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4. Gegenstand des Organstreitverfahrens
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Die praktische Bedeutung des Organ- bzw. Kompetenzstreits hängt davon ab, welche Maßnahmen und Unterlassungen dem Verfassungsgericht im Rahmen dieses Verfahrens zur Prüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit unterbreitet werden können. Nicht wenige Verfassungsgerichtsgesetze folgen insoweit einem restriktiven Modell des Kompetenzkonflikts und beschränken das Gericht auf die Klärung der Frage, welchem der am Verfahren beteiligten Organe die streitbefangene Kompetenz zusteht. So setzt die Zulässigkeit des Kompetenzkonflikts zwischen Verfassungsorganen nach spanischem Verfassungsprozessrecht die Behauptung eines der in diesem Verfahren beteiligungsfähigen Organe voraus, dass eines der anderen parteifähigen Organe durch positive Entscheidung Kompetenzen (attribuciones) für sich in Anspruch genommen hat, die nach der Verfassung oder einem verfassungsausführenden Gesetz dem Antragsteller zustehen. Das Verfahren ist damit als vindicatio potestatis konzipiert, die eine bereits erfolgte Kompetenzanmaßung (usurpación de competencias) durch das beklagte Organ voraussetzt.
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Dagegen genügt es in Spanien nicht, wenn der Antragsgegner durch die unsachgemäße oder exzessive Inanspruchnahme der eigenen Zuständigkeiten die Bedingungen für die effektive Wahrnehmung der dem antragstellenden Organ zustehenden Kompetenzen lediglich beeinträchtigt oder verschlechtert hat. Ebenso wenig stellt eine bloße Kompetenzgefährdung einen ausreichenden Klagegrund dar. Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zu den vertikalen Kompetenzkonflikten, in denen auch Kompetenzbeeinträchtigungen und -gefährdungen eine Verletzung der Kompetenzordnung im Sinne der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Vorschriften darstellen können. Das spanische Verfassungsgericht hat die strengeren Anforderungen im Rahmen des horizontalen Kompetenzkonflikts mit der unterschiedlichen Finalität beider Verfahrensarten gerechtfertigt. Der vertikale Kompetenzkonflikt diene der Verteidigung der jeweiligen Souveränitäts- und Autonomiebereiche der am Streit beteiligten territorialen Einheiten. Dagegen gehe es im horizontalen Kompetenzkonflikt nicht um Autonomieschutz, sondern um die Wahrung der pluralistischen oder komplexen Organstruktur an der Spitze des Staates, die traditionellerweise als Gewaltenteilung bezeichnet werde.[110]
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Ähnlich begrenzt ist der Anwendungsbereich des Kompetenzkonflikts im russischen Verfassungsprozessrecht, auch wenn die Antragsbefugnis weiter gefasst ist als im spanischen Verfassungsgerichtsgesetz. Ausreichend ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 des russischen VerfGG[111], dass der Antragsteller die Verletzung der in der Verfassung der Russländischen Föderation geregelten Kompetenzabgrenzung zwischen den Organen der staatlichen Gewalt durch den Erlass eines Rechtsakts oder die Vornahme einer rechtserheblichen Handlung bzw. die Ablehnung des Erlasses oder der Vornahme geltend macht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist weder das Vorliegen einer konkreten Kompetenzanmaßung noch ein Eingriff in die eigenen Zuständigkeiten des Antragstellers erforderlich. Die Bestimmung über den Inhalt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung lässt aber erkennen, dass es sich hier nur um einen Kompetenzstreit im engeren Sinne handelt. Danach kann das Verfassungsgericht am Ende des Verfahrens die Zuständigkeit des Antragsgegners zum Erlass des angegriffenen Akts bzw. zur Vornahme der fraglichen Handlung nur bestätigen oder verneinen. Stellt das Verfassungsgericht fest, dass der Erlass des Akts nicht in die Kompetenz des erlassenden Organs fällt, verliert der Akt von dem in der Entscheidung angegebenen Tag an seine Wirksamkeit.[112] Sonstige Feststellungen, etwa des Inhalts, dass der Antragsteller durch die Art und Weise der Kompetenzausübung des Antragsgegners in seinem verfassungsrechtlichen Status oder seinen Befugnissen beeinträchtigt worden ist, kann das Gericht dagegen nicht treffen.
