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These
ОглавлениеUnsere These ist, dass sich auch in den Institutionen der »Schwäche und Fürsorge«, zu denen etwa die Jugendhilfe gehört, eine Zwangsbereitschaft durchsetzt, die in den Institutionen »Verbrechen und Strafe« (zur Unterscheidung der Begriffe vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 2014) wie etwa Polizei, Justiz und den Gefängnissen, aus Sicht der Sozialen Arbeit zwar immer umstritten, aber als grundlegend betrachtet wurde (Cornel et al. 2018; Zobrist 2018).
Vor diesem Hintergrund wollen wir verdeutlichen, dass es unumgänglich ist, sich stets über den eigenen Umgang mit dem tatsächlich vorhandenen Zwang und den Zwangsmitteln in der Sozialen Arbeit selbstvergewissernd und -reflexiv zu befassen. Um dies zu erreichen, werden zunächst ausgehend von Beispielen die grundlegenden Begriffe geklärt sowie die Verquickung von Zwang und Sozialer Arbeit aufgezeigt, um sodann eine historische Einordnung des Zwangs in der Soziologie und der Pädagogik vorzunehmen. In einem dritten Schritt wird die Begriffsklärung dahingehend vertieft, dass mit Zwang verwandte Begriffe (Macht, Paternalismus, Gewalt, Strafe und Erziehung) diskutiert werden. Mit diesen drei Schritten soll mehr Klarheit in die Diffusität gebracht werden: sowohl bezüglich der unterschiedlichen Füllungen und Facetten des Begriffs als auch der damit verbundenen Handlungsunsicherheiten und vermeintlichen Handlungssicherheiten. Denn beides, Sicherheit und Unsicherheit, ist durch die Verwendung des Begriffs »Zwang« in der jüngeren Fachdebatte und den entsprechenden Konzepten erzeugt worden, und zwar sowohl in den Plädoyers für eine Enttabuisierung bzw. Renaissance von Zwang und Zwangsmitteln in der Sozialen Arbeit als auch in den Kritiken an solchen Konzepten.
Der Zwangsbegriff in der heutigen Sozialen Arbeit und die Rahmungen der angesprochenen Debatten werden in einem vierten Schritt mit Blick auf die sozialpolitischen Entwicklungen eingeordnet. Zu dem Anspruch der Selbstvergewisserung und deren Nutzung im beruflichen Alltag gehört es sodann zwingend, alternative Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Adressat*innen zu verdeutlichen. Dabei konzentrieren wir uns auf Praxen des Verzeihens und Verständigens, die dahinter liegenden Menschenbilder und Erziehungsverständnisse sowie die organisatorischen Kontexte und Voraussetzungen. Davon ausgehend setzen wir uns abschließend mit Fragen der Haltung auseinander. Wir beschäftigen uns insbesondere mit der Partizipation als Leitbild einer aushandelnden Sozialen Arbeit, die die Würde des Menschen unbedingt achtet, sowie den prinzipiellen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten: Wissen, was wir tun.
Unsere zentrale Unterscheidung von Zwang als allgegenwärtige »soziale Tatsache«, wie Durkheim es formuliert (hier verwenden wir den Begriff des weiten Zwangs), und der (bewusst erzieherisch eingesetzten) Zwangsmittel (hier verwenden wir den Begriff des engen Zwangs) soll eine Thematisierung jener Zwangsmittel und -praktiken ermöglichen, die der Sozialen Arbeit nicht zwingend immanent sind, auch wenn sie in Folge ihres gesellschaftlichen Auftrags mit Macht ausgestattet ist und häufig in Zwangskontexten ( Kap. 2.5) realisiert wird. Auch wenn es zweifellos zutrifft, dass Zwang in der Sozialen Arbeit stattfindet, ist damit die Frage, in welcher Form und in welchem Ausmaß Zwangsmittel im engeren Sinn eingesetzt werden, noch nicht beantwortet. Der weite Zwang ist allgegenwärtig und unhintergehbar, der enge Zwang ist dagegen bewusst erzeugt und seine Legitimität als pädagogisches Mittel mindestens zweifelhaft. Mit dieser Unterscheidung beschäftigt sich der erste Teil (bis Kap. 4), mit der Haltung und dem Selbstverständnis der Blick auf die Alternativen ( Kap. 5) und das Abschlusskapitel ( Kap. 6).
Leitend für unsere Auseinandersetzung und Aufbereitung ist unsere Kritik an Überlegungen, Zwang als – zumindest unter bestimmten Bedingungen – »wohltätig« oder »entwicklungsfördernd« (z. B. Ethikrat 2018; Baumann 2019) zu verharmlosen oder Zwangskontexte als aussichtsreiche Ausgangssituation für Veränderungen zu fassen (Zobrist/Kähler 2017, S. 126). Gleichzeitig lassen sich diese und lässt sich der Zwang in der Sozialen Arbeit nicht ignorieren oder beschönigen. Zwang in der Sozialen Arbeit muss klar benannt und reflektiert werden. Obwohl das so ist, vertreten wir eine Fachlichkeit, die Zwang schon immer als Problem und nicht als Hilfe oder Unterstützung, dagegen stets als Hindernis und nicht als Ermöglichung gesehen hat. Erst Mitwirkung erzeugt den Erfolg, wie schon Alice Salomon als die Begründerin der modernen Sozialen Arbeit wusste: »Niemand kann für einen anderen leben oder sterben« (1926/2008, S. 84).
In der Sozialen Arbeit geht es um Emanzipation und Eigeninitiative, um Aneignung und Teilhabe, nicht um die Anwendung von Zwangsmitteln. Zwang bleibt in jeder Form ein Stachel im Fleisch einer reflexiven Sozialen Arbeit.