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Kapitel 19

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Die alte Burg „Wulffgart“ lag an der Haagstraße, die vom Dorfzentrum in schrägem Winkel nach Nordosten und zur Landstraße verlief. Vom Dorf bis zur Burg war die Haagstraße asphaltiert, das letzte Stück, zur L 249, war allerdings nicht mehr als ein Feldweg. Die langgestreckte Westmauer der Burg bildete zugleich die Rückseite der Anlage und grenzte, ebenso wie ein Teil der Südmauer, an den Waldrand.

Die alte Burg war eine frühmittelalterliche Anlage und ließ den Aufwand und die Komplexität späterer Burgen vermissen. Sie bestand aus einem Mauergeviert, mit dem nach Osten weisenden Haupttor, einem einzelnen Turm und mehreren kleineren Gebäuden, die sich entlang der Wehrmauer zogen. Die Burg war nie zerstört oder umgebaut worden und somit in ihrem Ursprung erhalten geblieben. Die Zeit und die Witterung hatten ihr zugesetzt und von den alten Gebäuden waren nur die Mauern übrig geblieben. Der japanische Eigentümer hatte die Toranlage und die Gebäude restaurieren lassen und sich dabei auf die Beratung einiger Historiker gestützt.

Die Wehrmauer war um die fünf Meter hoch und wies auf der Innenseite einen hölzernen Wehrgang auf. Es gab einen Stall, ein Wirtschaftsgebäude, ein Wohnhaus und ein Vorratslager. Wirtschaftsgebäude und Wohnhaus waren zweigeschossig. In der unteren Ebene waren sie gemauert, darüber bestanden ihre Strukturen jedoch aus Fachwerk. Wahrscheinlich waren früher die Fensteröffnungen einfach mit Stoff oder Holzläden verschlossen worden, doch nun verwendete man Isolierglas, dem man das Erscheinungsbild von Butzenscheiben gab. Der einzige Turm war ein mächtiger Klotz und hatte als Bergfried und letzte Zuflucht gedient. Er besaß einen quadratischen Querschnitt und erhob sich in der Nordostecke der Anlage. Mit seinen vier Stockwerken und der gedrungenen Bauweise wirkte er noch immer erdrückend und bedrohlich. Wahrscheinlich war er überdacht gewesen, denn es gab keine Zinnen, sondern Schießschartenartige Durchbrüche im Mauerwerk. Der jetzige Eigentümer verzichtete auf eine neue Dachkonstruktion. Stattdessen erhob sich auf der obersten Plattform des Turmes ein Podest, auf dem ein fest montiertes Fernrohr stand. Von hier aus konnte man weit in den Naturpark hinein sehen. Über dem Turm wehte die Fahne des japanischen Hauses Yamahata.

Der Japaner war ein der Tradition sehr verbundener Geschäftsmann und er hatte sein Vermögen durch Fleiß und Intelligenz erworben. Er behielt es sich vor, die alte Burg eine Tages für eigene Zwecke zu verwenden, doch bis dahin verpachtete er die Anlage, wohl wissend, dass sie so, auf eine für ihn günstige Weise, gepflegt wurde. Das Ehepaar Bachmann, welches die Kermeter Schänke betrieb, hatte von dem Japaner die Erlaubnis erhalten, die Anlage zu nutzen, sofern sie keine baulichen Veränderungen vornahmen, die den Charakter der Burg verändert hätten. Doch das wäre ohnehin nicht im Interesse der Bachmanns gewesen.

Der findige Herr Bachmann hatte rasch das Potenzial der kleinen Burg erkannt und machte sich eine Leidenschaft des Herrn Yamahata zunutze. Zwar hätte der traditionsbewusste Japaner keinerlei Touristen in seiner Burg geduldet, doch der Japaner empfand eine Leidenschaft für das europäische Mittelalter. So richteten die Bachmanns die Anlage, mit der ausdrücklichen Zustimmung des Eigentümers, auf die Bedürfnisse eines eher speziellen Kundenkreises ein. Es gab viele Menschen, die in ihrer Freizeit das Mittelalter oder andere Epochen auferstehen ließen und sich über die Wochenenden kleideten und verhielten, als lebten sie tatsächlich in einer längst vergangenen Zeit. Für diese Gruppen war Burg „Wulffgart“ eine willkommene Möglichkeit, sich für ein paar Tage ins frühe Mittelalter zu begeben. Die Leute investierten viel Zeit und Geld in ihre Leidenschaft und gehörten in der Regel nicht zu den vermögenden Kunden, doch die Bachmanns passten sich den Gegebenheiten an.

