Читать книгу Das Blut des Wolfes - Michael Schenk - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеSvenja Kircher nahm zwei Stufen auf einmal. Beim Telefonat mit ihrer Freundin Kim hatte sie die Zeit vergessen und den drängenden Druck ihrer Blase ignoriert, aber nun forderte die Natur ihr Recht. So hastete sie die Treppe hinunter, öffnete die Tür des Badezimmers und trat ein, ehe sie das Rauschen der Dusche realisierte.
„Oh, ´tschuldigung.“ Svenja errötete verlegen.
Seit dem Tod ihrer Mutter lebte sie mit ihrem Vater alleine und die Person unter der Dusche war definitiv nicht männlichen Geschlechts. Die Anwesenheit einer anderen weiblichen Person überraschte sie. In den vergangenen Jahren hatte ihr Vater Jochen kein sonderliches Interesse an der Damenwelt gezeigt. Stattdessen hatte er sich auf seinen Beruf als Polizeibeamter und auf Svenjas Erziehung konzentriert. Allerdings war seine „kleine“ Tochter inzwischen neunzehn Jahre alt, machte eine Ausbildung zur Werbegrafikerin und hatte inzwischen auch eigene Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt. Sie war aus dem Gröbsten heraus, wie Jochen vor einigen Wochen einmal beiläufig erwähnt hatte und vielleicht war das der Grund dafür, dass sich so unvermutet ein weibliches Wesen unter der Brause drehte.
Svenja hoffte vergebens, dass die Fremde ihr Eintreten nicht bemerkt und das Rauschen der Brause die Geräusche überdeckt hatte. Die Gestalt in der Duschkabine bewegte sich und eine schwarzhaarige Frau schob den Plastikvorhang ein Stück zur Seite und lächelte sie an. „Schon in Ordnung, ich habe das Klopfen sicher nicht gehört.“ Die Frau deutete mit dem Kopf zur Toilette. „Ich sehe auch nicht hin, falls du…?“
Svenjas hätte es sich liebend gerne verkniffen, denn die Situation war ihr doch ein wenig unangenehm. Aber ihre Blase konnte nicht länger warten.
Errötend nickte sie. „Tut mir leid. Ist mir jetzt echt peinlich.“
„Kein Problem.“
Der Duschvorhang wurde wieder geschlossen und Svenja beeilte sich, auf die Toilette zu kommen. Im Stillen verfluchte sie ihren Vater Jochen. Zum Einen, weil er keine Gästetoilette eingebaut und zum Anderen, er ihr nicht gesagt hatte, dass er Besuch erwartete. Vielleicht war sie aber auch zu sehr mit ihrem Telefonat beschäftigt gewesen und hatte nicht darauf geachtet, wie ihr Vater ihn ankündigte. Sie erinnerte sich, dass er kurz in ihrem Zimmer gewesen war, aber Kim hatte Stress mit ihren Eltern und das nahm Svenjas Aufmerksamkeit stärker in Anspruch, als der übliche Kontrollblick ihres Vaters.
Svenja blickte auf die Dusche. Durch den milchigen Vorhang war die schlanke Gestalt zu sehen. Manchmal presste sich der Körper gegen das Plastik, so dass die Details hervor traten. Die Frau war ihr keine Unbekannte. Svenja hatte sie schon gelegentlich gesehen, denn als Polizeibeamter arbeitete ihr Vater eng mit der Ortsverwaltung von zusammen. Im Fall des winzigen Wolfgartens bestand diese Verwaltung aus der Ortsvorsteherin Vanessa Schneider. Dass ausgerechnet diese Frau so unvermutet unter der Dusche stand, verblüffte und verärgerte Svenja.
In den vergangenen Jahren waren sie und ihr Vater zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen und sie hatte ihre Mutter in vielen Dingen ersetzen müssen. Svenja lernte die Wäsche zu machen und den Haushalt zu führen, konnte längst weit mehr als nur Spaghetti zubereiten und schaffte es auch, einen Knopf anzunähen, ohne sich die Finger zu zerstechen. Fertigkeiten, die ihr Vater wohl niemals erwerben würde. Der Beruf nahm ihn zu sehr in Anspruch. Das Leben in Wolfgarten und an der Seite ihres alleinerziehenden Vaters hatte Svenja früh erwachsen werden lassen. Jetzt schien zum ersten Mal wieder eine andere Frau in das Leben ihres Vaters zu treten und das gefiel Svenja überhaupt nicht.
