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Kapitel 12

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„Gemeindeversammlung? Ach komm, Paps, was gibt es in Wolfgarten denn schon groß zu entscheiden?“ Svenja goss etwas Milch in ihr Müsli und sah ihren Vater dann skeptisch an. „Oder geht es um Woliceks Rudi?“

„Quatsch, deswegen ruft Frau Schneider doch keine Versammlung ein.“

„Ah, plötzlich wieder Frau Schneider?“ Svenja grinste Hoffnungsvoll. „Ihr habt euch doch nicht getrennt?“

Jochen Kircher biss kurz in seinen Toast und die nächsten Worte waren etwas undeutlich. „Blödsinn. Das hättest du wohl gerne. Aber Vanessa ist schließlich die Ortsvorsteherin und in dieser Funktion…“

„Ja, ja, ich kenne das“, seufzte Svenja. „Bei der Versammlung hängt die wieder den Obermacker von Wolfgarten heraus und du machst wieder auf Oberbulle.“

„Nicht so einen Ton, junge Dame.“ Er drohte mit dem Zeigefinger. „Du redest immerhin mit einer Amtsperson.“

Sie mussten beide lachen.

„Jedenfalls geht es nicht um einen Hund“, meinte er und spülte mit einem Schluck Milch nach. „Obwohl uns das ein rätselhafter Fall ist.“

„Ja, endlich Mal ein richtiger Mordfall in Wolfgarten. Ist zwar nur ein Hund, aber…“

„Hör auf, mich so spöttisch anzugrinsen“, wies er sie an. „Außerdem gilt die Tötung eines Hundes nicht als Mord. Allenfalls als Sachbeschädigung und Tierquälerei.“

„Finde ich ziemlich gemein. Der arme Rudi sah wirklich übel aus.“

„Du hast ihn dir angesehen?“ Jochen Kircher schüttelte den Kopf. „Wirklich, du musst dein Näschen auch in alles rein stecken.“

„Jedenfalls hast du jetzt deinen Zweiten richtigen Fall in diesem Jahr. Das ist doch auch mal was.“ Svenja nahm einen Löffel Müsli und verzog das Gesicht. „Gibst du mir den Zucker, Paps? Danke. Jetzt musst du nur zusehen, dass dir die Kripo den Rudi nicht genau so abnimmt, wie die Proschkes.“ Sie rührte den Zucker unter. „Gibt es von denen denn was Neues?“

„Nein. Außerdem geht dich das nichts an.“ Jochen erhob sich und blickte dabei auf die Armbanduhr. „Jedenfalls muss ich jetzt los. Unser Revier ist für die Sicherheit und Ordnung bei der Versammlung zuständig.“

„Wow.“ Svenja sah ihren Vater scheinbar ehrfürchtig an. „Ein Büro mit Ausschank, eine Ausnüchterungszelle und zwei Cops… Das nennst du Revier?“

„Hör mal, Svenja, das nennt sich Tresen und nicht Ausschank. Außerdem kommt es nicht auf die Größe an.“ Er zupfte die Krawatte gerade und griff nach seiner Uniformjacke. „Und zudem ist es ja wohl ein bisschen mehr, als nur eine Gemeindeversammlung. Der Landrat wird kommen und außerdem irgendein Professor von so einer Uni im Norden. Es geht wohl um ein Projekt, das man bei uns durchführen möchte.“

„Ah, das hast du bestimmt aus einer zuverlässigen Quelle aus der Gemeindeverwaltung“, spottete sie.

Jochen Kircher lachte auf. „Da hast du Ausnahmsweise einmal Recht.“ Er knöpfte die Jacke zu und trat zu Svenja, um ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Ich denke, es wird sicher interessant werden. Komm also nicht zu spät.“

„Wo werd ich denn?“ Sie stocherte lustlos in ihrem Müsli herum und hörte, wie ihr Vater das Haus verließ.

Nein, die Versammlung wollte sie sich wirklich nicht entgehen lassen. In der letzten Zeit passierte immerhin so Einiges in Wolfgarten und sie war ganz froh darüber, dass es endlich etwas Abwechslung gab. Eigentlich war die große Anteilnahme an den Vorfällen der letzten Tage ja ein Anzeichen, dass sich beklagenswert wenig im Dorf ereignete. Auch wenn es ihr um den armen Rudi leid tat. Der war wirklich ein ganz lieber Kerl gewesen. Wer mochte ihn wohl derartig zugerichtet haben? Svenja spürte einen Schauder über ihren Rücken laufen. Die meisten fragten sich sicherlich, wer wohl verrückt genug gewesen war, so eine sinnlose Tat zu begehen. Svenja hoffte wirklich, dass es ihrem Vater gelang, den Tierquäler zu fassen.

