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7. Mumie statt Frau und Mutter

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Jürgen gab sich große Mühe, das konnte man sehen, aber ihm wollte trotzdem kein Lächeln gelingen, als er Marlene so liegen sah. Der dicke Kopfverband, die Augenbinde, die weiß eingegipsten Beine und der linke, in einer Schlinge aufgehängte Gipsarm ließen ihn wohl eher an eine Mumie denken als an eine Frau, seine Frau.

Einen Moment lang sah er nur Alex zärtlich an, den er auf dem Arm trug. Dann überwand er sich und beugte sich zu seiner Frau hinunter, mehr darauf bedacht, dass Alex ihm nicht wegrutschte.

»Grüß dich, Marlene.« Jürgen rang sichtlich nach Fassung, drückte dann aber seine Wange ganz leicht gegen den weißen Kopfverband.

Wie gierig sie seinen Geruch einsog.

Auch Alex hatte bei ihrem Anblick zunächst ängstlich zu weinen angefangen, aber dann, als sein Vater den verbundenen Kopf weiter liebkoste, streckte er die Arme aus, lachte und weinte gleichzeitig, krähte schließlich, wenn auch noch immer ein wenig ungläubig: »Mamma?!«

Am liebsten hätte sie ihre beiden Männer ganz fest in die Arme genommen und nie mehr losgelassen.

Aber daran war genauso wenig zu denken wie ans Sprechen.

Also schrieb sie stattdessen mit zittriger Hand auf das Kästchenblatt: Zieh ihn bitte aus!

Jürgen guckte ein bisschen verständnislos, dann begriff er wohl, wie wichtig das für sie sein musste und tat, worum sie ihn gebeten hatte. Selbst Alex zog an seinen Sachen, als ginge ihm das alles nicht schnell genug. So lag bald ein ansehnliches Häufchen Kindersachen, ordentlich übereinandergestapelt, auf ihrem Bett.

Sie hätte über die Ordnungsliebe ihres Mannes fast geschmunzelt, wenn es denn gegangen wäre.

Legt eure Sachen ordentlich zusammen, alles auf einen Stapel, mit der Kante nach vorn! Fast täglich bekamen die Kinder diesen militärisch anmutenden Satz von ihm zu hören.

Alex, nun ganz nackt, wurde von seinem Vater vor seiner Mutter langsam gedreht. Marlene schaute angestrengt. Nichts sollte ihrem einäugigen Blick entgehen.

Doch der Kleine schien wirklich unversehrt zu sein, wenn man von ein paar blauen Flecken an dem ansonsten rosigen Po absah.

Marlene konnte nicht an sich halten und weinte, diesmal vor Freude. Während Jürgen seinen Sohn wieder anzog, erklärte er ihr das Wunder von dessen Unversehrtheit.

»Durch den Aufprall des Kranauslegers ist der Gurt, mit dem Alex angeschnallt war, ruckartig durchtrennt worden, wodurch der Kleine in hohem Bogen durch die Luft geflogen ist. Nach etwa acht Metern, so etwa fünfzig Zentimeter vor dem Wasser, soll er weich gelandet sein. Alle, die es gesehen haben, waren fassungslos. Nur so eine sorbische Oma mit Dutt meinte, sie habe euch ja gleich gewarnt: Man soll eben den Tag nicht vor dem Abend loben …«

Natürlich erinnerte sich jetzt auch Marlene an die alte Frau, aber sie wollte nicht weiter an fremde Leute denken.

»Die Ärztin, die ihn untersucht hat, meinte auch, dass Alex’ Flug durch die Luft einem kleinen Wunder gleiche.«

Marlene lauschte den Worten ihres Mannes und nickte glücklich. Es tat nicht einmal mehr weh!

»Übrigens«, fuhr Jürgen unbeirrt fort, »da gibt es noch ein Nachspiel. So eine Ladung muss schließlich richtig befestigt sein. Dafür hat der Kraftfahrer zu sorgen. Er kommt also noch vor Gericht.«

Marlene erschrak und wusste selbst nicht, warum.

»Natürlich erst später, wenn du wieder richtig gesund bist …«

Während er sprach, schaukelte er seinen Sohn ein wenig hin und her.

Alex nuckelte selbstvergessen am Daumen und lehnte seinen Kopf an Vaters Schulter. Ein friedliches Bild.

Doch warum hatte Jürgen kein Wort von ihren beiden Großen erwähnt? Sie wollte nach Karsten und Birgit fragen, aber sie tastete vergeblich nach dem Stift …

»So, jetzt müssen wir aber wieder los, morgen holen meine Eltern den Alex zu sich, ich muss ja arbeiten. Ausgerechnet jetzt sollen wir die Klimaanlagen im Maschinenhaus von Grund auf überholen. Das wird natürlich nicht ohne Überstunden abgehen. Viel sinnvoller wäre es, die alten Dinger einfach zu durch neue zu ersetzen, aber woher nehmen?«

Aus seinem Redeschwall entnahm Marlene, dass ihr Mann mit seinen Gedanken schon längst wieder bei seiner Arbeit war. Doch sie wollte jetzt nichts von den Engpässen im Werk hören, sondern sie wollte endlich wissen, wie es ihren Kindern ging.

