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13. Klagebriefe und Erinnerungen

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Auch Jürgen schrieb ihr täglich Briefe. Darin beklagte er sich allerdings fast ausschließlich, wie schwer er es mit Karsten hätte.

»Seit du im Krankenhaus liegst, ist er überhaupt nicht mehr zu bändigen. Er ist rotzfrech, lügt, kommt nicht nach Hause. Manchmal ist er schon über Nacht weggeblieben. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich mit ihm machen soll. Neulich hat er extra Marmelade in der Küche verschüttet, um sich eine Schlitterbahn zu bauen. Ich denke, das Geld für die Marmelade sollten wir ihm vom Taschengeld abziehen. Wie ich heute erst gemerkt habe, fehlen mir auch schon wieder zehn Mark aus dem Portemonnaie. Nur er kann sie genommen haben, es ist ja schließlich niemand weiter hier in der Wohnung.«

Marlene ließ das Blatt auf die Bettdecke sinken. Sie war bestürzt und traurig. Woran lag es nur, dass Karsten sich so auffällig verhielt? Es schien ihr manchmal fast so, als wolle er sich mit Absicht und aller Gewalt selbst das Leben schwer machen. Sie war mit ihm schon bei verschiedenen Ärzten und Kinderpsychologen gewesen. Aber jeder hatte etwas anderes zu den Ursachen für seine Verhaltensstörungen gesagt.

Die einen sahen den Grund in seiner Geburt, die insgesamt achtundsiebzig Stunden gedauert hatte.

»Da war wohl das Gehirn doch nicht mehr so richtig mit Sauerstoff versorgt«, klangen ihr noch manchmal die Worte eines älteren Arztes nach.

Die anderen führten sein affektbesetztes Verhalten auf eine zu harte Erziehung zurück, wieder andere auf einen genetischen Defekt.

Es war schon richtig, dass Karsten sich genauso wie Marlene achtundsiebzig Stunden bei der Entbindung gequält hatte. Und das mit der Erziehung? Da war bestimmt auch eine Menge dran, wenn auch Marlene die Härte seines leiblichen Vaters durch sicherlich allzu große Nachgiebigkeit wieder auszugleichen versucht hatte. Und was war mit dem sogenannten genetischen Defekt? Marlene hatte ihren ersten Mann schließlich nicht nur einmal gewalttätig erlebt.

»Pass auf den Kleinen auf«, hatte die Großmutter seinerzeit gewarnt. »Geh mit dem Jungen weg – solange du noch kannst. Mit diesem Mann stimmt etwas nicht!«

Das war natürlich auch Marlene längst klar gewesen. Aber sie war geblieben. Erniedrigt, beleidigt, gehorsam. Jahrelang. Darin sah sie ihre Hauptschuld. Niemals hätte sie die Trennung sieben Jahre lang hinausschieben dürfen … Sie hätte mit ihrem Jungen weggehen müssen. Damals schon …

*

Weihnachten. Sie waren gemeinsam mit dem Zug an die Ostsee gefahren, eine scheinbar glückliche Familie – Rolf, Marlene und der kleine Karsten. Sie wollten die Feiertage und den Jahreswechsel bei Rolfs Mutter verbringen, die in einem beschaulichen Fischerdorf wohnte. Früher hatte sie dort mit ihren vier Kindern gelebt, drei Mädchen und Rolf. Ihr Mann Karl, ein Maurerpolier, hatte sie mit ihrem vierblättrigen Kleeblatt sitzen gelassen, war in den Westen abgehauen, wie die kleine, temperamentvolle Schwiegermutter Walburga immer wieder gern zum Besten gab. Jetzt hatte sie ihr Haus ganz für sich allein.

Marlene hatte diesen Schwiegervater niemals kennengelernt. Aber nach den Reden der Schwiegermutter musste er ein schöner, hochgewachsener Mann gewesen sein, der gern ein Gläschen trank – und noch eins und noch eins, bis er sich schließlich selbst nicht mehr kannte.

Wie Walburga ihr einmal im Vertrauen gestanden hatte, war es nach solchen Trinkgelagen auf dem Bau (Du weißt ja, ein Stein, ein Kalk, zwei Bier!) zu Hause häufig und immer wieder zu Tätlichkeiten gekommen. Einmal habe er ihr sogar das Nasenbein zertrümmert, hatte sie Marlene so kleinlaut gestanden, als sei sie die Täterin und nicht das Opfer gewesen.

Ihre Nase war tatsächlich etwas schief zusammengewachsen. Sie hatte sich damals nicht getraut, zum Arzt zu gehen, weil sie dessen unangenehme Fragen fürchtete. Die Angelegenheit war so schon peinlich genug. Den Nachbarn hatte sie kichernd weisgemacht, dass sie nicht richtig über den Onkel laufen konnte und zur Strafe die Treppe hinunter gefallen sei.

Aber die Nachbarn hatten nur genickt, schwankend zwischen Mitleid und Wut. Sie kannten die Wahrheit natürlich längst, denn so dick sind die Wände in den Häusern aus den dreißiger Jahren ja auch wieder nicht.

