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1.1 Zwang in der Sozialen Arbeit?

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Zwang ist eine nicht selten verdrängte Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit. Es ist die Regel, dass Tätigkeiten der Sozialen Arbeit mit der Einschränkung von Handlungsfreiheiten ihrer Adressat*innen verbunden sind. Diese Einschränkungen sind meist nicht das erklärte Ziel, aber sie finden statt. Wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel. Jemand mag aus freien Stücken wegen seines Alkoholkonsums in eine Beratungsstelle gehen. Das ist eine Ausnahme, denn vielleicht ist das keine Bedingung des Arbeitgebers oder seines sozialen Umfelds. Spätestens, wenn die Einweisung in eine Suchtklinik bevorsteht, wird er*sie sich jedoch Zwängen unterwerfen müssen, sie*er muss gegen den eigenen Willen bestimmte Dinge tun oder unterlassen. Jemand mag aus freien Stücken eine Erziehungsberatung aufsuchen. Doch spätestens, wenn daraus eine Hilfe zur Erziehung werden soll, weil die Fachkraft das vorgeschlagen hat, wird sich diese Person Zwängen unterwerfen müssen. Für die Beschäftigten in einem helfenden Beruf mag das eine ungeliebte Tatsache sein, aber es bleibt eine Tatsache: Durch die Soziale Arbeit werden die Handlungsoptionen von Menschen eingeschränkt, zum Teil werden sie auch dazu gebracht, gegen ihren eigenen Willen etwas ganz bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Das geschieht im Strafvollzug genauso wie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der Unterschied besteht zunächst lediglich darin, dass im ersteren Fall der Eintritt selbst unter Zwang erfolgt, im zweiten Fall nicht. Dieses Faktum des Zwangs ändert sich auch nicht, wenn er im Alltag unbemerkt bleibt oder zu verschwinden scheint:

»Wenn mit der Zeit dieser Zwang nicht mehr empfunden wird, so geschieht dies deshalb, weil er nach und nach Gewohnheiten und innere Tendenzen zur Entstehung bringt, die ihn überflüssig machen; aber sie ersetzen ihn nur, weil sie ja von ihm herstammen« (Durkheim 1961 [1895], S. 108).

Die Einschränkungen der Handlungsfreiheit wie z. B. die Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Willen einer anderen Person werden in Praxis und Fachliteratur regelhaft im so genannten »Doppelten Mandat« und/oder im »Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle« (Böhnisch/Lösch 1973; Thieme 2017, Kap. 5.1.3) betrachtet und bearbeitet und auf das konkrete Handeln und Interagieren von Fachkräften mit ihren Adressat*innen bezogen. Daneben ist der Begriff des »Zwangskontexts« ( Kap. 2.5) geläufig, mit dem zunächst beschrieben wird, dass Angebote nicht freiwillig in Anspruch genommen werden. Als Zwangskontext werden »alle nicht von den Klient/innen selbst ausgehenden Einflüsse zum Aufsuchen von Einrichtungen der sozialen Arbeit« (Deutscher Verein 2017, S. 1013; Trenzcek 2009, S. 128ff; Kähler 2005) definiert. Zwang bedeutet dann, dass Menschen durch gesetzliche Vorgaben zur Inanspruchnahme Sozialer Arbeit gebracht werden, etwa durch staatliche Eingriffe bei Kindeswohlgefährdung oder durch das mehr oder weniger massive Drängen von anderen, etwa Freund*innen, Nachbar*innen, Sozialen Diensten, der Justiz, um nur einige Beispiele zu nennen.

Soziale Zwänge wie das Drängen des Arbeitgebers oder der Nachbar*innen und Zwangskontexte stehen in diesem Buch jedoch ausdrücklich nicht im Fokus. Im Zentrum stehen die Praxen des Zwangs, die Zwangsmittel, die in der Sozialen Arbeit von Sozialarbeiter*innen konzeptionell und geplant oder auch spontan eingesetzt werden: eben ihr eigenes Handeln. Es geht uns um diese konkreten Zwänge oder Zwangsformen sowie die institutionellen Settings, etwa die geschlossene Tür, die den Adressat*innen die Freiheit nimmt. Wir wollen einladen, darüber nachzudenken, was die einzelne Fachkraft tut, wie sie mit diesem »Berufsschicksal« und diesem zentralen Rollenkonflikt umgeht. Ihre konkreten Zwänge und Zwangsformen treten im Alltag und der Selbstbeschreibung häufig in den Hintergrund. Sie werden als ungeliebte Nebeneffekte nach Möglichkeit ausgeblendet, weil sie das professionelle Selbstbild gefährden. Soziale Arbeit will gemäß ihrer Selbstbeschreibung zum selbstständigen und selbstbestimmten, zum freien Handeln anleiten, sie will ermöglichen und ermächtigen. Das verträgt sich nicht mit Zwang. Doch ist Zwang ein sozialer Tatbestand, und die Negation des Zwangs beseitigt ihn nicht, »ähnlich wie die Luft nicht an Gewicht verliert, wiewohl wir ihre Last nicht mehr fühlen« (Durkheim 1895/1961, S. 108).

Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille, nur ein Teil der sozialarbeiterischen Wirklichkeit und ihrer Diskurse. In der Praxis und zunehmend auch in der Methoden- und Fachliteratur werden Zwang und Zwangsmittel teilweise als konstitutiver Teil von Erziehung und Sozialer Arbeit beschrieben. Dabei dominiert allerdings ein diffuser Zwangsbegriff, bei dem die bereits angesprochenen Trennlinien (Sozialer Zwang, Zwangskontexte und Zwangsmittel) verwischt und unscharf werden. Unterschiedliche Formen und Begriffe von Zwang werden unzulässig vermischt: vom Einschluss bzw. der Entziehung von Freiheit über körperliche und gewaltförmige Beschränkung der Handlungsoptionen und Sanktions- bzw. Privilegiensysteme bis hin zur Abwendung von akuter Selbst- bzw. Fremdgefährdung (Nothilfe und Notwehr). Auch gemeinsam vereinbarte Regeln und Verpflichtungen gehören dazu.

Die bisherigen Veröffentlichungen, die ausdrücklich den Zwangsbegriff in der Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt stellen, beziehen sich meist auf die Handlungsfelder der Jugendhilfe und deren Formen von Zwang bzw. Gewalt (bspw. Forum Erziehungshilfen 4/2019; Häbel 2016; Menk et al. 2013; Huxoll/Kotthaus 2012; Schwabe 2008) sowie einen neuen Autoritarismus (Widersprüche, Heft 154). Mit Blick auf Strafen und freiheitsentziehende Maßnahmen als spezifische Form des Zwangs existiert ein größeres Spektrum an Literatur, weil hier die Zwangsmaßnahmen Teil der Intervention sind. Einen allgemeiner angelegten Zugang zu Zwang und Praktiken des Zwangs in der Sozialen Arbeit finden wir eher in Zeitschriften, Tagungsberichten und ähnlichen Publikationen (bspw. Baumann 2019; Jugendhilfe 1/2018; SozialExtra 5/2017; Lindenberg/Lutz 2014; Lutz 2011; ZJJ [Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe] 4/2007; Widersprüche, Heft 106 und Heft 113). 2018 hat sich der Deutsche Ethikrat (vgl. kritisch: Rosenbauer/Wölfel 2019) übergreifend, d. h. in unterschiedlichen Bereichen der Sorge- und Sozialarbeit, mit dem Thema »Hilfe durch Zwang« befasst und gefragt, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen Zwang als »wohltätig« (und damit als legitim) gelten könne, oder ob wir eine »Renaissance des Zwangs« (Nickolai/Reindl 1999) und repressiver Tendenzen (bspw. Dollinger/Schmidt-Semisch 2011) erleben. Dieser neuere Diskurs um die Legitimität von Zwang als Erziehungsmittel (pädagogisch und rechtlich) in den letzten beiden Dekaden ist ein zentraler Anlass für dieses Buch. Die bestehende Kontroverse darüber und die Relevanz für die Praxis zeigen sich auch rechtlich, etwa an der Novellierung des § 1631b BGB im Jahr 2017. Mit dieser Novellierung wurden freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe einerseits durch die Einführung einer gerichtlichen Genehmigung begrenzt. Andererseits verdeutlicht diese Regelung, dass Handlungsbedarf durch das Vorhandensein solcher bisher von den Personensorgeberechtigten genehmigten Zwangsmaßnahmen besteht. Die Novellierung eröffnet durch den Bezug auf den unbestimmten Rechtsbegriff des Kindeswohls die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen rechtssicher zu stellen. Insofern begrenzt diese gesetzliche Normierung Zwangsmaßnahmen nicht nur, sondern ermöglicht sie zugleich, indem sie Legalität schafft. Dies gibt den Fachkräften und ihren Trägern die rechtlich unterfütterte Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen und -mittel auch pädagogisch zu legitimieren (Lindenberg/Lutz 2017; Kap. 4; Kap. 5).

Zwang in der Sozialen Arbeit

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