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2.1 Überall ist Zwang
ОглавлениеTäglich stehen wir vor unzähligen Entscheidungen und Handlungen. Wir sind gezwungen, die Tür zu öffnen, wenn wir ein Haus betreten. Wir sind gezwungen, eine Fahrkarte zu kaufen, wenn wir mit der Bahn fahren. Wenn wir wollen, dass eine Mieterhöhung zurückgenommen wird, sind wir gezwungen, mit dem Vermieter zu verhandeln oder das Rechtssystem zu bemühen. Zwar können wir auch die Tür eintreten oder das Haus nicht oder unbequem durch das Fenster betreten. Wir können auch Schwarzfahren oder zu Fuß gehen. Wir können Vermieter verprügeln oder die Mieterhöhung zähneknirschend akzeptieren. Aber wir treten nicht die Tür ein, wir verprügeln nicht unsere Vermieter. Irgendeine geheime Macht scheint uns davon abzuhalten. Nun, so geheim ist sie auch wieder nicht: Wir wollen keinen Ärger wegen Sachbeschädigung und wir wollen keine Strafanzeige wegen Körperverletzung – und vor allem halten wir solche Handlungsweisen für unangemessen. In der Situation selbst wägen wir das aber nicht bewusst ab. Wir tun es eben nicht. Es gehört sich nicht. Es führt zu nichts – oder allenfalls zu neuen Konflikten.
Diese Beispiele für alltägliche Zwänge zeigen, wie weit der Begriff »Zwang« gefasst wird: Zwang bezeichnet so verstanden materielle, soziale oder zwischenmenschliche Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit und Handlungsmöglichkeiten, unabhängig davon, ob diese Einschränkung jeweils beabsichtigt ist oder nicht (Wolf 2008, S. 93). Diesen Einschränkungen unterwerfen wir uns auch unabhängig davon, ob wir den Zwang überhaupt bemerken. Der Soziologe Norbert Elias führt als Grund dafür »Interdependenzen« an. Das Wort meint, dass wir gegenseitig aufeinander angewiesen sind und in dieser Angewiesenheit voneinander abhängen. Interdependenzen unterliegen wir, und sie verbinden uns zugleich. In unserer Angewiesenheit aufeinander müssen wir unser Handeln und vor allem die damit verbundenen Affekte beständig kontrollieren, denn »das Verhalten von immer mehr Menschen muss aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein« (Elias 1976/1991, Bd. 2, S. 317). Und diesem Angewiesensein aufeinander können wir nur entsprechen, wenn wir uns in dem komplizierten Gewebe der menschlichen Aktionen beständig unter großer innerer Anspannung ›richtig‹ verhalten, unsere Triebe und Affekte kontrollieren. Denn die »Hauptgefahr, die hier der Mensch für den Menschen bedeutet, entsteht dadurch, dass irgendjemand inmitten dieses Getriebes seine Selbstkontrolle verliert« (ebd., S. 319). Aus dem zwischenmenschlichen Fremdzwang – »Mach, was ich Dir sage« – wird so ein viel wirkungsvollerer Selbstzwang – »Ich mache es von mir aus, niemand muss es mir sagen.«
Wir bewegen uns in unserem Sozialen Raum beständig in einem Kräftefeld, das wir gemeinsam mit den anderen erzeugen, die sich in diesem Raum befinden. Das ist sehr anstrengend, weil wir immer darüber zu wachen haben, ob wir nun zu viel oder zu wenig Kraft entfalten, wenn wir unseren Beitrag zu dem Gleichgewicht in diesem Kräftefeld leisten. Das ist ein Gedanke von Pierre Bourdieu. Er hat den Sozialen Raum als ein Kräftefeld bezeichnet, »als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückzuführen sind« (Bourdieu 1985, S. 10). Wir können niemals irgendetwas tun, ohne uns auf andere zu beziehen und ohne dabei ungeschriebene Gesetze einzuhalten, wie der Volksmund sagt, der damit Elias und Bourdieu zustimmt. Für diese ungeschriebenen Gesetze, gerne auch als Selbstverständlichkeiten bezeichnet, gibt es unzählige Beispiele: Wer eine wissenschaftliche Hausarbeit schreibt, muss andere Autor*innen zitieren, wer einen Antrag bei einer Behörde stellt, muss dies schriftlich tun, wer in den Raum einer ihm unbekannten Person eintritt, muss vorher anklopfen und die Einladung abwarten.