Vielleicht war die Versammlung ja doch wegen Rudi einberufen worden? Immerhin war das Ganze doch ein wenig unheimlich. Schließlich waren ja auch zwei Menschen im Park verschwunden. Gab es vielleicht ein tollwütiges Raubtier, welches durch die Wälder schlich? Oder lebte ein Verrückter mitten unter den Dorfbewohnern? Ja, vielleicht wurde es doch noch aufregend…

Svenja hatte noch Zeit, bis die Versammlung begann. Sie war für den frühen Nachmittag angesetzt worden und das ausgerechnet an einem Samstag, wenn viele zum Einkauf nach Gemünd oder Schleiden fuhren. Aber es schien wichtig zu sein und man hatte bewusst keinen Wochentag gewählt, da die Männer dann zur Arbeit waren. Und am Abend hätten wiederum jene nicht teilnehmen können, die sich um kleinere Kinder kümmern mussten.

Kurz vor der Versammlung schwang sich Svenja auf ihr Mofa und fuhr ins Dorf hinunter.

Vor dem Gemeinschaftshaus herrschte ungewöhnlich viel Betrieb. Die meisten der Dorfbewohner waren zu Fuß gekommen, es war ja nicht weit. Svenja sah den blausilbernen Streifenwagen ihres Vaters und seinen Kollegen Wagner, der am Eingang stand und sich mit einem Fremden unterhielt. Jochen war wohl schon im Saal des Gebäudes.

Auf dem Parkplatz standen mehrere fremde Fahrzeuge. Darunter zwei weiße, die farbige Logos an den Seiten hatten. Interessiert trat Svenja näher und sah, dass die Grafiken das Gesicht einer jungen Frau und den Kopf eines hundeähnlichen Tieres zeigten. Es kam ihr so vor, als handele es sich dabei um einen Huskie, aber sie musste sich eingestehen, dass sie nicht besonders viel von Hunden verstand. Umlaufend um das jeweilige Logo standen der Schriftzug „European Wolflife Project“ und die Abkürzung „EWoP“. Also zeigte die Grafik keinen Huskie.

Seltsam, was hatten diese Fahrzeuge hier zu bedeuten? In der ganzen Eifel gab es keinen einzigen Wolf, wenigstens, soweit Svenja wusste.

Das Dorfgemeinschaftshaus war ein Flachbau mit einer geschwungenen Dachkonstruktion. Die Front zeigte viel Glas und das Dach bildete hier einen Vorbau, der auf massiven Holzbalken ruhte. Der unschöne Beton war mit Holz verkleidet worden, so dass der Bau nicht zu kalt wirkte. Das Innere bestand aus einem großen Vorraum, den man als Foyer nutzte, dem Mehrzwecksaal und einer Handvoll kleiner Nebenräume mit den Toiletten sowie einer kleinen Küche nebst Kühlraum. Gelegentlich gab es hier Aufführungen kleiner Theatergruppen aus den Nachbarorten und einmal war sogar ein echter Schlagersänger in Wolfgarten aufgetreten. Svenja vermutete allerdings, dass der arme Bursche einfach falsch abgebogen war.

Vor dem Gemeinschaftshaus standen drei Fahnenmasten, die dem Gebäude einen offiziellen Charakter gaben. Normalerweise waren die Stangen leer, doch an diesem Tag hatte man dort die Landesfahne, die der Bundesrepublik und die Europafahne aufgezogen. Das war sonst nur der Fall, wenn Wahlen abgehalten wurden.

„Beeindruckend, was?“

Svenja fuhr herum und sah Patrick und Kim, die mit ihren Eltern gekommen waren. „Ja“, meinte sie lakonisch, „die Schneider macht großen Bahnhof.“

„Hallo, Svenja“, grüßte Kims Vater freundlich. Er hatte ihre Worte gehört und deutete auf die fremden Fahrzeuge. „Immerhin, es sind ein Landrat und ein Professor in Wolfgarten.“ Er zwinkerte ihr zu. „Das ist selten hoher Besuch für uns.“

„Ja, die Schneider wird sich mächtig in Szene setzen“, flüsterte Svenja ihrer Freundin zu.