Die „Mittelalterleute“ hatten für Herrn Yamahata und die Bachmanns durchaus Vorteile. Viele von ihnen waren mit den alten Handwerken vertraut und bestens geeignet, die Burg originalgetreu in Schuss zu halten und kleine Mängel zu beheben, so dass ihnen keine Kosten für den Aufenthalt berechnet wurden. Herr Yamahata erfreute sich daran, dass diese Menschen seine Burg zu schätzen wussten und sie bereitwillig pflegten, und die Bachmanns erfreuten sich an Gästen, die oft auf Speisen und Getränke zurückgriffen, welche das Ehepaar bei den Mittelaltertreffen anboten.

Im Untergeschoss des Wohnhauses der Burg hatten die Wirtsleute eine Schänke eingerichtet, deren rustikales Ambiente den Wünschen der Hobbygruppen entgegen kam. Die Preise waren günstig und die Bachmanns verfügten über einige Quellen, von denen sie auch mittelalterlich anmutende Waren und Getränke erstanden. Die zusätzliche Einnahmequelle durch die Mittelalterfreunde machte die Aushilfen mehr als wett, welche die Wirtsleute, an den Wochenenden der „Rittertreffen“, für die Kermeter Schänke einstellen mussten.

An diesem Samstag luden die Bachmanns zum Wolfsfest. Die Ankunft der Wölfe war ihnen ein willkommener Anlass und Doktor Mayen von der EWoP sah dies als Gelegenheit, ein wenig Werbung innerhalb der Wolfgartener Einwohnerschaft für das Akzeptanzprojekt zu machen. So hatten die Bachmanns, auf Kahnkes Betreiben, die Dorfbewohner eingeladen und zwei Mittelaltergruppen gebeten, für ein wenig zeitgenössische Stimmung zu sorgen. Diese sagten gerne zu, dem Paar den Gefallen zu tun, zumal kostenfreier Met winkte.

Am Freitag waren die ersten Gäste eingetroffen und sie nahmen die übliche Mühsal auf sich, denn die Burg verfügte nur über wenige Parkplätze. Für die Mittelalterfreunde war es selbstverständlich, ihre Fahrzeuge „außer Sichtweite“ zu bringen, denn deren Anblick würde ihr Empfinden einer „Zeitreise“ erheblich stören. So bewegten sich seit Freitag diverse Fahrzeuge auf jenen Straßen, die zu den Touristenparkplätzen am alten Feuerwachtturm und der Rangerstation führten, zwischen denen merkwürdig gekleidete Menschen zur Burg strebten. Burgfrauen, Knappen, Ritter und Gaukler, dazu ein paar Handwerker der alten Zünfte.

Ihre Anwesenheit schien die alte Burg um Jahrhunderte zurück zu versetzen.

Für die Wolfgartener war das ein exotischer Anblick. Manche lächelten über die Verrückten, andere führten jedoch auch interessierte Gespräche und waren überrascht, dass die Mittelalterfreunde sich nicht nur verkleideten, sondern auch über eine Menge an Fachwissen verfügten. Da die Gaukler und Spielleute am Abend für Unterhaltung sorgen wollten, konnte man mit dem regen Interesse der Dorfbewohner rechnen.

Die Bachmanns passten sich den Kunden an und trugen ebenfalls Kleidung die, wenigstens grob, ins frühe Mittelalter passte. Sie wussten, dass die Mittelalterfreunde es nicht schätzten, wenn sie in Jeans bedient wurden. Zudem gaben die Betreiber der „Kermeter Schänke“ bereitwillig zu, dass es ihnen selbst Spaß machte, ein wenig in die alte Zeit hinein zu schlüpfen.

„Bier, Wein oder Met?“, fragte Herr Bachmann freundlich und lehnte sich auf den Tresen der Schänke.

