Читать книгу Handbuch Ius Publicum Europaeum - Monica Claes - Страница 179
1. Fehlende und lückenhafte Regelung des Organstreitverfahrens
Оглавление40
Organstreitigkeiten sind in einer beträchtlichen Zahl von Ländern des europäischen Rechtsraums nicht Gegenstand einer eigenen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeit (skandinavische Länder, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Portugal, Griechenland). In den Ländern, in denen eine verfassungsgerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen oder -gewalten hingegen explizit geregelt ist, werden sie häufig mit den Streitigkeiten über die Kompetenzverteilung zwischen der Zentralregierung und den föderalen bzw. autonomen subnationalen territorialen Einheiten (Provinzen, autonomen Gemeinschaften etc.) zusammen geregelt (vgl. Art. 134 italienische Verfassung; Art. 59 des spanischen VerfGG[73]). Schon dieser karge Textbefund suggeriert, dass es sich bei den Organstreitigkeiten um eine im Vergleich zu Normenkontrolle und Individualbeschwerde eher vernachlässigte, „ungeliebte“ verfassungsgerichtliche Verfahrensart handelt. Selbst mit Blick auf Italien, in dem Organstreitigkeiten in der Praxis in erheblicher Zahl vor die Corte costituzionale kommen, sprechen Bifulco und Paris von der „Residualfunktion“ des Kompetenzkonflikts (conflitto di attribuzione). Sie diene dem Zweck, eventuelle Lücken im Schutz der Verfassung zu füllen, wenn andere geeignete Rechtsmittel fehlten.[74] In dieser Zurückhaltung mag die Sorge zum Ausdruck kommen, dass das Verfassungsgericht durch die Zuständigkeit zur Entscheidung solcher Streitigkeiten, in denen es unmittelbar um die Machtverteilung an der Spitze des Staates geht, leicht in hochpolitische Konflikte hineingezogen und damit in seiner Autorität beschädigt werden könnte.
41
Für diese Annahme spricht aus vergleichender Sicht, dass etwa der US Supreme Court seine Zuständigkeit zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen den obersten Staatsorganen, insbesondere zwischen Präsident und Kongress, restriktiv auslegt, obwohl die US-Verfassung wie kaum eine andere auf dem Prinzip der checks and balances aufgebaut ist. Dies hat den Supreme Court indes nicht davon abgehalten, die Prüfung der Klagebefugnis und die Figur der political question doctrine zur einschränkenden Auslegung seiner Zuständigkeit in Kompetenzkonflikten zwischen Legislative und Exekutive einzusetzen – im Unterschied zu Fragen der föderalen Kompetenzverteilung, die neben dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger einen Schwerpunkt seiner Rechtsprechung bilden. Die Prüfung der Klagebefugnis (standing) ist einem individualrechtlichen Verständnis verpflichtet, demzufolge die klagende Person einen persönlichen Nachteil (personal injury) geltend machen muss, wozu Nachteile, die sie in ihrer Eigenschaft als Mitglied oder Amtswalterin eines staatlichen Organs erleidet, nicht gehören sollen. Eine großzügige Zulassung von Organklagen würde das Gericht nach eigenem Verständnis nur von seiner eigentlichen Mission ablenken, die in dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger und von Minderheitengruppen, nicht jedoch in der Wahrnehmung einer allgemeinen Aufsichtsfunktion über die Arbeitsweise des Regierungssystems liege.[75] Zwar wird die Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips, das in den vielfältigen verfassungsrechtlichen Kompetenzverschränkungen insbesondere zwischen Exekutive und Legislative (checks and balances) seinen Niederschlag gefunden hat, ausdrücklich anerkannt. Gewaltenteilung wird aber nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Schutz der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger angesehen:
“It is for that reason that the claims of individuals – not of Government departments – have been the principal source of judicial decisions concerning separation of powers and checks and balances.”[76]
42
Das Phänomen, dass Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten über die horizontale Gewaltenteilung insbesondere im Verhältnis zwischen den politischen Gewalten nicht in einem kontradiktorischen Organstreitverfahren zur gerichtlichen Klärung gebracht werden (können), sondern im Rahmen einer anderen Verfahrensart zur Überprüfung gestellt werden, ist nicht auf die USA beschränkt, sondern auch im europäischen Rechtsraum verbreitet. Allerdings werden im europäischen Kontext hierfür schwerpunktmäßig objektivrechtliche Verfahren wie die Normenkontrolle und die abstrakte Verfassungsauslegung genutzt. Eine Ausnahme stellt Spanien dar, wo Parlamentsabgeordnete die mit ihrem Abgeordnetenmandat verbundenen Rechte mit der Individualverfassungsbeschwerde geltend machen können. Man kann im Hinblick auf diese in vielen Ländern praktizierte Nachrangigkeit des Organstreitverfahrens, das selbst in den Ländern, in denen es explizit in der Verfassung oder im Verfassungsgerichtsgesetz normiert ist, häufig nur dann zum Einsatz kommt, wenn keine andere geeignete Verfahrensart zur Erreichung des angestrebten Ziels der Kompetenzwahrung zur Verfügung steht, von einer materiellen Subsidiarität des Organstreits sprechen, die von der formellen, gesetzlich angeordneten Subsidiarität zu unterscheiden ist (zu letzterer siehe unten 5).