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bb) Deutschland: das Organstreitverfahren als Instrument des politischen Minderheitenschutzes
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In Deutschland gehören nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG zu den möglichen Parteien eines Organstreits die obersten Bundesorgane und die „sonstigen Beteiligten“, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. § 63 BVerfGG konkretisiert den Begriff des obersten Bundesorgans dahingehend, dass dazu nur der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung zählen, d.h. die obersten politischen Organe. Anders als etwa in Italien und Österreich wird damit den Organen der Rechtsprechung mit dem BVerfGG an der Spitze der Zugang zum verfassungsgerichtlichen Verfahren mit dem Ziel der verbindlichen Klärung ihrer verfassungsmäßigen Rechte generell verwehrt. Es ist allerdings umstritten, ob die in der Einengung des Kreises der beteiligungsfähigen Organe auf die obersten politischen Organe in § 63 BVerfGG liegende Verkürzung der in Art. 93 Abs. 1 gebrauchten Formulierung, die ausdrücklich von „anderen Beteiligten, die durch dieses Grundgesetz […] mit eigenen Rechten ausgestattet sind“ spricht, verfassungskonform ist.[97] In der Praxis sind jedenfalls Organe der rechtsprechenden Gewalt in verfassungsgerichtlichen Organstreitverfahren nie als Partei aufgetreten.
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Dagegen geht das Grundgesetz insoweit über andere Verfassungen hinaus, als nicht nur die obersten Bundesorgane, sondern auch die im Grundgesetz oder in den Geschäftsorganen der obersten Bundesorgane ausgestatteten Teile dieser Organe Antragsteller und Antragsgegner im Organstreitverfahren sein können. Das BVerfG zählt zu diesen „Organteilen“ in ständiger Rechtsprechung insbesondere die Parlamentsfraktionen.[98] Die einzelnen Abgeordneten sind hingegen „sonstige Beteiligte“, die ihren verfassungskräftig garantierten Abgeordnetenstatus ebenfalls mit der Organklage verteidigen können.[99] Der Anwendungsbereich des Organstreits wird ferner dadurch erweitert, dass den „Organteilen“ nicht nur die Geltendmachung eigener Rechte, sondern darüber hinaus auch die prozessstandschaftliche Geltendmachung der Rechte des Organs, dem sie angehören, zugestanden wird (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Die Oppositionsfraktionen können also Rechte des Parlaments notfalls gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit im Organstreitverfahren gegen Übergriffe der Regierung verteidigen.[100]
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Im Vergleich zu anderen Ländern mit einer eigenen Regelung des Organstreitverfahrens wie Polen oder Spanien zeichnet sich die Anwendung dieses Verfahrens durch das BVerfG durch eine ausgesprochen „politische“ Lesart des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und der einschlägigen Bestimmungen des BVerfGG aus. Die im Vergleich zu diesen Ländern weite Auslegung des Organbegriffs zwecks Abgrenzung der Beteiligungsfähigkeit ermöglicht auch den Mitgliedern der gewählten Volksvertretung, die aus ihrem Status als Abgeordnete fließenden Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte vor dem Verfassungsgericht zu verteidigen. Ohne Parallele im europäischen Rechtsraum ist die Anerkennung der Prozessstandschaft im Organstreit, die es gerade den Oppositionsfraktionen ermöglicht, Rechte des Parlaments als Ganzes notfalls auch gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit gegenüber der Regierung verfassungsgerichtlich geltend zu machen. Ausdrücklich beruft sich das BVerfG dabei auf die „Wirklichkeit des politischen Kräftespiels“, in der sich Gewaltenteilung nicht so sehr in der klassischen Gegenüberstellung der geschlossenen Gewaltträger, sondern in erster Linie in der Einrichtung von Oppositions- und Minderheitenrechten verwirkliche. Daher müsse der Parlamentsopposition und -minderheit die Befugnis zur Geltendmachung der Rechte des Bundestages nicht nur dann möglich sein, wenn dieser seine Rechte, insbesondere im Verhältnis zu der von ihm getragenen Bundesregierung, nicht wahrnehmen wolle, sondern auch dann, wenn die Parlamentsminderheit Rechte des Bundestages gegen die die Bundesregierung politisch stützende Parlamentsmehrheit geltend machen wolle.[101]
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Vor dieser Konsequenz scheuen indes die meisten Verfassungsordnungen zurück, sei es aus Respekt vor der Parlamentsautonomie, sei es aus Sorge vor der mit der Zuweisung hochpolitischer Streitigkeiten verbundenen Belastungsprobe für die Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit. Mit der Ausklammerung der pluralistisch strukturierten Binnenbeziehungen der politischen Kollegialorgane ist indes eine erhebliche Einschränkung des Anwendungsbereichs des verfassungsrechtlichen Organstreits verbunden, zumal gerade in parlamentarischen Regierungssystemen Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierung und parlamentarischer Mehrheit regelmäßig im Wege des politischen Dialogs beigelegt werden. So ist dann auch ein Organstreitverfahren, das auf dem klassischen Gegensatz zwischen Exekutive und Legislative aufbaut, in parlamentarischen Systemen wie Spanien nicht zufällig eine Seltenheit.[102] In Präsidialsystemen und parlamentarisch-präsidentiellen „Mischsystemen“, in denen Exekutive und Legislative nicht lediglich institutionell voneinander getrennt sind, sondern auch jeweils über eine selbstständige demokratische Legitimation verfügen, sind hingegen Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Staatsorganen über den jeweiligen Umfang der wechselseitigen Befugnisse denkbar, die nicht auf politischem Wege beigelegt werden können und ein sachliches Bedürfnis nach verfassungsgerichtlicher Klärung begründen. So sind in Polen Kompetenzstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen zwar rar, kommen jedoch gerade in politisch brisanten Konflikten durchaus vor.[103]