„Lass uns rein gehen“, meinte die und zog Svenja mit sich. „Sonst sitzen wir wieder ganz hinten und kriegen nichts mit.“

Der Saal war nahezu voll und die beiden Freundinnen und Patrick trennten sich von Kims Eltern und suchten sich ein paar zusammenhängende Sitzplätze. Svenja sah nun ihren Vater, der in der ersten Reihe neben Vanessa Schneider saß. Dort war auch die übrige Prominenz versammelt. Die Leiterin der Feuerwehr, der zuständige Förster und Ranger Turner, die sich angeregt mit einem Fremden unterhielten, während vorne an der Bühne die letzten Vorbereitungen liefen.

„Von der Schneider ist nichts zu sehen“, flüsterte Svenja.

Kim lachte auf. „Die kommt schon noch. Den Rummel lässt sie sich doch nicht entgehen. Außerdem ist sie ja unser Gemeindevorstand.“

„Ich hab sie jedenfalls nicht gewählt.“

Von der Holzdecke war die große Leinwand herunter gefahren worden und Svenja sah sich um, wo wohl der Projektor stand. Patrick deutete auf einen fest montierten Beamer unter der Decke und bei dieser Gelegenheit sah sie auch Wolicek. Der Bauer saß mit seiner Frau am äußersten Ende einer Reihe und sparte nicht mit finsteren Blicken.

„Ich glaube, jetzt geht es los“, raunte Kim. „Da ist die Schneider und sie hat sich mal wieder richtig rausgeputzt.“

Svenja wandte den Kopf und erkannte nun die Ortsvorsteherin, die aus einer Seitentür trat und zur Bühne hinüber ging. Als Vanessa Schneider an das Rednerpult trat und sich den Anwesenden zuwandte, erkannte Svenja das Schmuckstück, welches ihr in der Dusche aufgefallen war. Es hing an seiner goldenen Kette auf der Bluse der Frau und schimmerte im Licht eines der Scheinwerfer in sanftem Grün.

„So auffälliger Modeschmuck passt nicht zu ihr“, raunte Kim. „So Edel, wie die sich immer aufmotzt. Du solltest sie Mal erleben, wenn sie zu uns ins in den Laden kommt. Bedienung nur durch die Chefin. Haare, Maniküre… Das volle Programm und nur vom Feinsten, versteht sich.“

„Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“, begann Vanessa Schneider, „ich habe Sie alle zu dieser Versammlung eingeladen, weil der Landrat und Professor Kahnke, die ich beide hiermit herzlich willkommen heiße, darum gebeten haben.“ Es gab höflichen Applaus, als die Genannten sich kurz erhoben und den Anwesenden zunickten. Dann fuhr die Gemeindevorsteherin fort. „Das Land plant, mit Unterstützung des Bundes und der Europäischen Union, ein Forschungsprojekt, welches man hier in unserem schönen Wolfgarten durchführen möchte.“ Sie deutete auf den Professor. „Ich darf zunächst Herrn Professor Kahnke vom European Wolflife Project, kurz EWoP, bitten, uns dieses Projekt vorzustellen.“

„Der sieht aber nicht wie ein Professor aus“, raunte Patrick. „Schon eher wie Indiana Jones.“

Da musste Svenja ihm Recht geben. Der Mann war schlank, durchtrainiert und von der Sonne gebräunt. Wind und Wetter hatten ein paar Falten in sein Gesicht gegraben, doch das machte den Mann durchaus interessant, wie Kim fand. „Ich finde, der sieht ziemlich scharf aus“, gestand sie ein. „Ist mir jedenfalls lieber, als wenn er so eine zerknitterte Brillenschlange wäre.“

„Ruhe“, zischte ein vor ihnen sitzender Mann und sah sie mahnend an.

Kim hob entschuldigend die Hände und lehnte sich zurück.

Professor Kahnke begann seinen Vortrag und er schaffte es, die Zuhörer sofort in seinen Bann zu ziehen. „Bei dem, was ich Ihnen vorstellen werde, meine Damen und Herren, geht es um ein ganz besonderes Tier.“ Der Professor betätigte eine Taste und der Beamer projizierte das Bild eines Wolfes. „Canis lupus oder, wie der Volksmund sagt, der Wolf.“

Erregtes Raunen erfüllte den Gemeinschaftssaal.