Sie säuberte sich und betätigte die Spülung. „Bin fertig“, rief sie Vanessa zu.
„Alles cool“, kam die Erwiderung.
Svenja verzog das Gesicht und verließ das Bad.
Alles cool… Versuchte die Schneider etwa, sich bei ihr anzubiedern, indem sie betonen wollte, wie jugendlich sie doch war? Svenja stieß ein verächtliches Schnauben aus und beeilte sich, in ihr Zimmer zu kommen.
Das alte Schlafzimmer ihrer Eltern lag im Erdgeschoss, Svenjas Reich befand sich unter dem Dach. Das Zimmer war recht groß, wurde aber durch die Dachschräge eingeengt, die sich an einer Längswand entlang zog. Die Einrichtung stammte überwiegend von einem großen Möbelhaus. Svenja und ihre Mutter hatten sie damals selbst zusammengebaut, da Jochen zu einem Lehrgang gewesen war. Sie waren der Aufbauanleitung gefolgt und hatten im Verlauf der Montage in ihrer Verzweiflung auch zu Hammer und Nägeln gegriffen. Jochen sah damals großzügig darüber hinweg.
Gegenüber dem Fenster stand das Bett, auf dem einige Kuscheltiere an die Mutter erinnerten. Fünfzehn Stofftiere. Zu jedem gemeinsamen Geburtstag hatte Karin Kircher ihrer Svenja ein Besonderes geschenkt. Svenja wollte keines davon missen. Eigentlich war sie aus dem Alter ja heraus und doch gaben ihr die weichen Gestalten etwas Trost, wenn sie ihre Mutter wieder einmal vermisste.
Regale und Schrank waren abgenutzt und nur das Bett und der Schreibtisch waren neueren Datums. Svenja hätte sich längst andere Möbel kaufen können, denn sie verdiente immerhin schon ihr eigenes Geld, aber die alten Sachen genügten ihr und sie wollte lieber für die Zeit sparen, an der sie aus Wolfgarten fort zog. Früher oder später würde dies der Fall sein, schon aus beruflichen Gründen, doch es drängte sie nicht, den Ort zu verlassen.
Die Puppen und die Poster aus Kindheitstagen waren längst verschwunden und durch Aufnahmen verschiedener Musikgruppen und Schauspieler ersetzt. Über dem Bett hing die Lichterkette eines Weihnachtsbaums, die durch halbtransparente Tücher verdeckt wurde. In ihrem gedämpften Licht hatte sie zum ersten Mal die Freuden der Liebe erlebt, ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, welches sie vor ihrem Vater verbarg. So vertraut sie einander auch waren, so führte doch jeder auch sein eigenes Leben. Ein Stück neben dem Fenster, unterhalb der Dachschräge, stand der Schreibtisch. Er war der Beleg dafür, dass aus Svenja längst eine junge Frau geworden war.
Neben einem stationären Computer lag ein geöffneter Laptop auf der Schreibplatte. Grafische Skizzen und Notizen türmten sich in der Ablage und auf dem Bildschirm war der halbfertige Entwurf eines Werbeflyers zu sehen. Svenja hatte das Glück gehabt, nach ihrer Schule sofort eine Ausbildungsstelle gefunden zu haben. Der Beruf der Werbegrafikerin gefiel ihr, denn er war vielseitig, erlaubte ihr das Ausschöpfen eigener Ideen und den Kontakt zu Kunden. Sie hatte Talent, das richtige Gespür für die Inhalte und setzte diese mit Ideenreichtum um. Ihre Chefin war mehr als nur zufrieden und erlaubte Svenja ein paar Freiheiten, welche diese gerne annahm. Dazu gehörte es, dass sie gelegentlich zu Hause arbeiten konnte, was ihr die Möglichkeit gab, sich zusätzlich um den Haushalt zu bemühen.