Alex war inzwischen auf dem Arm seines Vaters eingeschlafen. Schnell, ehe er womöglich mit Alex verschwand, zupfte sie Jürgen an der Jacke, klopfte so energisch, wie sie es vermochte, mit dem wiedergefundenen Stift auf den Block.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie während seiner Klagerede etwas aufs Papier gebracht hatte.

Nun kam er nicht umhin, es zu lesen.

Birgit und Karsten? Sind sie traurig? Tröste sie bitte! So stand es dort in sehr unleserlicher Schrift.

»Ach«, sagte Jürgen gepresst und winkte ab. »Denen geht’s gut. Die Schönberg-Oma will Birgit mitnehmen, solange du im Krankenhaus bist. Vielleicht sogar länger …«

Was? So weit? Bis ins Erzgebirge? Noch ehe Marlene schriftlich protestieren konnte, sprach ihr Mann schon weiter: »Es sieht so aus, als könne sie gar nicht schnell genug mit der Oma abreisen …«

Das klang nicht gerade so, als würde er es bedauern.

»Und Karsten? Na ja, er ist wie immer, eben schwierig.«

Das klang genervt. Ein resigniertes Achselzucken bestätigte ihren Eindruck.

Sei bitte gut zu ihm!

Jürgen nickte ergeben, doch sein Lächeln wirkte gequält.

Marlene spürte wie schon so oft in den zurückliegenden drei Jahren ein unangenehmes Ziehen in der linken Brusthälfte. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie zwar wieder einen Mann hatte, aber die beiden Großen trotzdem keinen liebevolleren Vater hatten als zuvor.

Es hatte sich nichts geändert: Sie würde auch diesmal für ihre großen Kinder allein da sein müssen. Wieder und immer noch Mutter und Vater zugleich sein? Wie sollte sie das schaffen – in ihrer jetzigen Lage?

Doch auf Jürgen konnte sie wohl in diesem Punkt – trotz der neuen und schwierigen Bedingungen – kaum zählen. Er war gerade einmal fünfzehn Jahre älter als Karsten, ihr Großer. Anfangs hatte sie das gute Gefühl gehabt, dass er dem Jungen wirklich so etwas wie ein Freund sein wollte. Aber Karsten traute ihm wohl nicht, ließ ihn immer wieder spüren, wie sehr er den Mann seiner Mutter ablehnte. So hatten sich die Fronten allmählich immer mehr verhärtet.

Birgit hingegen, drei Jahre jünger als ihr großer Bruder, sehnte sich sehr nach einem Vater. An ihren eigenen hatte sie gar keine Erinnerungen. Dafür war Marlene dem natürlichen Vergessen sehr dankbar. Sie war ganz sicher, dass ihr erster Mann für alle Erniedrigungen, für seelische und körperliche Gewalt, die er seinen Kindern, anderen Menschen und ihr, seiner Frau, angetan hatte, würde bezahlen müssen.

Ein Mädchen wie Birgit lieb zu haben, dürfte wohl niemandem schwerfallen, hatte Marlene geglaubt, als sie Jürgen kennenlernte, der so voller Zärtlichkeit war. Ungewöhnlich schnell hatte sie seinem Drängen nachgegeben, und sie hatten geheiratet. Das war vor drei Jahren gewesen.

Aber ihr innigster Wunsch, Jürgen möge doch nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder richtig lieb gewinnen, sollte wohl vorerst noch nicht in Erfüllung gehen.

Ihr Mann konnte offenbar auch für Birgit nur wenig Herzenswärme aufbringen, sprach er doch meist nur von oben herab mit ihr. Diesen manchmal sogar zynischen Tonfall nannte er dann »Autorität«. In dem Punkt gingen ihre Meinungen sehr weit auseinander, doch Marlene wagte es nicht, ihm ihre eigenen, anderen Ansichten aufzuzwingen. Sie war schließlich keine Schulmeisterin, und Jürgen war kein grüner Junge, wenn er auch fast fünf Jahre jünger war als sie. Sie mochte einen erwachsenen Menschen nicht umerziehen, sie wollte ihren Mann einfach so lieben, wie er war, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Außerdem passte es einfach nicht zu ihr, bei Problemen die Flinte gleich ins Korn zu werfen.

Von draußen drang jetzt Vogelgezwitscher ins Zimmer. Es war unverkennbar Frühling geworden!

Ihre Bettnachbarin schwieg wieder. Auf Jürgens knapp hingeworfenes »Wiedersehen« hatte sie allerdings etwas Undefinierbares gemurmelt.

Marlene war ihr Schweigen ganz recht, konnte sie doch so ungestört weiter ihren Gedanken nachhängen.

Voller Sehnsucht dachte sie an ihre Kinder. Niemand brauchte sie dringender. Um ihretwillen musste sie wieder auf die Beine kommen. Darauf wollte sie jetzt ihre ganze Kraft richten. Alles andere würde sich dann schon finden …

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