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Noch restriktiver fallen die Regelungen zum Kompetenzstreit im polnischen Gesetz über den Verfassungsgerichtshof aus. Danach setzt der Kompetenzstreit voraus, dass zwei zentrale Verfassungsorgane des Staates sich in derselben Angelegenheit für entscheidungsbefugt erklärt oder Rechtsakte erlassen haben (positiver Kompetenzstreit) oder sich umgekehrt die in Betracht kommenden Organe in der fraglichen Angelegenheit für unzuständig erklärt haben (negativer Kompetenzstreit).[113] Diese Regelung ist deutlich beeinflusst von der österreichischen Konzeption eines administrativ-justiziellen Kompetenzkonflikts, wie sie in Art. 138 B-VG Ausdruck gefunden hat. Danach entscheidet der Verfassungsgerichtshof über Kompetenzkonflikte zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden sowie zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und allen anderen Gerichten. Die Finalität dieses Verfahrens ist jedoch eine andere als diejenige des Verfassungsorganstreits. Beim Kompetenzkonflikt geht es darum, aus Gründen der Gewaltenteilung die Entscheidung über die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Verwaltung und rechtsprechender Gewalt einem besonderen Organ anzuvertrauen, das weder der einen noch der anderen Gewalt angehört – eine Aufgabe, wie sie in den vom französischen Vorbild beeinflussten Rechtssystemen herkömmlicherweise ein sogenanntes Tribunal des conflits übernimmt. Mag das Motiv für die Begründung einer besonderen gerichtlichen Zuständigkeit in solchen Fällen auch verfassungsrechtlicher Natur sein, so gilt dasselbe doch nicht für den Gegenstand des Konflikts. Die Regeln für die Kompetenzabgrenzung werden sich häufig nicht in der Verfassung, sondern im einfachen Gesetz finden.[114] Dagegen geht es beim Verfassungsorganstreit gerade um die Klärung von Inhalt und Tragweite der für das Zusammenwirken der obersten Staatsorgane maßgeblichen Verfassungsnormen: es handelt sich sowohl in subjektiver wie in objektiver Hinsicht um echte verfassungsrechtliche Streitigkeiten. Die Prinzipien und Normen, die das Zusammenspiel der politischen Organe bei der Wahrnehmung ihrer staatsleitenden Funktionen regulieren, unterscheiden sich von den für die Abgrenzung der Kompetenzen von Gerichten und Verwaltungsbehörden geltenden Grundsätzen so deutlich, dass der vom polnischen Gesetzgeber unternommene Versuch, die Grundsätze für die Entscheidung administrativ-justizieller Kompetenzkonflikte auf die verfassungsrechtliche Ebene zu transponieren, als problematisch erscheint.