Der Sitz der kleinen Firma befand sich in Schleiden und Svenja fuhr mit ihrem Mofa zur Bushaltestelle der Linie 231 an der Landstraße, von dort mit dem Bus nach Gemünd und wechselte in die Linie 829, um mit dem öffentlichen Verkehrsmittel ins Büro zu gelangen. Es war ein wenig umständlich, zumal zwischen den Abfahrtzeiten der Linie 231 eine volle Stunde lag. Gelegentlich hatte sie überlegt, ob sie nicht nach Schleiden ziehen sollte, aber sie wusste nicht mit Bestimmtheit, ob die Firma sie übernehmen würde. Für eine andere Stelle nochmals umzuziehen, empfand sie jedoch als ausgesprochen unpraktisch. Zudem sagte sie sich immer wieder, dass sie ihren Vater nicht im Stich lassen konnte.
Offensichtlich war ihre Sorge um ihn unbegründet, wie die Anwesenheit von Vanessa Schneider bewies. Warum die hübsche Frau nackt unter der Dusche stand, konnte Svenja sich denken, aber warum war es ausgerechnet die schwarzhaarige Ortsvorsteherin? Es gab nur wenige Menschen, gegen die Svenja eine instinktive Abneigung empfand, doch ausgerechnet Vanessa Schneider gehörte zu dieser Gruppe. Die Gewissheit, dass sich diese Frau nun im Haus aufhielt, trübte Svenjas Stimmung und sie ging zu ihrem Laptop, rief das Musikprogramm auf und warf sich auf das Bett. Nachdenklich verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und blickte zur Seite.
Dort hing das Poster ihrer Mutter an der Wand. Es war die vergrößerte Aufnahme eines alten Passfotos und daher von eher mäßiger Qualität. Dennoch war zu sehen, dass Karin Kircher eine sehr hübsche Frau gewesen war. Die blauen Augen strahlten Warmherzigkeit und Freundlichkeit aus.
Angeblich verfügte Svenja über große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter. Dasselbe schmale Gesicht mit den großen dominierenden Augen, dieselben blonden Locken, die gelegentlich ein wenig kraus wirkten und eine schlanke Figur, an der sie lediglich die Schenkel einen Hauch zu kräftig fand.
Svenja konnte sich noch gut an ihre Mutter erinnern und hätte das Poster dafür nicht benötigt. Für ihren Vater war das Bild eher ein Ärgernis. Er versuchte, den Verlust der geliebten Frau zu vergessen. Einmal hatte er das Poster von der Wand gerissen, aber Svenja hatte es sorgfältig wieder zusammengeklebt. Sie wollte die Mutter und deren Tod nicht verdrängen und kam inzwischen, so wie sie glaubte, auch ganz gut damit zurecht. Jedenfalls besser als ihr Vater, der seitdem viel zu oft zum Bier griff und jetzt wohl bei Vanessa Schneider nach Trost suchte.
Eher unbewusst tastete Svenja nach ihrem Mobiltelefon und gab die Kurzwahl ihrer Freundin Kim ein. „Weißt du, was hier abgeht? Die Schneider hängt hier ab. Mann, ich kriege echt die Krise.“
„Die Schneider? Dieses hippe Perlhuhn?“ Kim klang sichtlich überrascht. „Dein Dad ist doch bei den Mützen. Was hat der mit der Schneider zu schaffen?“
„He, ich weiß selbst, dass mein Dad bei den Bullen ist.“
„Na ja, wahrscheinlich will er nur ein bisschen Spaß.“
Svenja seufzte. Sicher, Jochen war ja auch nur ein Mann und hatte seine Bedürfnisse. „Aber ausgerechnet die Schneider?“
Kim lachte auf. „Ach, hab dich nicht so. Für deinen Dad ist die Auswahl in unserem Kaff ja nicht gerade groß, oder?“
„Nein, sicher nicht“, murmelte Svenja. Kims eher gleichgültige Reaktion ärgerte sie.