Der angesprochene Doktor Mayen von der EWoP strich sich zögernd über das Kinn. „Ich weiß nicht recht. Met hört sich ganz interessant an.“

„Alter germanischer Honigwein“, erläuterte Herr Bachmann. „Sehr lecker.“

„Schön, dann geben Sie mir ein Glas.“

Der Wirt lächelte freundlich. „An diesem Tag nur im Becher oder Trinkhorn.“

Der Tierarzt und Wolfsforscher entschied sich für das Trinkhorn, kostete und nickte anerkennend. „Bringen Sie uns noch Vier von den Dingern da vorne an den Tisch.“

„Wird erledigt.“

Rechts und links des Eingangs der Schänke standen die Tische und Sitzbänke. Sie waren grob aus Holz gefertigt, hatten allerdings bequeme Sitzauflagen. Ein Zugeständnis der Bachmanns an die Dorfbewohner und die Forscher der EWoP. Vor dem Tresen stand ein buntes Gemisch aus Gästen, die dabei zusahen, wie die kleine Bühne für den Auftritt der Spielleute vorbereitet wurde.

Mit leichtem Klingen seines metallenen Kettenhemdes trat ein Ritter an den Tresen und legte die, von einem metallbewehrten Handschuh geschützte, Hand auf die polierte Holzplatte. „Wird noch Stroh nachgeliefert? Es sind doch eine Menge Leute gekommen und der Vorrat geht zur Neige.“

„Bauer Wolicek will uns noch ein paar Ballen bringen“, versicherte Herr Bachmann. „Werden noch Bettgestelle benötigt?“

„Ach, die meisten Leute begnügen sich eh mit Decke und Stroh“, meinte der Ritter. „Und der Aufbau einer Bettstatt, mit dem Einziehen der Leine, das lohnt für die kurze Zeit nicht.“

„Okay, ich sage Bescheid, wenn Wolicek mit dem Stroh kommt.“

Doktor Mayen hatte sich zwischenzeitlich zu dem Tisch begeben, an dem auch Janice Göllner, John Turner und Förster Bramke saßen. Der Ranger flirtete ungeniert mit der hübschen Braunhaarigen, der das zu gefallen schien. Mayen lächelte verständnisvoll, prostete Bramke zu und nippte dann an seinem Met. „Und, Herr Bramke, was halten Sie so von der Sache?“

Förster Tobias Bramke runzelte die Stirn. „Meinen Sie das Gelage hier oder die Wölfe?“

„Natürlich die Wölfe.“

Bramke lächelte. „Im Grunde habe ich nichts gegen Wölfe. Im Grunde könnten sie für den Naturpark von großem Vorteil sein. Sehen Sie, Wildschweine, Rotwild und Mufflons haben hier keine natürlichen Feinde und vermehren sich viel zu gut. Wir müssen hier schon eine begrenzte Jagd freigeben. Die Wölfe könnten für ein gesundes Verhältnis sorgen. Ich schaue mir die Sache in Ruhe an und warte ab, bevor ich mir ein Urteil bilde.“

„Sehr vernünftig“, meinte Doktor Mayen. „Ich wollte, alle Menschen wären so.“

Der Förster lächelte tiefgründig. „Die wenigsten Menschen machen sich die Mühe, die Natur verstehen zu wollen, damit sie mit ihr leben können. Für die meisten ist die Natur noch immer etwas, dass man ausbeuten und nach dem eigenen Willen umformen kann.“

Mayen nickte. „Aber das ändert sich. Der Naturschutz erhält einen immer höheren Stellenwert.“

Bramke lachte auf. „Sie meinen diese Ökofreaks? Da bin ich doch ein bisschen misstrauisch, Doktor Mayen. Ich finde, es muss eine Gleichberechtigung zwischen Mensch und Natur geben. Was die Ökos da gelegentlich abziehen, ist eine einseitige Stellungnahme für die Natur. Dagegen hätte ich ja eigentlich auch nichts, aber ich finde, es wird falsch angepackt. Man muss miteinander reden, verstehen Sie? Es hilft nichts, die Anhänger der eigenen Meinung als die Heilsbringer zu betrachten und die anderen Leute als böse Weltvernichter zu verurteilen. Das schafft Grenzen und die muss man überwinden.“

„Darauf trinke ich einen“, sagte Mayen lächelnd und hob sein Horn.