Professor Kahnke deutete unvermittelt auf Vanessa Schneider. „Nun, was denken Sie? Ganz spontan?“

Vanessa runzelte die Stirn. „Er wirkt ziemlich groß.“

„Nein, nein, Ihren ersten Gedanken meine ich.“ Professor Kahnke lachte auf. „Ich wette, Sie haben zunächst einmal gedacht, Wow, das Biest sieht gefährlich aus. Stimmt´s?“

Vanessa Schneider schürzte die Lippen und nickte dann zögernd. „Stimmt.“

„Danke für Ihre Offenheit.“ Kahnke sah die anderen Anwesenden an. „Ich denke, die meisten von Ihnen haben zunächst ein unangenehmes Gefühl, wenn sie das Bild eines Wolfes sehen. Obwohl dieser hier“, er lachte erneut, „nicht einmal die Fänge fletscht.“

„Er sieht trotzdem beeindruckend aus“, sagte Ranger Turner.

Kahnke nickte. „Ja, ein ungewöhnlich großes und schönes Exemplar. Nun, auch wenn ich hier für die Sache der Wölfe eintrete, so kann ich eines nicht abstreiten – Der Wolf ist und bleibt ein Raubtier. Der Mensch gehört allerdings nicht in das Beutespektrum des Wolfes. Das Tier scheut uns und das aus gutem Grund. Immerhin haben wir es nahezu ausgerottet. Aber obwohl er der Urahn unseres Haushundes ist, fürchten wir den Wolf und verbinden seinen Namen mit Furcht und Schrecken. Selbst die Mythologie greift dieses Tier in Form des Werwolfes auf. In den Märchen ist es der böse Wolf, der Großmütter frisst und Jagd auf kleine Mädchen macht, die rote Käppchen tragen.“

Die Gesichter entspannten sich und hier und da erschien ein leichtes Lächeln. Professor Kahnke projizierte das nächste Bild, welches einen zierlichen Yorkshire-Terrier mit Haarschleife und einen Wolf nebeneinander zeigte. „Kaum zu glauben, dass sie denselben Ursprung haben, nicht wahr? Der Wolf gehört zu den größten Vertretern der so genannten Hundeartigen. Die in Europa am weitesten verbreitete Form ist der canis lupus lupus. In seiner größten, der nordischen Form, kann er eine Schulterhöhe von bis zu achtzig Zentimetern und mehr erreichen, und wiegt bis zu achtzig Kilogramm.“

„Ziemlicher Brocken“, warf Kims Vater ein. „Er wird sich wohl kaum mit ein bisschen Hundefutter begnügen.“

„Nein, bestimmt nicht.“ Professor Kahnke deutete mit dem Laserpointer auf den Wolf. „Pro Tag benötigt ein ausgewachsener Wolf bis zu fünfzehn Kilogramm Fleisch.“

„Fünfzehn… Mann, das ist eine Menge.“

„Ist es. Daher sind ihre Familienverbände, die Rudel, auch eher klein und bestreifen ein großes Revier. Ihre Beute spüren sie mit ihrem ausgeprägten Geruchssinn auf. Normalerweise fallen sie kranke oder verendende Tiere an. In gewisser Weise ist das eine Selbstschutzmaßnahme. Ein wehrhaftes Tier könnte den Angreifer verletzen, so dass dieser nicht mehr jagen kann. Der verletzte Wolf wäre dann auf die Pflege des Rudels angewiesen oder müsste verenden. Ich sage Ihnen das mit aller Eindringlichkeit, um aufzuzeigen, dass diese Raubtiere lieber den bequemen Weg gehen.“ Er lächelte freundlich. „Wir Menschen wären ihm als Beute zu anstrengend.“

Erneut waren Lacher zu hören und Kahnke wählte das nächste Bild.

Svenja hörte den Ausführungen zu und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Worauf wollte Professor Kahnke hinaus? Eine ungute Ahnung beschlich sie. Die nachfolgenden Worte des Mannes bestätigten ihre Befürchtungen.