„He, komm runter.“ Die Freundin spürte die Verstimmung. „Er kann es ja schließlich nicht runterwürgen, oder? Gönn ihm doch den Spaß.“ Kim zögerte einen Moment. „Oder hast du Schiss, dass er das ernst meint?“
Svenja leckte sich unbewusst über die Lippen. Vielleicht war das genau der Punkt, warum sie eine instinktive Abneigung gegen Vanessa Schneider empfand. Sie hatte nichts dagegen, wenn ihr Vater ein bisschen Spaß hatte, doch die Vorstellung, zwischen Vanessa und Jochen könnte eine tiefere Beziehung entstehen, erfüllte sie mit Unbehagen.
„Ich weiß nicht“, gab sie widerwillig zu.
„Mach dir jetzt echt keinen Stress“, riet Kim. „Ist doch nicht gesagt, dass zwischen den beiden wirklich was abgeht.“
„Ach, Scheiße.“
„Du, ich muss Schluss machen, meine Erzeuger rufen zum Essen. Wir können morgen quatschen, okay?“
„Ja, okay.“
Svenja schaltete das Gerät aus und fluchte leise. Sie dachte an ihren Vater Jochen und an Vanessa Schneider und die Vorstellung, dass die beiden Intimitäten austauschten, gefiel ihr immer weniger. Erneut sah sie auf das Poster ihrer Mutter. Vielleicht lag es an den Augen? Die ihrer Mutter blickten freundlich und offen. Die von Vanessa waren… anders. Svenja konnte nicht einmal sagen, was sie an den Augen der Frau störte.
Sie erhob sich wieder von ihrem Bett und trat unter die Dachschräge, in die das große Fenster eingebaut war. Seufzend blickte sie hinaus, legte die Hände auf den Fensterrahmen und stützte ihr Kinn auf die Finger. Eher gelangweilt glitt ihr Blick über Wolfgarten.
Das kleine Haus der Kirchers lag am Ende der Straße „Pützbenden“. Svenjas Fenster wies nach Süden und vom Dachfenster aus hatte sie einen guten Ausblick auf die kleine Gemeinde. Rechts konnte sie den Hof von Bauer Wolicek sehen. Gelegentlich verirrte sich eine von seinen Kühen bis zum Haus der Kirchers. Wenn sie sich weit aus dem Fenster beugte, geriet sogar die Rangerstation am Waldrand in ihr Blickfeld. Links von sich sah sie dann gerade noch ein kleines Stück der Schänke an der Kermeter Straße.
Direkt vor ihr breitete sich Wolfgarten aus.
Mit rund zweihundert Einwohnern war es eine kleine Gemeinde, aber sie wirkte ein wenig weitläufiger, da die Häuser in sehr aufgelockerter Bauweise angeordnet waren. Einfamilienhäuser und ein paar Zweifamilienhäuser dominierten das Bild. Das größte Gebäude war das neue Dorfgemeinschaftshaus an der Kreuzung im Dorfzentrum, gefolgt von der neuen Feuerwache und dem Hof des Bauern Wolicek.
Svenja seufzte leise.
Wolfgarten war ein malerischer, ein beschaulicher Ort oder, wie Svenjas Freundin Kim es formulierte, stinklangweilig. Bei den meisten anderen Dörfern gab es eine Straße, die durch sie hindurch führte. Da war immer ein gewisses Verkehrsaufkommen, oft sogar eine direkte Busverbindung. Doch an Wolfgarten glitt das Leben auf der nahen Landstraße vorbei. Wenn man einmal von den Wanderern und Touristen absah, die wegen des Naturparks und der nahen Sehenswürdigkeiten kamen. Aber die fuhren gleich zu den Parkplätzen und nahmen sich kaum die Zeit, sich das Dorf selbst anzusehen.