Bramke war ein stämmiger Mann mit tiefschwarzem Haar. Lediglich an den Schläfen und im Vollbart zeigten sich weiße Haare. Mayen erinnerte der Anblick ein wenig an das Bauchfell eines lupus lupus. „Menschenschutz“, sagte der Förster nachdenklich.

„Wie bitte?“ Mayen zog fragend die Augenbrauen hoch.

Bramke grinste. „Wir reden von Naturschutz oder Umweltschutz, doch darum geht es doch überhaupt nicht. Egal, was der Mensch anstellt, die Natur wird überleben. Das hat sie immer getan. Sie passt sich an. Weit besser, als der Mensch. Selbst wenn unsere Luft aus Giftgasen bestünde, würde die Natur sich anpassen. War ja sogar mal so. Na ja, jedenfalls könnte sich der Mensch sicherlich nicht so gut an veränderte Umweltbedingungen gewöhnen. Deswegen sollte der ganze Umweltschutz und Naturschutz besser Menschenschutz heißen. Träfe den Kern der Sache viel besser.“

„Auch darauf trinke ich“, stimmte Mayen zu und grinste breit. „Ist eine ungewöhnliche, aber interessante Ansicht.“ Er trank mit den anderen und leckte sich genüsslich über die Lippen. „Zurück zu den Wölfen. Sehen Sie da Probleme?“

„Solange sie im abgesperrten Bereich bleiben? Nein. Aber wenn sie frei im Tal herumlaufen, dann könnte es Probleme geben. Ich hoffe, dass sie nicht auf den Gedanken kommen, eine von Woliceks Kühen anzufallen oder das noch Schlimmeres passiert. Solange sie sich an Wildschweine und Mufflons halten, ist alles Okay.“

„Der Mensch gehört nicht in ihr Beutespektrum.“ Mayen nahm einen kräftigen Schluck und sah bedauernd in den leeren Becher. „Und sie scheuen den Menschen.

Bramke winkte dem Wirt zu, Nachschub an Met zu bringen.

Mayen grinste dankbar. „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wer oder was den Hund des Bauern getötet hat?“

Der Förster zuckte die Schultern. „Keine passenden Spuren von Raubwild, wenn Sie das meinen. Offen gesagt, gefällt mir das nicht. Haben Sie gehört, dass hier ein paar Wochen zuvor ein Wandererpaar verschwunden ist?“

„Ja. Sehr rätselhafte Sache, das. Wenigstens hat es nichts mit unseren Wölfen zu tun. Die waren ja noch nicht da.“

Bramke nickte. „Wenn so etwas passieren sollte, während die Wölfe durch das Tal streifen, dann können Sie ihr Projekt vergessen. Hier gibt es einige Leute, die nicht gut auf Wölfe zu sprechen sind und einige davon haben Flinten im Keller.“

„Ah, wirklich?“ Mayen strich sich nachdenklich über das Kinn. „Ich habe eher das Gefühl, die Leute akzeptieren das Projekt.“

„Solange nichts passiert, ja.“ Bramke leckte sich über die Lippen. „Aber die Stimmung kann schnell kippen. Sehen Sie, am Anfang waren die meisten Leute für den Naturpark und sind es auch jetzt noch. Aber hier bei uns, in Wolfgarten, gibt es eine Menge kritischer Stimmen.“

„Ich darf um ein höfliches Handgeklapper bitten“, war eine weibliche Stimme zu vernehmen und die Anwesenden wandten sich automatisch der kleinen Bühne zu. Dort hatten inzwischen die Spielleute Platz genommen. „Die Gruppe Lautenschlag wird jetzt einige Stücke aus dem Mittelalter spielen.“

Mayen betrachtete interessiert ein merkwürdiges Instrument, an dem sich eine Kurbel befand. Die junge Frau, welche die Gruppe angekündigt hatte, nahm ein Tamburin und begann den Rhythmus zu schlagen, dann fielen die anderen Instrumente ein.

„Gar nicht mal schlecht“, meinte Doktor Mayen. „Jedenfalls was anderes als dieses HipHop, das Janice ständig laufen lässt.“

Etliche der Gäste unterhielten sich weiter, während die Gruppe aufspielte. Die Bachmanns kamen zu den Tischen und fragten nach den Wünschen der Gäste. Die Karte war bescheiden, aber die meisten freuten sich auf den Schweinebraten, der sich am Spieß über der Feuerstelle drehte. Gespräche und Musik mischten sich und in der Schänke herrschte ein stetes Kommen und Gehen. Einige mussten nach Hause aufbrechen, andere kamen erst spät zu der Veranstaltung. Unter letzteren war auch Bauer Wolicek, der zuvor das Stroh für die Mittelalterfreunde abgeliefert hatte. Er kam anschließend in den Gastraum und ließ sich von Bachmann ein Bier zapfen.