„Es gibt eine Reihe von Bemühungen im Bereich des Artenschutzes. Dazu gehören auch Pläne, den Wolf wieder in Deutschland heimisch zu machen. Dazu haben wir ein Projekt ausgearbeitet, welches die Akzeptanz für freilebende Wölfe erhöhen soll. Dieses Projekt ist Bestandteil des European Wolflife Project oder, abgekürzt, EWoP.“

Professor Kahnke nahm seinen Schluck Mineralwasser und tippte einen Befehl in die Tastatur. „Das Akzeptanzprojekt von EWoP will Menschen und Wölfe wieder langsam aneinander gewöhnen. Nicht in der Form, dass sie miteinander leben. Der Wolf soll ja nicht domestiziert werden.“ Kahnke lächelte. „Dann könnten wir ja gleich Hunde aussetzen. Nein, der Mensch soll lernen, dass er neben dem Wolf leben kann und dass dieser keine reale Bedrohung darstellt.“

„Und wie stellen Sie sich das vor, Herr Professor?“

„Wir siedeln ein Wolfsrudel an. Natürlich in einem abgesperrten Gebiet. Aber doch so, dass sich die Menschen in der Umgebung an den Gedanken gewöhnen können, dass sich in ihrer Nähe Wölfe befinden.“

„Das kann man auch im Zoo.“

„Unsinn.“ Kahnke zuckte entschuldigend die Schultern. „Die Wölfe sollen sich ja in einem natürlichen Lebensraum und ungestört entwickeln. Sobald eine gewisse Gewöhnung erreicht worden ist, sollen sich die Wölfe auch außerhalb des abgesperrten Bereiches bewegen.“ Der Professor schaltete das nächste Bild. „Das Ganze wird natürlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Aber wir gehen davon aus, dass sich dieser Aufwand lohnt. Wenn wir wissenschaftlich belegen können, dass eine Gemeinde in Deutschland problemlos mit einem Wolfsrudel in unmittelbarer Nachbarschaft leben kann, werden wir etliche der Vorurteile entkräften können.“

„Eine Gemeinde in Deutschland?“

Der Professor nickte. „Wolfgarten.“

Stimmen schwirrten durch den Saal, bis Vanessa Schneider mit erhobenen Händen um Ruhe bat. „Ich kann die Aufregung verstehen“, rief sie, „aber es hat keinen Zweck, wenn nun alle durcheinander reden. Es kann sich jeder zu Wort melden, aber bitte nacheinander.“ Sie deutete in die Reihen. „Sie zuerst.“

„Hören Sie, Professor“, meldete sich der Angesprochene zu Wort, „verstehe ich das richtig? Sie wollen die Wölfe hier bei uns herumlaufen lassen?“

„Nein, keineswegs.“ Kahnke machte eine beschwichtigende Bewegung. „Das Rudel wird sich im abgesperrten Bereich des Naturparks aufhalten.“

„Aber später wollen Sie es frei herumlaufen lassen“, beharrte der Fragesteller.

„Erst in ein paar Jahren und nur dann, wenn es keinerlei Probleme gibt.“

„Da bin ich nicht mit einverstanden.“ Eine junge Frau erhob sich. „Da sind wir ja unseres Lebens nicht mehr sicher und unsere Kinder schon gar nicht.“

„Ich kann Ihnen versichern, die Wölfe werden weit mehr Angst vor uns, als wir vor den Wölfen haben.“

„Ja, wenn die Schlau sind, werden die mit uns Menschen nichts zu tun haben wollen“, kam ein Einwurf und ein paar Leute lachten auf.

„Für den Park wäre es sicherlich von Vorteil“, wandte John Turner ein. „Wir haben hier Rothirsch, Reh, Wildschein und Mufflon. Sie alle wissen, welchen Ärger wir mit dem Verbiss durch die Tiere haben.“

Förster Bramke erhob sich. „Das Wild verursacht so starke Schäden an den Pflanzen, dass wir ja vom Oktober bis Dezember wieder eine begrenzte Jagdsaison eingeführt haben.“

„Die Wölfe würden später die Bestände des anderen Wildes in gewissen Grenzen halten“, stimmte Professor Kahnke zu.

„Das ist einfach nur gefährlich. Sie spielen mit unserem Leben.“ Bauer Wolicek war aufgestanden und sah den Professor erregt an. „Wir haben hier schon genug Sorgen, verdammt. Da brauchen wir nicht auch noch wilde Wölfe.“

Vanessa Schneider beugte sich dem Professor entgegen und raunte ihm ein paar Worte zu. Kahnke nickte verstehend und sah Wolicek dann an. „Ich bedauere das, was mit ihrem Hund geschah. Aber das waren mit Sicherheit keine Wölfe.“

„Auch keines der Wildschweine“, warf der Förster ein. „Und die Luchse sind im abgesperrten Gebiet, wie mir der Ranger versichert hat.“

„Das stimmt“, sagte John Turner vernehmlich.