Aber viel hätte es wohl nicht zu sehen gegeben. Kermeter Schänke, alter Feuerwachtturm und Rangerstation lagen jeweils am Ortsrand und im Dorf selbst waren das Gemeinschaftshaus und die Feuerwache sicher keine Besucherattraktionen. Allenfalls der kleine Laden der Westphals, gegenüber dem Gemeinschaftshaus, zog gelegentlich Wanderer an, die sich dort versorgten. Oft saßen die dann am kleinen Teich im Ortszentrum, erfrischten sich mit kalten Getränken und sahen den Enten zu. Die Entenpopulation schien der von Wolfgarten ernsthafte Konkurrenz zu machen, zumindest während der Zeit, an der die Dorfbewohner ihren Arbeiten in den umliegenden Städten nachgingen. Jetzt, im Sommer, wenn das Wasser gelegentlich knapp wurde, diente der Ententeich notfalls auch als Wasserentnahmestelle für die Feuerwehr, was die Enten wenig begeisterte.
Das Wolfgarten überhaupt über eine eigene Feuerwehr verfügte, hing mit der einzigartigen Lage auf dem Kermeter Höhenzug und dem abgesperrten Bereich des Naturparks zusammen. Direkt am Dorf begann eines jener Waldareale, die man sich selbst überließ, um den Wald in seinen Urzustand zurückzuführen. So positiv dies auch für die Natur sein mochte, so gefährlich war dies im Falle eines Waldbrandes. In dem viele Hektar großen „Rückzugsgebiet“ gab es keine Feuerschneisen und keine Wege, welche man zur Brandbekämpfung nutzen konnte. Jede Verzögerung der Brandbekämpfung konnte jedoch katastrophale Folgen haben. Aus diesem Grund war die Wolfgartener Feuerwache ausgebaut worden. Sie verfügte über ein Rüstfahrzeug und ein Löschfahrzeug, deren Besatzungen von den Frauen des Ortes gestellt wurden. Da die Männer tagsüber außerhalb des Dorfes arbeiteten und lange Strecken zurücklegen mussten, besaß Wolfgarten somit eine der wenigen reinen Frauenfeuerwehren.
Die Feuerwache lag an der Haagstraße und wenn man dieser nach Norden folgte, erreichte man die kleine Burg Wolfgarten, die in alten Urkunden als „Wulffgart“ Erwähnung fand. Niemand konnte noch sagen, wer wohl einst so verrückt gewesen war, hier eine Burg zu errichten. Möglicherweise hatte die hervorragende Sicht vom Höhenzug aus den Grund geliefert. Die kleine Befestigung war noch überraschend intakt und befand sich in Privatbesitz. Der Eigentümer war ein vermögender Japaner, der keine Öffentlichkeit zuließ, die Gebäude aber gelegentlich Forschern oder Privatgruppen zur Verfügung stellte, da der alte Burgfried eine gute Aussicht auf den abgesperrten Bereich des Naturparks ermöglichte. Die Bachmanns, welche die Kermeter Schänke betrieben, betreuten diese Leute aufgrund einer Vereinbarung, die sie mit Herrn Yamahata getroffen hatten. Für die Bachmanns bot das ein Zusatzgeschäft und für Herrn Yamahata die Gewissheit, dass man auf seine kleine Burg achtete.
Die kleine Polizeiwache lag an der Straße „Wolfgarten“, dort, wo „Pützbenden“ an der Hauptstraße des Ortes endete. Ihre Besatzung bestand aus zwei Polizeibeamten, die hauptsächlich dann beschäftigt waren, wenn im Sommer Touristen den Naturpark besuchten und die Motorradfahrer verstärkt auf der L 249 unterwegs waren. Die Landstraße hatte sich zu einer Art Rennstrecke entwickelt und es kam immer wieder zu schweren Unfällen. Die kleine Polizeiwache und ihr Blitzgerät sollten daher eine gewisse „Verkehrsberuhigende“ Wirkung erzielen.
