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Kapitel 6

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Svenja fuhr mit ihrem Mofa zur Rangerstation. Neugierde und Langweile trieben sie gleichermaßen dorthin. Seit man am Vortag das Verschwinden der Proschkes festgestellt hatte, wirkte das sonst so verschlafene Wolfgarten wie ein Bienenkorb. Svenja war offensichtlich nicht die Einzige, die es zur Rangerstation trieb, wo man die Suchaktion nach den verschollenen Touristen koordinierte. Als sie das Mofa auf den Parkplatz lenkte, hielten sich dort bereits etliche Dorfbewohner und andere Neugierige auf, die zusahen, was sich ereignete und eifrig ihre Kommentare dazu abgaben. Am Kiosk herrschte Hochbetrieb, denn die sommerliche Hitze und die Aufregung der Suchaktion förderten Appetit und Durst der Zuschauer.

Svenja hatte gehofft, noch vor der Rettungshundestaffel einzutreffen und war ein wenig enttäuscht, als John Turner sich von einigen Neugierigen löste und ihr sagte, dass die Gruppe bereits vor einiger Zeit mit den Hunden in den Wald gegangen sei.

„Das sind ausgebildete Rettungshunde mit ihren Hundeführern und einem zusätzlichen Suchassistenten“, erklärte der Ranger mit zuversichtlicher Stimme. „Wenn die Proschkes noch leben, dann werden sie gefunden.“

„Und wenn nicht?“ Svenja kickte den Ständer ihres Mofas nach unten und bockte ihr Fahrzeug auf. „Ich meine, wenn sie… Na ja, wenn sie nicht mehr leben.“

Johns dunkles Gesicht wurde noch eine Spur dunkler. „Dann brauchen wir Suchhunde. Die sind meist von der Polizei und finden auch die Personen, die keine Rettungshunde mehr brauchen.“ Er wippte leicht auf den Fersen und zeigte dadurch, dass er keineswegs so ruhig war, wie es den Anschein hatte. Er deutete zu den abgestellten Fahrzeugen der Suchstaffel. „Die sind früh gekommen und vor einer Stunde losgezogen.“

„Und die anderen?“ Svenja wies mit dem Kopf zu der Schar der Neugierigen.

„Belagerungszustand seit dem Morgengrauen.“ John lächelte ein wenig kläglich. „Kommt mir fast vor, als wäre die Rangerstation eine mittelalterliche Burg. Ich hasse so etwas“, fügte er leidenschaftlich hinzu. „Verdammte Gaffer.“

Svenja räusperte sich. „Na ja, bin ich auch“, bekannte sie.

„Ja, mag sein.“ Er grinste schon wieder. „Aber du hast wenigstens nicht so abenteuerliche Theorien über das Verschwinden der Proschkes.“

„Abenteuerliche Theorien?“

John deutete nochmals zu den Neugierigen. „Lauter Professoren und Sachverständige aus eigenen Gnaden. Einige vermuten einen Bären, der unentdeckt durch den Wald schleicht, andere ein Ehedrama, welches sich in der Finsternis ereignet hat. Die Anhänger beider Theorien sind sich sicher, dass man allenfalls ein paar Knochen oder Kleidungsstücke von den Proschkes findet. Irgendwann einmal, wenn schon niemand mehr damit rechnete. Einer meint sogar, dass man das Paar entführt hat, obwohl absolut nichts dafür spricht.“

„Keine Hinweise?“

„Verdammt, nichts“, brummte er. „Wären die Hunde sonst hier? Ich bin froh, dass man im Park keinen Kornkreis gefunden hat, sonst würden einige Spinner sicher schon von einer Invasion Außerirdischer phantasieren.“

Svenja sah einen Tieflader, auf dem der Wagen des vermissten Ehepaares stand. John folgte ihrem Blick. „Geht zur kriminaltechnischen Untersuchung, glaube ich. Da kann dir dein Vater sicher mehr sagen. Steht da drüben, bei den Polizeiwagen. Ich muss zur Honnig, Svenja, es gibt wohl Ärger am Kiosk. Wir sehen uns sicher später noch mal.“

Am Verkaufsstand der Rangerstation war Unruhe entstanden und der Ranger beeilte sich, hinüber zu gelangen. Svenja blieb unentschlossen stehen. Obwohl sie von reiner Neugierde zur Station getrieben worden war, scheute sie davor zurück, sich den anderen Gaffern anzuschließen, die sich sicherlich eher als besorgte Bürger bezeichnet hätten. Einige der Leute waren wohl mit besten Absichten hierher gekommen, aber die meisten schienen die Polizei mehr zu beschäftigen, als die eigentliche Suchaktion nach den Vermissten.

Svenja strich sich eine Locke aus der Stirn und stieß ein leises Schnauben aus. Eigentlich hatte sie hier gar nichts verloren. Trotzdem, immerhin war endlich etwas in Wolfgarten los, auch wenn der Anlass nicht gerade erfreulich war. Sie entschloss sich, zu ihrem Vater hinüber zu gehen, der hinter einem Plastikband stand, mit dem man den Zutritt des Waldpfades provisorisch abgesperrt hatte.