So kam es, dass weder die Nachbarn noch Walburga böse waren, als der Maurerpolier eines Tages verschwunden war. Nein, nicht wie die Male zuvor, für ein paar Tage, nachdem er angekündigt hatte, nur mal schnell Zigaretten holen zu wollen. Dieses Mal war er überhaupt nicht mehr aufgetaucht. Niemand schien den Mann zu vermissen. Wer weiß, wie viele Demütigungen und Schläge Walburga somit erspart geblieben waren. Trotzdem war sie eine fröhliche Frau geblieben.

Dass ihr Sohn Rolf, Marlenes erster Mann, nicht nur äußerlich das Ebenbild seines Vaters abgab, wollte sie als Mutter nicht wahrhaben. Rolf war groß, schlank und sportlich. Sein Foto im Schaufenster eines Fotografen zog vor allem junge Mädchen in ihren Bann. Sein Grübchen mitten im Kinn, sein tiefes, manchmal jungenhaftes Lachen und sein norddeutscher Dialekt hatten auch die damals siebzehnjährige Marlene begeistert. Sie konnte ihm gar nicht oft genug zuhören, suchte seine Nähe, so oft es sich einrichten ließ.

Sie hatten sich in einem Internat kennengelernt, das sowohl Oberschüler als auch Lehrlinge beherbergte. Es dauerte gar nicht lange, bis auch Rolf immer mehr Interesse an der jungen Marlene bekundete.

Die Mädels im Internat bedachten sie, die die eher unscheinbar war, mit scheelen Blicken, denn sie beneideten sie um Rolf.

Wer Rolf und Marlene zusammen sah, glaubte zu verstehen, was es mit der Liebe auf den ersten Blick auf sich hat. Die beiden marschierten Händchen haltend über den Hof, küssten sich an jeder Ecke und machten sich nichts aus den Blicken der anderen. Sie waren ganz und gar eins, kein Blatt Papier passte zwischen sie. Trennungen versuchten sie zu vermeiden, und wenn es doch einmal sein musste, dann glaubten sie, es ohne einander nicht auszuhalten, suchten und fanden sich überall.

Sie war damals in der zwölften Klasse. Er lernte Schweißer.

Sie war von zu Hause ausgerückt, weil ihr fünfter Pflegevater ihr zeigen wollte, wie sie ihre Pubertätspickel wegbekommen könnte.

»Musst halt nur a bisserl nett zu mir sein«, hatte Franz mit seinem Wiener Charme (er war tatsächlich in der österreichischen Hauptstadt geboren) seine Stieftochter zu überzeugen versucht.

Doch Marlene, damals süße sechzehn, hatte seine Absichten durchschaut. Was tun? Binnen weniger Minuten stand ihr Entschluss fest.

»Geh mal schon vor«, sagte Marlene mit sanfter Stimme, »ich will mich nur noch ein bisschen frisch machen.« Kaum hatte sie ausgesprochen, wandte sie sich schon in Richtung Bad.

Franz sah ihr nach, rieb sich die Augen, trollte sich schließlich, erstaunt und hocherfreut über ihre offensichtliche Bereitwilligkeit, ins Schlafzimmer.

Doch seine Freude sollte nicht von langer Dauer sein. Kaum hatte er die Schlafzimmertür hinter sich zugezogen, da schlich sie heran und drehte den Schlüssel herum. Marlenes Herzschlag raste. Die Angst ließ sie erzittern.

Ihr Stiefvater tobte und fluchte, schlug mit den Fäusten gegen die Tür.

Sie musste sich beeilen, wenn sie hier heil herauskommen wollte. Ohne groß nachzudenken, warf sie ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, schnappte sich ihre Schultasche und rannte die Treppe hinunter.

Nur weg, nur weg, nur weg, schien jeder Schritt und jeder Sprung über mehrere Stufen zu hämmern.

Fürs Erste hatte sie Unterschlupf bei der Großtante eines guten Freundes gefunden. Bald darauf war Marlene zum Jugendamt gegangen, hatte dort die Sache erklärt und um Unterkunft in einem Internat gebeten. Einerseits wollte sie der alten Frau nicht weiter zur Last fallen und andererseits nun, da sie schon bis zur 11. Klasse gekommen war, auch unbedingt das Abitur noch schaffen. Zu der Senftenberger Oberschule gehörte aber kein Wohnheim, also hatte die Mitarbeiterin im Jugendamt ihr vorgeschlagen, die Oberschule in Lauchhammer zu vollenden, dort gab es ein Schulinternat. Sie wolle das klären. Doch in jenem Wohnheim war kein Platz mehr für Marlene, daher nahm sie dankbar den Vorschlag an, im Internat der Kokerei und Brikettfabrik zu wohnen.

Dort war ihr dann Rolf über den Weg gelaufen. Und Marlene begann, an ihr gutes Schicksal zu glauben. Beide klammerten sich aneinander, als gebe es keine anderen Menschen mehr auf der Welt – vielleicht auch, weil sie glaubten, dass niemand anderer sie liebte.