Vanessa Schneider sah den Bauern mitfühlend an. „Wir müssen befürchten, dass es auf die Tat eines Tierquälers zurückgeht, Herr Wolicek. Keine Sorge, wir werden ihn fassen.“

„Einen Scheiß werdet ihr!“, schrie Wolicek aufgebracht.

„He!“ Jochen Kircher erhob sich und sah den Milchbauern drohend an.

„Bitte, keinen Streit“, sagte Professor Kahnke mit erhobener Stimme. „Wie wir gerade sehen, ist das gefährlichste Raubtier noch immer der Mensch. Nein, meine Damen und Herren, von den Wölfen geht keine Bedrohung für sie aus. Darauf werden wir strikt achten. Jeder der Wölfe wird einen Sender bekommen und wir werden in der Nähe der Rangerstation einen Beobachtungsstelle von EWoP einrichten, die wir ständig mit drei Leuten besetzt halten.“

„Ja, wie stellen Sie sich das eigentlich vor?“ Herr Westphal, der Besitzer des kleinen Ladens gegenüber dem Dorfgemeinschaftshaus, erhob sich. „Wir sind hier ein Naturpark und wenn ich das richtig kapiere, dann werden die Wölfe ja nicht gerade zu einer Besucherattraktion werden. Das alles soll ja wohl unter Ausschluss der Öffentlichkeit ablaufen, nicht wahr?“

„Das ist der Zweck des Akzeptanzprojektes“, stimmte Professor Kahnke zu. „Wenigstens in seiner Eröffnungsphase. Doch dies wird durchaus seine Vorteile für Wolfgarten haben.“

„Ach, und welche sollten das sein? Das wir irgendwann gefressen werden?“

„Das kann nicht geschehen. Die Wölfe bleiben im abgesperrten Bereich und stehen unter strenger Beobachtung“, versicherte Kahnke geduldig. „Und das Projekt bietet Wolfgarten ganz reale Vorteile.“ Er räusperte sich. „Dazu kann Ihnen aber der Ranger mehr sagen.“

John Turner trat neben den Professor und suchte nach den richtigen Worten. „Äh, ja, also, wir sind hier ein Bestandteil des Nationalparks Eifel und die Parkverwaltung ist der Meinung, dass sich der Mythos Wolf als Publikumsmagnet erweisen wird.“

„Moment!“ Svenja hatte den Widerspruch entdeckt und nun riss es sie förmlich von ihrem Stuhl hoch. „Eben hieß es noch, dieses Akzeptanzdings solle in völliger Abgeschiedenheit ablaufen.“

John sah Kahnke an, der hilfsbereit einsprang. „Richtig, junge Dame. Das gilt für die ersten Wölfe des Projekts. Nachdem die Studie abgeschlossen ist, sollen diese Tiere dann allerdings richtig ausgewildert werden. Natürlich nicht in Wolfgarten. Hier soll dann ein anderes Rudel heimisch werden.“

„Im abgesperrten Bereich des Parks“, übernahm John wieder das Wort, „aber mit der Möglichkeit für die Besucher, die Wölfe zu beobachten.“

Der Besitzer der „Kermeter Schänke“ hatte unvermittelt ein Leuchten in den Augen. „Ah, das könnte funktionieren. Gibt eine Menge Leute, die sich für Wölfe interessieren.“

Vanessa Schneider nickte. „Seitens des Landes hat man mir zugesichert, dass man uns nach Abschluss des Projektes gezielt fördern wird. Ein Wolfspark würde Wolfgarten sogar international bekannt machen. Man wird die Infrastruktur ausbauen und…“

„Was wird man?“ Kims Vater meldete sich erneut zu Wort. „Sie sollten vielleicht näher erläutern, was man darunter zu verstehen hat.“