Der rundliche Peter Wagner sah sie näher kommen und winkte sie heran. „Hallo, Svenja, Jochen steht drüben bei den Leuten von der KriPo.“ Er zuckte mit den Schultern. „Solltest ihn jetzt besser nicht stören. Du weißt ja, wie er ist, wenn was los ist.“ Er legte den Kopf zweifelnd auf die Seite. „Oder ist es wichtig?“

„Bin nur neugierig“, gestand Svenja.

Peter gähnte herzhaft. „Sind wohl alle. Da kommt Jochen.

Ihr Vater hatte wieder diesen dienstlichen Gesichtsausdruck, bei dem sein Gesicht so unangenehm kantig wurde und nichts von der Empfindlichkeit seiner Seele verriet. Heute empfand sie das als verständlich, er hatte sicherlich eine Menge um die Ohren.

„Musst du heute nicht nach Schleiden ins Büro?“, fragte er. „Freitags bist du doch immer in deiner Firma.“

„Nein, heute nicht.“ Sie zuckte die Schultern. „Heute wird es bei dir sicher spät. Soll ich uns was Warmes machen?“

Jochen nahm kurz die Schirmmütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ein Salat wäre mir lieber. Es ist verdammt heiß und ich glaube nicht, dass es gegen Abend abkühlt. Nein, nichts warmes.“

Über seine Schultern hinweg erkannte Svenja eine Gruppe von Männern und Frauen in orangeroter Schutzkleidung, die Hunde mit sich führten. „Sind das die Rettungshunde?“

Jochen fuhr irritiert herum und nickte. „Das ging aber schnell.“

Nein, man hatte die Proschkes nicht gefunden. Das wurde schnell deutlich und es war eher Zufall, das Svenja die Worte einer Hundeführerin verstehen konnte, die sich an den Einsatzleiter der Polizei wandte.

„Wir sind knapp eineinhalb Kilometer in den Wald eingedrungen und dann war Feierabend.“ Die dunkelhaarige Frau mit dem kurzen Haarschnitt und mit Brille deutete auf ihren Hund, der nicht von ihrer Seite wich. „Sehen Sie sich Fly an. Der Arme ist fast durchgedreht. Nichts zu machen, ich habe so etwas noch niemals erlebt.“

Der Einsatzleiter runzelte die Stirn. „Was war los?“

„Das wissen wir nicht. Wir haben die Hunde losgemacht und sie hatten ja auch den Geruch der Proschkes. Zogen sofort los und dann, ganz plötzlich, zogen sie die Ruten ein und begannen zu winseln. Ich habe noch niemals erlebt, das Fly solche Angst hatte.“

Der Hund war schwarzweiß und Svenja schloss ihn sofort in ihr Herz. Die Furcht des Tieres war deutlich zu erkennen. Seine Flanken zitterten und Fly hatte die Rute nach unten zwischen seine Beine geklemmt. Immer wieder starrte er mit aufgerissenen Augen in die Richtung, aus der die Gruppe gerade gekommen war und ließ ein leises Winseln hören.

Einer der anderen Hundeführer nickte bestätigend. „Die Hunde sind nicht dazu zu bewegen, in den Wald zu gehen. Irgendetwas ist da drin, was ihnen panische Angst einjagt.“

Der Polizeibeamte strich sich über das Kinn. „Vielleicht ein Raubtier?“

Die Hundeführerin mit der Brille schüttelte den Kopf. „Wir sind öfter mit den Hunden im Wald. Die kennen die Gerüche von Wildschweinen, Luchsen und dem, was sonst noch im Wald herumläuft. Das hier, das war nichts dergleichen. Das war etwas vollkommen anderes.“

„Schön, und was hat die Hunde dann so erschreckt?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls werden die Hunde da nicht nochmals hinein gehen. Tut mir Leid.“

Einer der Hundeführer strich seinem Hund über den Kopf. „Was immer da im Wald ist oder im Wald war, macht unseren Hunden eine Scheißangst.“

„Sicher nicht die Proschkes“, warf Peter Wagner lakonisch ein und erntete dafür einen bösen Blick des Einsatzleiters. „Aber vielleicht das, was die Proschkes erwischt hat.“

Der Einsatzleiter seufzte unbehaglich. „Na gut, wir brechen ab, Leute. Hat keinen Zweck, die Hunde nochmals hinein zu schicken und die normale Suchaktion hat nichts gebracht.“

„Und was wird jetzt mit den Proschkes?“, fragte Jochen.

Die Hundeführerin wollte gerade zu ihrem Fahrzeug gehen und hatte die Frage gehört. Sie wandte sich nochmals um und sah die Polizisten an. „Es klingt vielleicht ein wenig krass, aber ich würde mir im Augenblick mehr Sorgen um das machen, was sich da in eurem Wald herumtreibt.“

Das Blut des Wolfes

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