Nein, man konnte nicht sagen, dass Wolfgarten einer jungen Frau viel zu bieten hatte. Neben ihrer Freundin Kim und deren Bruder Patrick gab es keinen, der Svenjas Alter entsprochen hätte. Die meisten Freunde kannte sie noch von der Schule und diese lebten in den verschiedenen Dörfern der Umgebung und in Gemünd. Die Entfernungen schränkten ihre Möglichkeit sichtlich ein, sich mit Freunden auszutauschen oder etwas zu erleben. Meist musste sie sich auf den Heimweg machen, wenn es gerade anfing, interessanter zu werden. Daran änderte auch ihr Mofa nur wenig und Svenja überlegte gelegentlich ernsthaft, ob sie sich nicht doch einen kleinen Gebrauchtwagen zulegen sollte. Wenn sie dann allerdings die Kosten gegeneinander aufrechnete, gewann stets der Bus. Aber früher oder später, das wusste sie, würde ihr die Unabhängigkeit, die ein eigener Wagen bedeutete, die Ausgaben wert sein.
Ohne ihr Mobiltelefon und das Internet hätte sich Svenja manchmal isoliert gefühlt. Eigentlich sollte sie öfter ausgehen und niemand hätte ihr einen Vorwurf machen können, wenn sie über Nacht nicht nach Hause kam. Aber dann dachte sie immer wieder an ihren Vater und wie kurz der Weg zum Kühlschrank für ihn war. Wenn er sich zu einsam fühlte, dann griff er zum Bier und wenn er betrunken war, dann fühlte er sich noch weitaus einsamer. Nein, auch wenn er hin und wieder zu sehr über ihr Leben bestimmen wollte, so liebte sie ihn doch und konnte ihn nicht sich selbst überlassen.
Eine neue Frau, die in sein Leben trat, konnte die Lösung sein.
Aber Vanessa Schneider…?
Svenja hörte das vernehmliche Klappen der Badezimmertür aus dem Erdgeschoss.
Die Schwarzhaarige hatte sich Zeit gelassen.
Svenja ging ins Badezimmer hinunter, um in Ruhe ihr Haar zu bürsten. Sie war stolz auf ihre langen und leicht gewellten Haare, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Das Fenster im Bad war zur Lüftung gekippt, aber es hing noch immer etwas Dunst im Raum und Svenja ging hinüber und öffnete es ganz. Eher beiläufig fiel ihr Blick dabei in die Dusche. Stirnrunzelnd bemerkte sie ein dünnes Kettchen mit einem Schmuckstück, welches in der Nähe des Abflusses lag. Für einen flüchtigen Moment war sie versucht, das Fundstück mit einer kleinen Bewegung im Ablauf verschwinden zu lassen, doch dann hob sie es seufzend auf.
Das Kettchen war ein ganz gewöhnliches Goldkettchen, wie man sie überall erstehen konnte, doch das Schmuckstück war ungewöhnlich. Bei ihren Besuchen in Schmuckboutiquen hatte Svenja schon die merkwürdigsten Kreationen gesehen, doch keine ähnelte dieser. Ein sehr kleiner grüner Schmuckstein, der durch schwarze Einfassungen in sieben gleichgroße Segmente unterteilt war. In seiner Mitte befand sich ein roter Stein, der eine elliptische Form aufwies. Svenja musste unwillkürlich an die grünen Augen von Vanessa Schneider denken und lächelte bei der Vorstellung, die Frau würde rote, schlitzartige Pupillen haben. Irgendwie schien ihr das zu der Ortsvorsteherin zu passen.
Svenja legte das Schmuckstück auf die Ablage unter dem Badezimmerspiegel und machte sich daran, ihre Haare fertig zu bürsten. Dann ging sie wieder in ihr Zimmer, schaltete das Programm ihres Computers auf sanftere Musik und legte sich mit einem Fantasy-Buch aufs Bett. Sie mochte Fantasy, vor allem die Geschichten um die „Pferdelords“ und genoss es, in eine fremde Umgebung einzutauchen. Ihr Fuß wippte rhythmisch im Takt der Musik und Svenja ritt gerade durch ein fremdes Land, als die Tür ihres Zimmers aufgerissen wurde. Sie sah über den Rand ihres Buches hinweg und verzog empört das Gesicht.
„He, kannst du nicht anklopfen, Paps?“
„Ich habe angeklopft“, erwiderte er verärgert. „Aber bei dem Krawall, den du da machst, ist es ja kein Wunder, dass du nichts hörst. Mach den Lärm gefälligst leiser.“
„Das ist kein Lärm, das ist Musik“, korrigierte sie ihn.