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Nicht in allen Verfassungsordnungen ist der Streitgegenstand des Kompetenzstreits hingegen auf die vindicatio potestatis beschränkt. Nach dem alternativen Modell des Kompetenzstreits können nicht nur Kompetenzanmaßungen, sondern Kompetenzbeeinträchtigungen im weitesten Sinne mit Hilfe dieses Verfahrens gerügt werden. Diese Konzeption des Kompetenzkonflikts ist vor allem in der Rechtsprechung des Corte costituzionale systematisch entwickelt worden. Bezeichnenderweise geht das italienische Verfassungsgericht im Unterschied zum spanischen Tribunal constitucional in der Frage des Streitgegenstandes von einer Parallelität zwischen vertikalem und horizontalem Kompetenzkonflikt aus. Es hat daher die zunächst im Rahmen des Staat-Regionen-Konflikts vorgenommene extensive Interpretation der Kompetenzverletzung ohne Bedenken auf den Zuständigkeitsstreit zwischen den Organen der zentralstaatlichen Gewalt übertragen. Der Zweck des Kompetenzstreits erschöpft sich nach dieser Rechtsprechung nicht in der richtigen Zuordnung der streitbefangenen Kompetenz zu dem materiell berechtigten Organ, sondern zielt sehr viel umfassender auf die Gewährleistung einer störungsfreien Kompetenzausübung durch die obersten Staatsorgane. Dies schließt nicht nur die Abgrenzung der Kompetenzsphären der verschiedenen Organe, sondern positiv auch die Konkretisierung der für ihre loyale Zusammenarbeit (leale cooperazione) geltenden Prinzipien mit ein.[115]
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Zulässiger Streitgegenstand ist danach jeder Akt oder jede Unterlassung eines Organs, durch das die verfassungsgemäße Kompetenzausübung eines anderen Organs beeinträchtigt sein kann. Ein bestimmter normativer Gehalt der angegriffenen Maßnahme ist nicht erforderlich. Gerügt werden können vielmehr auch interne Maßnahmen eines Organs, wie etwa der Erlass einer parlamentarischen Geschäftsordnung, sofern sie sich zumindest mittelbar auch auf die Kompetenzwahrnehmung eines oder mehrerer anderer zentralstaatlicher Organe auswirken können.[116] Die vom Interorgankonflikt erfassten Arten der Kompetenzverletzungen sind in der italienischen Literatur näher systematisiert worden.[117] Neben den traditionellen Fallgruppen der Kompetenzanmaßung (usurpazione di competenza) und des negativen Kompetenzkonflikts steht danach die große Gruppe der Kompetenzbeeinträchtigungen (conflitti da interferenza), die ihrerseits wieder untergliedert werden kann in Kompetenzbeeinträchtigungen durch positive Akte und Kompetenzverletzungen durch Unterlassungen. Eine Beeinträchtigung der Kompetenz der gesetzgebenden Körperschaften durch Unterlassung soll etwa dann vorliegen, wenn der Staatspräsident sich weigert, ein von den Kammern beschlossenes Gesetz auszufertigen, ohne andererseits eine neue Lesung zu verlangen, und damit den Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens blockiert. Kompetenzbeeinträchtigungen durch positive Maßnahmen liegen hingegen dort vor, wo das von der Verfassung vorgesehene arbeitsteilige Zusammenwirken mehrerer Staatsorgane durch die illoyale Kompetenzwahrnehmung eines der beteiligten Organe gestört wird (Interferenzkonflikte im engeren Sinne). Schließlich hat der weite Begriff der Kompetenzbeeinträchtigung zur Folge, dass auch konkret bevorstehende, aber noch nicht eingetretene Kompetenzgefährdungen im Kompetenzstreit gerügt werden können; die Grenze ist erst dort erreicht, wo der zur Entscheidung gestellte Konflikt ein hypothetischer, rein abstrakter ist.[118]
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Die Ausweitung des Kompetenzstreits auf Kompetenzbeeinträchtigungen im weitesten Sinne führt andererseits zu einer Diversifizierung der vom Verfassungsgericht anzuwendenden Kontrollmaßstäbe. Während die Frage, welchem Staatsorgan eine bestimmte verfassungsmäßige Kompetenz als Inhaber zusteht, häufig anhand der geschriebenen Verfassungsnormen entschieden werden kann, gilt dies für die Frage nach Inhalt und Umfang der zwischen den Organen bestehenden Kooperations- und Rücksichtsnahmepflichten bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen nur sehr eingeschränkt. Solche Pflichten ergeben sich häufig aus ungeschriebenem Verfassungsrecht, vor allem aus Verfassungsgewohnheitsrecht und Verfassungskonventionalregeln. Zudem ist die Art und Weise, wie eine bestimmte Kompetenz auszuüben ist, häufig nicht in der Verfassung, sondern in der verfassungskonkretisierenden Gesetzgebung näher geregelt. Ob eine Kompetenzbeeinträchtigung im konkreten Fall vorliegt, lässt sich daher ohne Heranziehung der verfassungskonkretisierenden gesetzlichen Regelungen – soweit sie ihrerseits verfassungskonform sind – kaum sinnvoll entscheiden.[119]