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Kapitel 4
ОглавлениеTiefe Nacht lag über Wolfgarten. Eine Nacht, in der die Sterne in ihrer ganzen Pracht am Himmel standen. Mehr als genug Licht um sich orientieren zu können, auch wenn der Mond nur eine bescheidene Sichel war. Die wenigen Straßenlaternen im Ort waren längst abgeschaltet worden und nichts schien sich in dem schlafenden Ort zu regen. Nur vom Hof des Landwirts Wolicek war das leise Muhen einer Kuh zu vernehmen, dann herrschte erneut Stille.
Niemand hörte das lautlose Tappen weicher Pfoten auf dem Asphalt der Straße, die von der Tageshitze noch immer Warm war. Niemand sah das Wesen, welches sich durch Wolfgarten bewegte.
Niemand hätte es beachtet.
Seine Art lebte schon seit vielen Jahrtausenden unter den Menschen. Manchmal in deren verhasster Gestalt, manchmal in der eines jener Wesen, an welche sich die Zweibeiner schon so sehr gewöhnt hatten. Beides war ihrer Art möglich, denn sie waren Wandelwesen.
Die Umwandlung ging schnell vor sich, erforderte nur Augenblicke, aber sie wurde mit grellem Schmerz bezahlt. Auch wenn sich die Form und die Größe ihrer Gestalt verändern lies, so blieb ihre Körpermasse dabei gleich und es war anstrengend, Knochen und Gewebe zu dehnen oder zu schrumpfen, um sie der jeweiligen Form anzupassen. Aber der Schmerz war ein geringer Preis für die Möglichkeit, sich unerkannt zwischen den Menschen zu bewegen.
Der Beute.
Früher war es leicht gewesen, sich verborgen zu halten. Schon oft hatte sich das Wandelwesen in der Gestalt eines Menschen in ihre Siedlungen begeben, wartete dann ungeduldig auf die Nacht, um endlich töten zu können. Es erforderte Selbstbeherrschung und die Unterdrückung aller Triebe, um zu warten, wenn der verlockende Geruch der Menschen in die Nase stieg und alle Sinne auf jenen Augenblick lauerten, an dem die Schnauze in das warme Blut der Zweibeiner eintauchte. Vor vielen Jahren war das Wandelwesen schon einmal durch diesen Ort geschlichen und doch war es diesmal anders, denn so vieles hatte sich im Verlauf der Jahrhunderte verändert.
Dort drüben waren der Erbpachthof und der kleine Marktplatz gewesen, und das Wesen glaubte die Gerüche wahrzunehmen, die das bunte Treiben begleitet hatten. Der Duft von Pflanzenfasern, mit denen die Färberin ihre Stoffe in bunte Tücher verwandelt hatte, der stechende Geruch menschlichen Urins, mit dem das Leder gegerbt worden war… Das Wesen erinnerte sich an das quirlige Treiben, die Rufe und das Lachen und es erschauerte wohlig, als es an das entsetzte Keuchen dachte, dass schon damals den Tod begleitet hatte.
Damals waren oft Menschen spurlos verschwunden und nur wenige hatten sich darum gekümmert. Hunger und Krankheit forderten ihren Tribut, Kriege überzogen die winzigen Ländereien und die Menschen fürchteten Bären und Wölfe, welche die Wälder beherrschten. Niemand ahnte, welch schrecklicher Tod mitten unter ihnen lebte und sich gelegentlich an ihrem Blut labte.
Nun war es schwieriger geworden, die Beute zu reißen. Die Menschen hatten sich entwickelt und verfügten über wirksamere Waffen. Sie schreckten auf, wenn einer von ihnen verschwand und ihre Technik erlaubte es ihnen, Nachrichten schnell zu verbreiten. Es war noch immer leicht, sie zu töten, doch nun mussten das Wandelwesen und seine Art mit Bedacht vorgehen, damit sie weiter im Verborgenen leben konnte.
Das Wandelwesen spürte die Wärme des Asphalts unter den Pfoten. Es mochte die Härte des Bodens nicht, dennoch lief es inmitten der Straße durch das Dorf. Es brauchte sich nicht zu verbergen. Selbst wenn man es entdeckt hätte, so wäre es nicht beachtet worden. So blieb es auf der Straße, die ihm gute Übersicht bot und beobachtete dabei die dunklen Häuser.
Dieser Ort war ideal für die Zwecke des Rudels. Obwohl das Land in den Jahrhunderten immer dichter besiedelt worden war, bot der steile Höhenzug, auf dem Wolfgarten lag, hervorragende Voraussetzungen. Die Wälder waren wie eine Mauer, die das Dorf umgab und es war leicht, sich darin zu verbergen. Die wenigen Wege, die aus dem Ort hinaus führten, waren für das Rudel leicht zu überwachen und zu versperren.
Früher hatte seine Art jederzeit und überall leichte Beute schlagen können. Beute, um den Jagdinstinkt zu befriedigen und Beute, um sich zu vermehren. Das Wandelwesen wusste nicht, wann seine Art entstanden war und welche Laune der Natur dazu geführt hatte. Aber seine Art musste sich gelegentlich mit den Menschen paaren, um ihre Wandlungsfähigkeit zu erhalten. Es gab nur wenige, die dafür geeignet waren und hier, in Wolfgarten, hatte das Rudel gleich mehrere Zweibeiner gefunden, deren Samen und Blut das Rudel erstarken lassen würde.
Der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen, aber er war nahe, sehr nahe.
Das Wandelwesen leckte sich missmutig über die Schnauze. Es durfte keinen Fehler machen, wenn der Plan des Rudels nicht gefährdet werden sollte. Dennoch hatte es die beiden Wanderer getötet, hatte es der Verlockung nicht widerstehen können. Jetzt waren die Menschen durch das Verschwinden des Paares aufgeschreckt. Das war nicht gut für das Rudel. Ängstliche Menschen neigten zu größerer Vorsicht. Aber es hatte dafür gesorgt, dass niemand die Überreste der Toten fand und die anderen Menschen würden rasch wieder zu ihrem normalen Alltag zurückkehren, so, wie es ihrer Art entsprach.
Ja, sie sollten sich sicher fühlen in ihrem beschaulichen Wolfgarten. Nichts sollte sie vor ihrem Schicksal warnen.
Die Hunde… Diese Wächter der Menschen mussten zuerst verschwinden.
Das Wandelwesen verspürte eine instinktive Abscheu vor Hunden. Diese waren den Wölfen so ähnlich, da sie einst vom selben Rudel abstammten. Wölfe waren gefährlich, denn sie standen oft mit „den Gefährten“ im Bunde. Das Wandelwesen bleckte die Fänge. Aber das war kein Grund zu großer Sorge. Der Kampf zwischen den Wandelwesen war lange entschieden. Die Rudel hatten überlebt und die Wölfe und „die Gefährten“ waren besiegt und vertrieben worden. Sie waren keine Gefahr mehr.
Das Wandelwesen verließ die Straße und trabte über den weichen Boden eines Rasens. Wie angenehm sich das unter den Pfoten anfühlte… Es genoss die Empfindung, wie sich seine Krallen in den Untergrund gruben und stellte sich vor, es sei das Fleisch eines Menschen.
Nicht mehr lange, nein, nicht mehr lange.
Wolfgarten war ein idealer Ort.
Erst würden die Hunde sterben.
Dann die Menschen.
Wenn das Wandelwesen Wolfgarten wieder verließ, würde es nichts Lebendes hinter sich zurücklassen.