischen Dissoziation.

• Verschiebung vom Bedeutenden auf Unbedeutendes

Die Wut, die sich gegen den Rivalen richtet, wird gegen Unterlegene gelenkt. Verschiebung ist der typische Abwehrmechanismus bei der Phobie.

• Reaktionsbildung

Ein verpönter Impuls (z. B. ausnutzen) wird durch das Gegenteil (helfen) ersetzt. Reaktionsbildung ist ein häufiger Mechanismus bei zwanghaften und depressiven Persönlichkeiten.

• Gefühlsverdrängung

Die Gefühlsreaktionen, die mit Erlebnissen verbunden sind, werden durch Intellektualisierung, Rationalisierung (unbewusstes nachträgliches Umdeuten oder Hinzufügen von Motiven) oder Affektisolierung (Trennung von Erlebnis und Affekt) unbewusst gemacht. Häufig bei zwanghaften und schizoiden Persönlichkeiten.

Spaltungsabwehr (»frühe«, niederstrukturierte Abwehr)

• Spaltung

• Widersprüchliche Wahrnehmungen, Bewertungen und Einstellungen wechseln einander ab und bilden polare Erlebnis- und Reaktionsmuster (»nur-gut/nur-schlecht«). Dadurch entstehen gespaltene Repräsentanzen. So gibt es im Erleben z. B. eine Polarität zwischen »nur guten« und »nur schlechten« Beziehungen. Beide Pole können im Erleben miteinander abwechseln. An der Umschlagstelle steht in der Regel ein starkes affektives Erlebnis, z. B. eine Enttäuschung.

– Primäre Spaltung beruht auf einer entwicklungsbedingten Ichschwäche.

– Sekundäre Spaltung ist eine regressive, defensive Wiederbelebung unzureichend entwickelter Integrationsfähigkeit.

Spaltung ist der zentrale Mechanismus des niederen Strukturniveaus ( Kap. 4.2.2), zumeist verbunden mit »primitiver« Verleugnung, Projektion und projektiver Identifizierung. Ähnlich sind die Idealisierung und Entwertung, die aber vornehmlich auf mittlerem Strukturniveau vorkommen. Spaltung steht auch in Beziehung zum pathogenetischen Mechanismus der posttraumatischen und zur hysterischen Dissoziation.

• Idealisierung/ Entwertung

Ähnlicher Mechanismus wie die Spaltung; er führt jedoch zu einer bei Weitem geringeren Polarisierung des ursprünglichen ganzheitlichen Erlebens und damit zu einer viel geringeren Verzerrung der Realitätswahrnehmung. Typisch für narzisstische Patienten des mittleren Strukturniveaus.

• Projektion

Unerwünschte eigene Erlebnisse werden unbewusst einem anderen zugeschrieben, um das Selbstgefühl zu stabilisieren. Dadurch wird die Wahrnehmung von anderen verzerrt. Häufig bei schizoiden, hysterischen und Borderline-Persönlichkeiten.

• Projektive Identifizierung

Andere Personen werden durch Manipulation dazu gebracht, so zu fühlen, wie man sich selbst fühlt. Auf diese Weise kann man sich damit von Anteilen in sich selbst distanzieren, die man nicht wahrhaben will, und sie beim anderen bekämpfen. Die Manipulation ist im Allgemeinen bewusst, nicht aber der damit verbundene defensive Zweck. Es handelt sich um einen typischen Borderline-Mechanismus.

In der normalen Entwicklung ist die projektive Identifizierung der Mutter mit dem Säugling ein wichtiger Vorgang der nonverbalen Kommunikation. Durch bestimmte Signale, z. B. Mimik oder Schreien, aktiviert der Säugling intuitive Kräfte in der Mutter und veranlasst sie, sein Befinden zu erspüren.

Posttraumatische Abwehr

• Posttraumatische Dissoziation

Zentraler Mechanismus bei der Traumabewältigung. Sie beruht auf einem partiellen Ichzerfall, durch den verschiedene, nicht miteinander verbundene Selbstzustände entstehen (sekundäre Spaltung). Diese wechseln einander ab. Dabei wird der jeweils vorangegangene Selbstzustand verdrängt oder verleugnet. Er ist dann dem Bewusstsein des jeweils aktuellen Selbstzustandes nicht mehr zugänglich. Die Betroffenen leben wie in verschiedenen Welten. Auf diese Weise können Traumatisierte sich gegen das Wiedererleben einer Traumaerinnerung schützen: Sie verlassen den von Erinnerungen bedrohten Selbstzustand und treten in einen anderen ein. Es handelt sich um einen komplexen pathogenetischen Prozess, der Abwehr- und Bewältigungsfunktion hat, vergleichbar dem der Konversion ( Kap. 10.2).

Psychotherapie und Psychosomatik

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