Diese Beispiele zeigen deutlich, dass es sich mit dem Zwang gar nicht so offen verhält, wie vielleicht anfangs gedacht, etwa: »Jemand sagt mir, was ich tun muss, und wenn ich es nicht tue, dann kann er mich zwingen.« Sondern eher so: »Ich bin vernünftig und sehe, dass ich selbst bestimmte Wege einhalten und bestimmte Formen wahren muss, um zu meinem Recht zu kommen. Alles andere wäre dumm von mir.«
Zwang wird, obwohl wir gerade auf den durch die gegenseitige Abhängigkeit entstandenen und daher eher unbemerkten Zwang hingewiesen haben, meistens als eine konkrete Einwirkung gefasst. Das können innerpsychische Zwänge (Zwangsstörungen, Zwangshandlungen) sein oder Einflussnahmen von außen, etwa Zwangsarbeit oder Zwangsgeld. Dies sind enger definierte und negativ besetzte Begriffe. Auch die im Duden zuvorderst genannten Synonyme für Zwang – z. B. Druck, Gewalt, Nötigung, Terror, Unterdrückung, Diktat – verweisen eher auf ein enges Verständnis von Zwang, das dessen althochdeutschem Wortursprung »mit der Faust zusammenpressen« (Narr 1999, S. 15) näher ist.
Auch im Recht wird Zwang in einem engeren Verständnis gebraucht. Zwang wird dort stets von außen und gegen den eigenen Willen an Menschen herangetragen: Als Zwangsmittel (§§ 9ff VwVG – Verwaltungsvollstreckungsgesetz) werden die Ersatzvornahme, das Zwangsgeld und der unmittelbare Zwang genannt: »Unmittelbarer Zwang ist die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen« (§ 2 Abs. 1 UZwG – Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes). Es geht demnach um direktive Machtausübung mittels Gewalt. Zwang als freiheitsentziehende Maßnahme gegen Kinder und Jugendliche wird aufgrund seiner Gewaltförmigkeit rechtlich klar begrenzt. § 1631b Abs. 1 BGB legt fest, dass eine geschlossene Unterbringung nur zulässig ist, »wenn sie zum Wohle des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- und Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht anders begegnet werden kann.« Freiheitsentzug und der mit ihm verbundene Zwang steht dem Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB – Bürgerliches Gesetzbuch) entgegen. Damit ist das Recht auf eine Erziehung ohne die Zufügung seelischer Verletzungen, ohne körperliche Bestrafung und andere entwürdigende Maßnahmen gemeint. Zwang wird vom Gesetzgeber damit eindeutig eng definiert und in diesem Kontext ausschließlich dann zugelassen, wenn ein Kind vor drohendem erheblichem Schaden zu bewahren ist. Entsprechendes gilt für den allgemeinen Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB – Strafgesetzbuch; § 227 BGB), nach dem Zwangseingriffe in Rechte anderer nur ausnahmsweise zur Abwehr von rechtswidrigen Angriffen erlaubt sind.
Zwang ist offenkundig ein vieldeutiger, kontextabhängiger Begriff. Es ist daher notwendig, jeweils und im Einzelnen aufzuführen, was unter Zwang verstanden werden soll, wenn von diesem die Rede ist – zumindest sofern dies »bedacht und redlich« erfolgen soll (Narr 1999, S. 16).
Für die Soziale Arbeit und deren Verstricktheit mit dem Zwang spielen die vorhin genannten psychologischen, im Individuum selbst verorteten Zwänge (Zwangsstörungen, Triebe, Sucht usw.) zwar eine Rolle. Wir beziehen uns hier jedoch ausschließlich auf Zwang als soziale Handlung, also als eine Handlung, die von Menschen gegenüber anderen Menschen ausgeübt wird. Das ist schon vielgestaltig genug, denn dies kann direkt oder vermittelt über Normen und institutionelle Settings erfolgen. Daher unterscheiden wir im Folgenden zwischen weitem und engem Zwang. Beide spielen in der Sozialen Arbeit und in ihrer Auseinandersetzung um die Legitimität von Zwangsmitteln und -maßnahmen eine zentrale Rolle. Die Unterscheidung zwischen Legitimität und Legalität ist dabei ebenso hilfreich wie bedeutsam: Sprechen wir von Legitimität, dann ist die Frage aufgeworfen, ob der Zwang angemessen, hilfreich, sinnlos oder überflüssig ist. Das sind alles Adjektive, die eine Bewertung ausdrücken, über die also gestritten werden kann. Zwar meint »legitim« auch, dass ein Sachverhalt oder eine Handlung rechtmäßig ist. Wir verwenden diesen Begriff jedoch in seiner üblichen Bedeutung von allgemein anerkannt, vertretbar, vernünftig, berechtigt und moralisch einwandfrei. Sprechen wir von Legalität, sind die Jurist*innen gefragt: Hat der Gesetzgeber das erlaubt, und verhalten wir uns entsprechend dieser gesetzlichen Vorschrift rechtmäßig und mit behördlicher Genehmigung? Darum wird auch vom »Legalitätsprinzip« gesprochen, um zu verdeutlichen, dass etwas prinzipiell festgeschrieben und rechtlich normiert ist. Ein »Legitimitätsprinzip« kann es dagegen nicht geben, weil es immer unterschiedliche Positionen zu der Frage geben wird, was legitim ist. Und das ist im Kern unser Thema: Kann Zwang in der Sozialen Arbeit legitim sein?