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bb) Konkrete Normenkontrolle

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Die in Europa – und darüber hinaus – vorherrschende Erscheinungsform der Normenkontrolle stellt die repressive Normenkontrolle in der Ausgestaltung als konkrete Normenkontrolle dar. In Staaten mit einer dezentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit wie in den skandinavischen Ländern fügt sie sich nahtlos in das allgemeine System der gerichtlichen Instanzenzüge und Rechtsbehelfe ein. Die Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle in Estland geht dagegen stärker in Richtung eines Vorlageverfahrens, allerdings eines Vorlageverfahrens, das sich an die Entscheidung des Prozessgerichts in der Hauptsache anschließt: das Prozessgericht kann die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und den Ausgangsrechtsstreit zunächst entscheiden, muss jedoch die Entscheidung in der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Verfassungskammer im Obersten Gerichtshof vorlegen. Kommt diese zu dem Ergebnis, dass das Prozessgericht die fragliche Norm zu Unrecht als verfassungswidrig angesehen und daher bei der Entscheidung des Falles außer Acht gelassen hat, kann die beschwerte Partei das Urteil wegen dieses Rechtsfehlers mit den ordentlichen Rechtsbehelfen anfechten (Art. 149 Abs. 3 estnische Verfassung).

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Von den Ländern im europäischen Rechtsraum, die über eine zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen, hat sich nur Portugal für die Rechtsbehelfslösung entschieden. Dort obliegt es zunächst jedem Gericht, über die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm, auf deren Anwendung es in dem zu entscheidenden Fall ankommt, selbst zu entscheiden. Diese Entscheidung, ob sie nun positiv oder negativ ausfällt, kann dann von der beschwerten Partei mit Rechtsbehelf unmittelbar beim Verfassungsgericht angefochten werden (Art. 280 Abs. 1 portugiesische Verfassung). Das portugiesische Recht gestaltet damit auf der Grundlage eines Systems der zentralisierten Verfassungskontrolle die konkrete Normenkontrolle so aus, wie sie in den Systemen mit dezentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit praktiziert wird: mit letztverbindlicher Entscheidung durch das Verfassungsgericht, die von den Parteien im Instanzenzug mit den hierfür zur Verfügung stehenden ordentlichen Rechtsbehelfen herbeigeführt wird.[64]

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In den meisten Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit wie Belgien, Italien, Deutschland oder Frankreich ist die konkrete Normenkontrolle hingegen als besonderes Verfahren ausgestaltet, das sich im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits als Zwischenverfahren darstellt. Die Vorlagebefugnis steht dabei entweder allen Gerichten und Rechtsprechungsorganen zu (etwa in Österreich, vgl. Artikel 140 Abs. 1 lit. a) B-VG) oder ist auf die Obergerichte (zweitinstanzlichen Gerichte) beschränkt (so z.B. in Frankreich, Art. 23-1 Abs. 1 frz. VerfGG). Die Beschränkung auf die Obergerichte wird von der Erwägung getragen, dass nur Gerichte, die nicht vorrangig als Tatsacheninstanz fungieren, in der Regel über ausreichend Erfahrung und Expertise in der Auslegung des Rechts verfügen, um die Erfolgsaussichten einer Vorlage zum Verfassungsgericht realistisch einzuschätzen und dessen begrenzte Arbeitskapazitäten nicht mit unzureichend begründeten und/oder aufmerksamkeitsheischenden Vorlagen in Anspruch zu nehmen.

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In Frankreich wird diesem ersten Filter ein zweiter hinzugefügt, was eine zweistufige Ausgestaltung des Vorlageverfahrens zur Folge hat. Ein vorlageberechtigtes Gericht, das im Rahmen eines anhängigen Verfahrens mit der Frage konfrontiert ist, ob eine gesetzliche Bestimmung die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten verletzt (question prioritaire de constitutionnalité), kann diese Frage nicht unmittelbar dem Verfassungsrat vorlegen. Vielmehr muss es sie zunächst durch begründeten Beschluss, in dem es ausführt, warum aus seiner Sicht die Voraussetzungen für eine Vorlage an den Conseil constitutionnel erfüllt sind, an das höchste Gericht des Gerichtszweigs verweisen, dem es angehört: an den Staatsrat (Conseil d’État), wenn es sich um ein Verwaltungsgericht handelt, an den Kassationshof (Cour de Cassation), sofern das Ausgangsverfahren vor einem Zivil- oder Strafgericht anhängig ist. Nur die höchsten Gerichte können die Frage dem Verfassungsrat vorlegen und nehmen damit die erwähnte Filterfunktion wahr. Sie unterliegen dabei nicht der Aufsicht durch den Verfassungsrat: lehnen sie die Vorlage an den Conseil constitutionnel ab, ist die Entscheidung endgültig und kann nicht – etwa von der Partei des Ausgangsrechtsstreits, die sich durch die behauptete Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt sieht – vor dem Verfassungsrat mit Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden. Umgekehrt kann der Verfassungsrat eine ihm vom Conseil d’État oder der Cour de Cassation zur Entscheidung vorgelegte Frage nicht mit der Begründung zurückweisen, die von der Verfassung und dem Verfassungsgerichtsgesetz aufgestellten Voraussetzungen für eine Entscheidung im Vorlageverfahren seien gar nicht erfüllt.

