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8. Marlenes schöner Mann
ОглавлениеJürgen. Er sah gut aus, war intelligent und zärtlich, wie es Marlene bisher noch nie erlebt hatte. Schon gar nicht bei ihrem ersten Mann.
Sie brauchte Jürgen. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Aber ob er sie auch brauchte? Das wusste sie nicht so genau, auch wenn sie es sich sehr wünschte.
Hatte sie nicht schon längst bemerkt, dass sie nicht die Einzige war, die ihn sehr attraktiv fand?
Er war groß und schlank, sein voller Mund und die rauchgrauen Augen ließen unschwer erkennen, dass er vor allem die Liebe liebte. Oder sollte sie besser sagen: das Lieben? Warum also sollte sie sich um ihn sorgen?
Sie war sich vollkommen im Klaren darüber, dass (sollte das mit ihr hier schlecht ausgehen) er schnell bei einer anderen Trost finden würde.
Bei den Kindern lagen die Dinge anders. Karsten, Birgit und Alex waren auf ihre Mutter angewiesen. Deshalb durfte sie einfach nicht zulassen, dass es mit ihr schlecht ausging.
Marlene hatte das Gefühl, sich mit ihren Gedanken im Kreis zu drehen. Ihr Kopf schmerzte und wummerte, bis die sanfte Dunkelheit sie wieder einhüllte und dem Dröhnen ein Ende setzte.
Trotzdem fand sie keinen ruhigen Schlaf. Stechende Schmerzen drohten ihre Glieder zu zerreißen, und schon nach Minuten pulste es auch in ihrem Kopf wie zuvor. Unheimliche, wirre Bilder kamen aus dem Nichts und ließen ihr Herz rasen. So musste sie mit ansehen, wie ihr kleiner Sohn in hohem Bogen durch die Luft flog. Seine Schreie schnürten ihr vor Entsetzen die Kehle zu. Als fast noch unerträglicher empfand sie die Stille, die nach seinem Aufprall an der Uferböschung herrschte.
Plötzlich tauchte die Schönberg-Oma auf, entriss ihr die kleine Birgit und schwebte mit ihr davon. Ihre Tochter schaute sich nicht ein einziges Mal nach ihrer Mutter um. Marlenes Beine waren einbetoniert, sodass sie den beiden nicht nachlaufen und ihre Tochter zurückholen konnte, so sehr sie sich auch anstrengte.
Dann wieder sah sie Karsten seltsam lächeln, während er einen riesigen Berg aus Marmelade hinabrutschte. Die Marmelade verwandelte sich in der nächsten Minute vor ihren Augen in dampfenden braunen Schlamm. Karstens Hände suchten in der übel riechenden Masse vergeblich nach einem Halt. Immer tiefer wurde er in den Schlamm gezogen. Erst, als er ganz und gar zu versinken drohte, schrie er wie ein Ertrinkender nach seiner Mutter. Sie wollte sofort zu ihm laufen, aber sie kam auch jetzt wieder nicht von der Stelle.
Verzweifelt streckte sie die Arme aus, aber sowohl Karsten als auch Birgit entfernten sich immer weiter von ihr, wurden immer kleiner, bis sie schließlich in einem wabernden Nebel verschwanden. Es war grauenvoll!
Als Marlene tränenüberströmt und schweißgebadet erwachte, war es draußen vor dem Fenster stockdunkel. Das Krankenzimmer war durch ein kleines Nachtlicht notdürftig erleuchtet.
Eine Nachtschwester beugte sich über sie, wischte ihr mit einem kühlen Waschlappen den Schweiß von der Stirn und versuchte sie zu beruhigen, die am ganzen Körper zitterte.
»Schon gut, schon gut, Sie haben nur schlecht geträumt, Frau Altmann«, redete die Schwester auf Marlene ein.
Doch das Schluchzen wollte nicht aufhören, salzige Tränen rannen ihr über die Wangen.
So viele Fragen hatte sie, so viel hätte sie gern noch gesagt. Ob sie jemals wieder auf die Beine käme, laufen und sprechen könnte? Sie musste doch ihren Kindern sagen, wie sehr sie sie liebte und vermisste.
Sie wollte unbedingt auch ihren Mann ermutigen, ihren beiden Großen etwas abzugeben von der Zärtlichkeit, mit der er seinen eigenen Sohn und auch sie, seine Frau (bis jetzt) überschüttete.
Sogleich fielen ihr auch die Briefe wieder ein, die er ihr bei Alex’ Geburt ins Entbindungsheim geschrieben hatte. Er sei sich bewusst, dass er nun auch drei Kinder habe … Er wolle das Eigene auf keinen Fall bevorzugen. »Wir hatten beide kein liebevolles Elternhaus, unsere Kinder sollen es besser haben als wir.«
Diesen Satz würde sie nie vergessen, gab er ihr doch immer wieder Halt, wenn seine Taten auch manchmal sehr weit abwichen von jenem einst vielleicht sogar aus ehrlichem Herzen gegebenen Versprechen.
Wie oft hatte sie sich seit der Geburt von Alex schützend vor die beiden Großen stellen müssen, damit seine völlig unverhofft auftretende Härte sie nicht mitten in die Seele träfe.
Mit wem würde sie darüber einmal richtig reden können?
Mit niemandem, jetzt und hier jedenfalls nicht. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt jemals wieder würde sprechen können …
Eine Spritze vertrieb die quälenden Gedanken und brachte den Schlaf. Marlene sah dankbar und schläfrig blinzelnd der Schwester nach, die leise die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Diesmal blieb sie von grauenvollen Bildern verschont und glitt ohne Angst in eine andere, schmerzlose Welt voller Erbarmen und Stille.