Alles verlief harmonisch, obwohl einige der Gäste bald mehr getrunken hatten, als ihnen eigentlich gut tat. Doch es gab keine Reibereien und besonders Frau Bachmann hatte ein Gespür für gereizte Stimmung. Sie war schnell zur Stelle, beschwichtigte und gab eine Runde aus, was die erhitzten Gemüter rasch besänftigte.

An diesem Abend machte ihr Wolicek jedoch Sorgen. Sonst war er ein angenehmer Gast, wenn er sich einmal in die „Kermeter Schänke“ verirrte oder Burg „Wulffgart“ belieferte, doch an diesem Abend wirkte er düster und verschlossen. Das war ungewöhnlich und sicher auch nicht gut, denn er trank auch mehr, als gewöhnlich. Sie trat unauffällig neben ihren Mann.

„Du, ich glaube, den Wolicek, den sollten wir im Auge behalten.“

„Den Wolicek?“ Der Wirt sah kurz zu dem Milchbauern hinüber und widmete sich dann wieder dem Spülen von Pokalen, Bechern und Hörnern. „Was ist mit ihm?“

„Ich weiß nicht. Die ganze Zeit steht er da am Tresen, kippt ein Bier nach dem anderen und starrt düster vor sich hin.“

Der Wirt zuckte die Schultern. „Der trauert noch immer um seinen Rudi.“

„Irgendwann muss das aber auch mal gut sein“, raunte sie. „Das ist jetzt Wochen her und seitdem hat er diese miese Stimmung. Die Leute im Dorf sagen, er legt sich schon mit Jedem an.“

„Der Wolicek? Blödsinn. Das ist doch ein ganz ruhiger Kerl.“

„Aber irgendwas geht in ihm vor sich. Wir sollten ihn wirklich im Auge behalten.“

„Na schön“, stimmte er zu. „Ich glaube, der Kircher und der Wagner sind hier irgendwo. Da wird schon nichts passieren.“

„War ein kluger Zug, die beiden Bullen einzuladen.“

Er lachte leise auf. „Lass die Beiden das bloß nicht hören. Das haben die nicht so gerne. Zumindest der Kircher nicht. Der ist da ein bisschen empfindlich. Aber ich habe denen schon gesagt, um was es geht. Diesen Abend trinken die bestimmt nichts und ich habe bei den anderen Gästen durchblicken lassen, dass unsere Polizei nachher die Straße überwacht. Die meisten sind ja ohnehin zu Fuß.“ Er stellte die gesäuberten Trinkgefäße zum Abtropfen auf die Spüle und nahm sich die nächsten. „Ich meine, wenn einer unserer Gäste sonst ein bisschen unsicher fährt, kann ja nicht viel passieren. Aber heute sind halt viele unterwegs und ich will nicht, dass so ein Besoffener Jemanden anfährt.“

Auf der Bühne wurde eine Ballade angestimmt. Die Worte waren für viele nur schwer zu verstehen, vor allem für jene, denen die mittelalterlichen Sprechweise fremd war, doch die Geschichte war leicht verständlich. Die Sängerin, offensichtlich in der Rolle eines jungen Mädchens, wurde von einem Wolf bedrängt und flüchtete sich in die Arme eines bewaffneten Recken, dessen Gesicht durch einen Helm vollkommen unkenntlich war. Der vertrieb den bösen Wolf und die Maid sank ihrem Helden schmachtend in die Arme. Alle dachten nun, das Stück sei zu Ende und im Publikum setzte Applaus ein, doch dann ging es doch noch weiter. Plötzlich riss sich der Held den Helm vom Kopf und darunter wurde eine Wolfsmaske sichtbar.