„Musik?“
„Musik“, bekräftigte sie und seufzte dann. „Na ja, davon verstehst du nichts, Papa.“
„Davon will ich auch gar nichts verstehen.“ Er deutete auf ihren Computer. „Jedenfalls nicht in der Lautstärke. Mach das jedenfalls leise, Svenja, bevor mir die Ohren abfallen, ja?“
„Ja, ja, schon gut.“ Sie legte das Buch zur Seite und erhob sich. „Ist die Schneider noch da?“
Sein Gesicht wurde verlegen. „Hab schon gehört, dass du ihr begegnet bist.“
„Ja, dumm gelaufen.“ Svenja zuckte mit den Schultern. „Hast du was mit ihr? Ich meine, was Ernsthaftes?“
„Weiß ich noch nicht“, murmelte er. „Hat sich so ergeben. Wieso fragst du?“
„Sie hat ihre Kette im Bad vergessen.“ Svenja angelte nach dem Schmuckstück und hielt es ihrem Vater entgegen.
„Oh. Danke.“ Jürgen Kircher sah sie nachdenklich an. „Ich habe das Gefühl, du magst sie nicht. Ich kenne diesen Blick bei dir.“
„Na ja, Paps, vielleicht ist sie ja ganz nett.“
„Bist du sauer, weil ich…?“
„Blödsinn.“ Sie legte das Buch zur Seite und sah ihn ernst an. „Ich meine, ich kann verstehen, dass du dir wieder eine Freundin suchst. Mama ist…“
„Lass Karin aus dem Spiel“, knurrte er. „Du weißt, dass ich deine Mutter sehr geliebt habe.“
„He, so habe ich das auch nicht gemeint.“ Sie machte eine entschuldigende Geste mit den Händen. „Ist doch normal, dass du wieder eine Beziehung willst. Kommt nur ziemlich überraschend. Vor allem, weil es die Schneider ist.“
„Hör mal, Große, das ist meine Sache, oder?“ Sein Gesicht rötete sich. „Ich rede dir ja auch nicht in deine Freundschaften rein, nicht wahr?“
„Na, immer wenn ich dir erzähle, dass ich mal ausgegangen bin, bekommst du diesen finsteren Bullenblick.“
„Ich will nur nicht, dass du an den Falschen gerätst.“
„He, ich bin schon ein großes Mädchen, okay?“
Jochen leckte sich über die Lippen. „Manchmal vergesse ich das“, gestand er ein. „Es fällt mir schwer, in dir eine junge Frau zu sehen, Svenja. Irgendwie bist du für mich immer noch das kleine Mädchen.“
In Svenja regte sich schwacher Protest, aber sie wusste, was er damit ausdrücken wollte.
Für einen Augenblick herrschte Schweigen und in die nachdenkliche Stille hinein war das Summen von Jochens Mobiltelefon zu vernehmen. Er räusperte sich, zog das Gerät aus der Hosentasche und klappte es auf. „Ja?“
Svenja bemerkte, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Vaters verwandelte. So sah er immer aus, wenn er sein „Dienstgesicht“ aufsetzte und sich seiner Bedeutung als Amtsperson bewusst wurde. Gott, sie hasste es, wie er sich dann aufführen konnte.
„Bin in fünf Minuten unten“, beendete er das Gespräch.
„Was Besonderes?“
Er nickte. „Ranger Turner hat auf der Wache angerufen. Er vermisst zwei Wanderer. Wahrscheinlich ist es nichts Ernstes und die haben sich nur verlaufen. Jedenfalls werde ich Mal nach dem Rechten sehen.“
„Okay“, erwiderte sie.
Jochen warf ihr einen scharfen Blick zu. Immer wenn sie derart einsilbig wurde, drückte sie damit ihren Protest aus. Aber jetzt hatte er nicht die Zeit, darauf einzugehen.
Svenja hörte seine hastigen Schritte auf der Treppe und wie er das Haus verließ.
Immerhin konnte sie nun wieder ungestört ihre Musik genießen.