„Nun, der Ort wird sicher einen Aufschwung erleben. Vielleicht keinen besonders großen, aber es wird sich etwas tun“, versicherte Professor Kahnke. „Durch die Ergänzung mit einem Wolfspark wird es ein paar zusätzliche Arbeitsplätze geben. Wölfe sind sehr scheue Tiere und es soll nur eine indirekte Beobachtung geben. Man wird ein paar Beobachtungsstellen einrichten und etliche Kameras installieren. Die Parkverwaltung und der Servicebereich werden verbessert und das schafft ein paar Arbeitsplätze hier im Ort.“

„Das Straßennetz wird ebenfalls ausgebaut“, versicherte Vanessa Schneider. „Wahrscheinlich wird es eine direkte Busverbindung des öffentlichen Liniennetzes geben und niemand muss mehr an die Bundesstraße, um die Linie 231 zu erreichen.“

Einige der Eltern nickten, denn das hörten sie gerne.

„Und wir werden eine Arztpraxis im Park haben“, ergänzte Vanessa Schneider. „Keine Sanitätsstation, sondern eine richtige Arztpraxis.“

„Also, ist es doch gefährlich“, sagte einer lakonisch.

Kahnke lächelte. „Wir denken da eher an die Touristen.“

Vanessa Schneider stimmte in sein Lächeln ein. „Vergessen wir doch bitte eines nicht – Wölfe sind nahezu mystische Tiere. Jeder denkt doch mit einem wohligen Schauder an gefährliche Bestien. Wir Menschen lieben die Gefahr, wenn wir sie in Sicherheit erleben können. Das heißt, wenn wir einem gefährlichen Tier begegnen, ohne dass es uns wirklich zu nahe kommt. Das nennt man Nervenkitzel und Abenteuerlust. Die Arztpraxis dient natürlich der Sicherheit. Sie wissen doch alle, wie häufig es bei Besuchern des Naturparks zu kleineren Blessuren kommt und wenn hier ein Themenpark eröffnet wird, dann werden sehr viel mehr Gäste kommen, als es bislang der Fall war.“

Beim Wort Themenpark zuckten Professor Kahnke und Ranger Turner gleichermaßen zusammen. Schließlich sollte in Wolfgarten kein Vergnügungspark entstehen. Letztlich sollte den Parkbesuchern die Möglichkeit geboten werden, die Wölfe vielleicht in freier Natur zu beobachten, so sich die Tiere überhaupt beobachten ließen.

Es gab noch eine Vielzahl von Fragen, die sich hauptsächlich mit der Sicherheit der Einwohner befassten und das Hin und Her von Fragen und Antworten zog sich beachtlich hin.

Schließlich trat Vanessa Schneider abermals an das Pult und bat um Ruhe. „Wir sollten zunächst einmal darüber entscheiden, ob wir dem Projekt überhaupt zustimmen. Die EWoP, das Land, der Kreis, sie alle sind dafür, dass das Projekt nach Wolfgarten kommt. Aber letztlich geht es nicht ohne unsere Zustimmung.“

„Wäre ja noch schöner“, rief einer der Dorfbewohner.

Vanessa ignorierte den Zwischenruf. „Und wenn wir zustimmen, dann wird es noch eine Weile dauern, bevor tatsächlich der erste Wolf bei uns sein wird.“

Patrick beugte sich zu Kim und Svenja. „Ich denke, der blöde Gockel von Bauer Wolicek wird bald Konkurrenz bekommen. Statt seinem Gekrächze hören wir jetzt morgens bestimmt bald Wolfsgeheul.“

„Die heulen eher nachts, du Blödmann“, flachste Kim.

Svenja war für das Akzeptanzprojekt. Alleine schon aus dem Grund, weil sie die Wölfe interessant fand. Ihre Gedanken überschlugen sich. Der weniger öffentliche Teil des Akzeptanzprojekts sollte über mehrere Jahre gehen, wie Kahnke gesagt hatte. Danach würde man die Ergebnisse vermarkten und wenn hier im Anschluss ein Themenpark „Wölfe“ eingerichtet wurde, dann gab es sicher eine riesige Werbekampagne. Für eine Werbegrafikerin sicher eine hochinteressante Sache, wenn man es richtig einfädelte. Und falls die Wolfgartener dem Projekt zustimmten.

Sie stimmten tatsächlich zu.

Mit Ausnahme von Bauer Wolicek und einer Handvoll anderer Bewohner, entschied sich die Mehrheit für die Durchführung des Projektes.

Die Wölfe würden nach Wolfgarten kommen.

Das Blut des Wolfes

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