„Und die Moral von der Geschicht´“, meinte der sichtlich angetrunkene Doktor Mayen zu Förster Bramke, „trau keiner einem Anderen nicht.“

Die Erwiderung Bramkes ging im Klatschen der anderen Gäste unter, bis der Förster sich näher zu Mayen beugte. „Was Sie da gerade gesagt haben, widerspricht sich.“

„Ach, egal.“ Mayens Augen glänzten verdächtig. Er hob sein Horn zum Tresen. „Und noch einen auf die Wölfe.“

„Ihr mit euren verdammten Wölfen!“

Im ersten Moment wusste Mayen nicht, woher der Ruf gekommen war, bis sich Wolicek vom Tresen abdrückte. Er war sichtlich betrunken und stand nur unsicher auf seinen Beinen. Er deutete mit seinem halb gefüllten Becher auf den Forscher und etwas Flüssigkeit schwappte dabei auf den Boden.

„Ich sag´s euch allen, das wird kein gutes Ende nehmen mit diesen Biestern. Ja, ja, jetzt klatscht ihr noch alle Beifall, aber wartet es nur ab. Sobald diese Bestien frei herumlaufen, werden sie auch Blut lecken und dann wird hier keiner mehr klatschen. Dann wird es euch leid tun, dass wir die Wölfe nach Wolfgarten geholt haben.“

„Komm, lass gut sein.“ Frau Bachmann beugte sich über den Tresen.

„Bleib mir vom Hals“, schrie Wolicek auf. „Bleibt mir ja alle vom Hals. Ihr werdet noch an mich denken, wenn die Bestien über euch herfallen.“

„Hören Sie, guter Mann“, begann Doktor Mayen und erhob sich langsam. „Sie brauchen keine Angst zu haben, dass…“

„Ich bin nicht Ihr guter Mann.“ Wolicek knallte den Becher auf den Tresen zurück. „Sie können sich Ihren guten Mann in den Arsch schieben, jawoll, das können Sie. Ich habe keine Angst vor den Viechern. Ich nicht. Wenn sich auch nur eines von diesem Biestern meinen Kühen nähert, dann spieße ich es auf. Ich schlag es tot, jawoll.“

Bramke sah, wie sich Jochen Kircher und Peter Wagner langsam dem Tresen näherten. Die beiden Polizeibeamten versuchten wohl, den erregten Bauern in die Zange zu nehmen.

Frau Bachmann schob sicherheitshalber die Trinkgefäße zur Seite, die in Woliceks Reichweite standen. „Schau, Wolicek, wir alle wissen, was man deinem Rudi angetan hat, ja? Aber du kannst sicher sein, dass man…“

„Sicher?“ Er fuhr herum und sah die Wirtin an. „Ha, und ob ich mir sicher bin. Ihr alle werdet es bitter bereuen, die Wölfe hergeholt zu haben. Die werden es euch nicht danken. Gewiss nicht. Die werden euch ihre Zähne in die Kehlen schlagen und dann ist es aus.“

„Mensch, jetzt hör endlich auf, Wolicek“, rief einer der Dorfbewohner. „Wir wollen hier das Mädel hören und nicht dein Gekeife.“

„Ach, ihr könnt mich alle.“

Für einen Moment sah es so aus, als wolle sich Wolicek tatsächlich auf eine handfeste Auseinandersetzung einlassen. Aber dann machte er lediglich eine obszöne Geste und stapfte schweigend aus dem Gastraum.

Etliche atmeten erleichtert auf und der Wirt klatschte in die Hände, was in der herrschenden Stille unnatürlich laut klang. „Lassen wir uns den schönen Abend nicht verderben. Es gibt Spiel und sicher auch noch Tanz, und außerdem haben wir frisch gezapftes Bier, kühlen Wein und süßen Met.“

„Das ist ein Wort“, rief einer. „Her damit.“

Die Musik setzte wieder ein und nach einer Weile war der Zwischenfall für die meisten auch schon vergessen.

Förster Bramke sah Doktor Mayen seufzend an. „Genau das meinte ich vorhin. Sobald etwas passiert, kann die Stimmung ganz schnell kippen.“

Der Wolfsforscher grinste trunken. „Wird schon nicht, wird schon nicht.“

Förster Bramke war sich da nicht ganz so sicher, aber er erkannte, dass man mit Doktor Mayen an diesem Abend wohl nicht mehr vernünftig reden konnte. Zudem, der Met war wirklich nicht schlecht.

Das Blut des Wolfes

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