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Im deutschen Verfassungsprozessrecht wird die Filterfunktion weder durch die restriktive Abgrenzung der vorlageberechtigten Spruchkörper noch durch die Einschaltung der obersten Fachgerichte verwirklicht, sondern durch die in Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG formulierten Anforderungen an die Zulässigkeit der Vorlage: das vorlegende Gericht muss von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten gesetzlichen Bestimmungen überzeugt sein, bloße Zweifel reichen nicht aus. Die Gründe für diese Überzeugung müssen ebenso wie die Gründe für die Entscheidungserheblichkeit der möglicherweise verfassungswidrigen Norm in dem Vorlagebeschluss an das BVerfG eingehend und nachvollziehbar ausgeführt werden. Genügt der Vorlagebeschluss diesen Anforderungen nicht, weist das BVerfG die Vorlage als unzulässig zurück.[65]

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Prüfungsmaßstab im Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist das gesamte Verfassungsrecht, wie es auch bei der abstrakten Normenkontrolle Anwendung findet. Eine signifikante Abweichung von der bei der abstrakten Normenkontrolle geltenden Rechtslage ergibt sich aber in Frankreich: hier können nach der ausdrücklichen Regelung des Art. 61-1 nur die von der Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten Prüfungsmaßstab sein. Mit der Einführung dieser auf den Schutz der verfassungsmäßigen Grund- und Menschenrechte beschränkten Form der konkreten Normenkontrolle in der Verfassungsreform von 2008 hat die tiefgreifende Umgestaltung des Instituts der Normenkontrolle im französischen Verfassungsrecht, die mit der Entscheidung des Conseil constitutionnel im Fall Liberté d’association 1971 ihren Anfang genommen hatte, ihren vorläufigen Abschluss gefunden.[66]

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Zudem lässt sich an der Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle erkennen, dass diese Verfahrensart im französischen System auch die Funktion einer Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze (mit-)erfüllt. Dies zeigt sich insbesondere an der prozessualen Stellung der Parteien des Ausgangsrechtsstreits im Vorlageverfahren. Sie unterscheidet sich erheblich von der marginalisierten Rechtsstellung, die den Parteien des Ausgangsrechtsstreits in Verfahren der konkreten Normenkontrolle in Ländern mit zentralisierter Verfassungsgerichtsbarkeit häufig zugewiesen ist. Die konkrete Normenkontrolle ist dort regelmäßig als Dialog zwischen den Gerichten angelegt, in denen die Initiative und die Vorstrukturierung der verfassungsrechtlichen Frage durch Aufbereitung des konkreten Anwendungszusammenhangs dem vorlegenden Gericht, die Entscheidungsfunktion dem Verfassungsgericht und die Umsetzung der Entscheidung wieder dem vorlegenden Gericht zukommt. Im französischen System hingegen kommt den Parteien des Ausgangsrechtsstreits bzw. dem Angeklagten im Strafverfahren eine zentrale Rolle zu. Nur auf ihren Antrag hin darf das Prozessgericht prüfen, ob eine Vorlage in Betracht kommt, und die Frage an den Conseil d’État oder die Cour de Cassation zur Entscheidung weiterleiten. Wird die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf Beschluss des Conseil d’État bzw. der Cour de Cassation dem Verfassungsrat zur Klärung vorgelegt, so muss der Antragsteller die Gelegenheit erhalten, in einer kontradiktorischen mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsrat darzulegen, warum seiner Ansicht nach die fragliche Bestimmung verfassungswidrig bzw. verfassungskonform ist.[67] Erst seit dem Inkrafttreten der Ausführungsbestimmungen zu Art. 61-1 der Verfassung im Verfassungsgerichtsgesetz im Jahr 2010 ist es damit Privatpersonen zum ersten Mal überhaupt möglich, in Verfahren vor dem Verfassungsrat aufzutreten und ihre Argumente vorzutragen.

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Für die konkrete Normenkontrolle von zentraler Bedeutung ist die Abgrenzung der jeweiligen Funktionen von Verfassungsgericht und vorlegendem Gericht. Auf dem Papier lässt sich diese Arbeitsteilung klar durchführen: für die Auslegung des einfachen Rechts und damit auch des vorgelegten Gesetzes ist das vorlegende Fachgericht zuständig, für die Auslegung der Verfassung hingegen das Verfassungsgericht. In der Praxis hingegen ist die Abgrenzung alles andere als einfach: insbesondere in der Frage, ob eine verfassungskonforme Auslegung des vorgelegten Gesetzes möglich ist, kann es leicht zu einer Überschneidung der Kompetenzen von Verfassungsgericht und Fachgerichten kommen.[68]

Ausgestaltung der konkreten Normenkontrolle
Vorabentscheidungsverfahren Rechtsmittelverfahren
Vorlage direkt zum Verfassungsgericht Belgien, Deutschland, Italien, Polen, Spanien, Ungarn Portugal, Ungarn
Vorlage über Obergericht Frankreich
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