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5. Subsidiarität des Organstreitverfahrens

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Die besondere Stellung des Kompetenzstreits unter den verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten wird ferner daran sichtbar, dass eine Reihe von Verfassungsgerichtsgesetzen die Durchführung eines besonderen Vorverfahrens verlangen, bevor eine Entscheidung des Verfassungsgerichts in der Sache zulässig ist. So muss in Spanien nach Art. 73 LOTC das Organ, das sich durch den Akt eines anderen Organs in seinen Kompetenzen verletzt fühlt, dieses förmlich von seinem Standpunkt in Kenntnis setzen und es auffordern, die angegriffene Maßnahme zurückzunehmen. Erst wenn das angegangene Organ die Rücknahme ablehnt oder innerhalb eines Monats nach Empfang der Notifikation nichts unternimmt, kann der Konflikt vor das Verfassungsgericht gebracht werden.

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Die Durchführung eines solchen Vorverfahrens ist auch im russischen Verfassungsprozessrecht vorgeschrieben.[120] Ferner ist sowohl in horizontalen wie in vertikalen Kompetenzstreitigkeiten die Möglichkeit der Durchführung eines Schlichtungsverfahrens vor dem Staatspräsidenten vorgesehen (Art. 85 Abs. 1 russische Verfassung). Ob diese Zuständigkeit des Präsidenten, die Ausfluss seiner konstitutionellen Rolle als Garant der Verfassung ist (Art. 80 Abs. 2 russische Verfassung), in Streitigkeiten zwischen den Organen der Zentralstaatsgewalt, bei denen er als Träger der Exekutivgewalt selbst zu den (potentiell) Betroffenen gehört, sinnvoll ist, erscheint allerdings zweifelhaft. Um sicherzustellen, dass das Verfassungsgericht nicht ohne Not in politische Streitigkeiten verwickelt wird, enthält das Verfassungsgerichtsgesetz schließlich eine allgemeine Subsidiaritätsklausel, die einen Antrag auf Entscheidung im Kompetenzstreitverfahren für unzulässig erklärt, wenn der Konflikt auf andere Weise entschieden worden ist oder entschieden werden kann.[121]

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Eine vergleichbare Subsidiaritätsklausel enthält das italienische Verfassungsgerichtsgesetz zwar nicht, aber auch nach italienischem Recht sind die prozeduralen Hürden für die verfassungsgerichtliche Entscheidung von Kompetenzstreitigkeiten höher als in anderen Verfahrensarten. So gibt es nur im Kompetenzkonflikt zwischen den Staatsgewalten gemäß Art. 37 Abs. 3, 4 des italienischen VerfGG ein Vorverfahren, in dem die Corte costituzionale die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs prüft.[122] Etliche Klagen scheitern bereits in diesem Stadium.[123] Der Beschluss, mit dem das italienische Verfassungsgericht die Zulässigkeit des Antrags bestätigt, entfaltet allerdings keine Bindungswirkung für das spätere Verfahren in der Hauptsache.[124] Der Charakter des Organstreits als Parteiprozess zeigt sich darin, dass die Klage mit Zustimmung der anderen Verfahrensbeteiligten in jeder Lage des Verfahrens zurückgenommen werden kann.[125] Anders als im Kompetenzkonflikt zwischen Staat und Regionen,[126] hat der Gesetzgeber die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Organstreitverfahren nicht vorgesehen.

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Der praktische Stellenwert des Organstreitverfahrens hängt ferner davon ab, wie das Verhältnis zu anderen verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten, insbesondere zur Normenkontrolle, ausgestaltet ist. Da Übergriffe in den Kompetenz- und Funktionsbereich anderer Organe auch durch Setzung von Normen erfolgen können, die mit der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung nicht in Einklang stehen, wird der Organstreit eines wesentlichen Teils seiner Effektivität beraubt, wenn er nicht auch zur Korrektur solch tendenziell sehr weitreichender – weil nicht auf den Einzelfall beschränkter – Kompetenzverletzungen eingesetzt werden kann.

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Dennoch lassen Gesetzgebung und Rechtsprechungspraxis eine große Zurückhaltung gegenüber der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen im Wege des Kompetenz- bzw. Organstreits erkennen. Ausdrücklich festgeschrieben ist der Vorrang des Normenkontrollverfahrens in Art. 94 Abs. 2 des russischen VerfGG. Danach kann die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Normativakts, der Gegenstand eines Kompetenzkonflikts ist, im Hinblick auf den Inhalt der Norm, die Form, das Verfahren der Unterzeichnung des Normativakts, seines Erlasses, seiner Veröffentlichung oder seines Inkrafttretens nur auf der Grundlage einer gesonderten Vorlage und in Übereinstimmung mit dem Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normativakten erfolgen.

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Auch ohne Normierung einer solchen Vorrangregelung kann sich ein faktischer Vorrang der Normenkontrolle aus der großzügigen Ausgestaltung ihrer prozessualen Voraussetzungen ergeben. So steht das Antragsrecht im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle in vielen Ländern nicht mehr nur den obersten Staatsorganen, sondern auch parlamentarischen und politischen Minderheiten und zum Teil sogar Mitgliedern der Öffentlichkeit zu (siehe oben Rn. 19 ff.). Damit schwindet aber auch die Attraktivität des – überdies häufig restriktiv ausgestalteten – Organstreitverfahrens in Fällen, in denen die Kompetenzstreitigkeit auf einen Normativakt oder ein Rechtsinstrument zurückgeführt werden kann.[127]

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In den meisten Ländern hat der Gesetzgeber von einer Klärung des Verhältnisses zwischen Organstreit und Normenkontrolle abgesehen. Das spanische Tribunal constitucional hat zu der Frage, ob auch eine gesetzliche Regelung zum Gegenstand eines Kompetenzkonflikts gemacht werden kann, nicht abschließend Stellung genommen, jedoch darauf hingewiesen, dass die verfahrensrechtliche Ausgestaltung dieses Instruments seine praktische Eignung zur Abwehr von Kompetenzverletzungen durch Akte des Gesetzgebers als fraglich erscheinen lasse.[128]

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Nach der Rechtsprechung der italienischen Corte costituzionale kann der Erlass eines Gesetzes oder einer Vorschrift mit Gesetzeskraft grundsätzlich nicht zum Gegenstand eines Kompetenzkonflikts gemacht werden, weil darin eine Abkehr von dem für das italienische System des Verfassungsgerichtsschutzes prägenden Grundsatz der inzidenten Normenkontrolle liege.[129] Eine Ausnahme soll im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes nur in Fällen gelten, in denen sich die Durchführung einer inzidenten Normenkontrolle als schwierig oder unmöglich erweist oder zu spät kommen würde, um eine irreversible Beeinträchtigung des antragstellenden Organs zu verhindern.[130]

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