Weder seine Mutter Walburga noch ihre Pflegemutter Hilde hatten ihren Sohn beziehungsweise ihre Tochter jemals in ihrer Unterkunft besucht.

Marlene wusste nicht einmal, wer Franz den Fünften aus seinem Schlafzimmer-Gefängnis befreit – oder wie er seiner Frau erklärt hatte, wie er überhaupt dort hineingeraten war.

Trotzdem söhnte Marlene sich nach einiger Zeit mit ihrer Mutter aus.

Nachwuchs hatte sich angekündigt, Rolf und Marlene wurden Eltern. Die Schwangerschaft wurde kurz vor den Abiturprüfungen auch vom Arzt bestätigt. Hätte es einen schöneren Anlass für eine Versöhnung geben können? Eltern, Schwiegereltern und alle Anverwandten waren sich einig: Jetzt wird geheiratet.

Die Hochzeit fand wenige Monate nach ihrem Abitur und seinem Lehrabschluss statt. Marlene war im fünften Monat schwanger und stellte sich alles einfach und romantisch vor. Sie liebten doch einander wie niemand sonst auf der Welt. Glaubte Marlene.

Doch die Hochzeit erwies sich alles andere als romantisch. Von wegen ganz in Weiß, mit einem Blumenstrauß! Marlene erschien auf dem Standesamt in einem grünen Samtkleid und langen weißen Handschuhen. Einen Schleier zu tragen, war angesichts des gewölbten Bäuchleins der Braut ebenso unsinnig wie der Myrtenkranz der Unschuld. Darin waren sich Schwiegermutter Walburga mit den Pflegeeltern Hilde und Franz einig. Ein Widerspruch der Brautleute verbot sich von selbst.

Einen Brautstrauß zu besorgen, hatte Rolf nicht für notwendig erachtet. Als er den niedergeschlagenen Blick von Marlene bemerkte, hatte er sie kurz in den Arm genommen und nur gesagt: »Wozu brauchen wir alle diese Äußerlichkeiten? Wir haben doch uns!«

Und hatte er da nicht recht? Marlene nahm es hin.

Die Standesbeamtin wunderte sich. Noch vor der Trauung nahm sie das dünne, junge Mädchen beiseite und flüsterte ihr zu: »Wissen Sie, Sie kommen hierher, ohne Blümchen, ohne alles, aber mit traurigen Augen. Dabei sollte das doch der schönste Tag in Ihrem Leben sein. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass es heutzutage keine Schande mehr ist, als ledige Frau ein Kind zu bekommen. Sind Sie sicher, dass Sie heute hier den richtigen Schritt tun?«

Marlene schwirrte der Kopf, sie wagte nicht, den Blick der Frau zu erwidern, nickte stur und schaute hinab auf ihren sich schon leicht wölbenden Bauch.

Doch bald sollte sich zeigen, dass es für beide nicht der richtige Schritt gewesen war. »Wir werden versuchen, alles besser zu machen als die Eltern«, hatten sie sich bei ihrer armseligen Hochzeit geschworen, die schließlich damit geendet hatte, dass sie aus der pflegeelterlichen Wohnung hinausgeworfen wurden. Der Schwiegersohn hatte dem Schwiegervater, eben jenem Franz, nach einem Streit eine Schnapsflasche auf dem Kopf zerschlagen.

»Du kannst hierbleiben«, hatte die Pflegemutter ihrer Tochter nachgerufen.

Selbst Franz der Fünfte hatte zustimmend gebrummelt.

Doch Marlene schaute sich nicht um, sie hatte ja jetzt einen Mann. Wenn er hinausgeworfen wurde, dann wollte sie mit ihm gehen. Etwas anderes kam für sie – ebenso wie für ihn – gar nicht infrage. Eigentlich waren Rolf und Marlene zu jener Zeit selbst noch Kinder.

So waren sie nach Finsterbusch gefahren, hatten dort für ein paar Wochen bei der Großmutter Unterschlupf gefunden, ehe sie ihre erste »Wohnung« bezogen. Die bestand aus einem Raum im Parterre, einem ehemaligen Stall, den sie mit einem Vorhang in Küche und Wohnzimmer unterteilten. Darüber befand sich ein weiterer Raum. Um zu diesem, ihrem Schlafzimmer zu gelangen, mussten sie eine schmale Stiege erklimmen. Sie hatten gehört, dass früher der Stallknecht dort oben gewohnt habe – und unten die Tiere, das sei halt damals so gewesen.

Zum Glück für Rolf und Marlene war die Nachbarin ihrer Großmutter, eine alte Frau, in den Westen übergesiedelt.

»Was soll ich mit dem alten Zeug?«, hatte sie leise gefragt, war durch ihre zwei Stuben gegangen, hatte die hohen Bettpfosten gestreichelt, das Vertiko mit einem Blick umfasst, als müsse sie sich von einem lieben Bekannten für immer verabschieden. »Ist schon verständlich, dass man uns Rentner hier rauslässt, wir kosten den Staat bloß Geld«, hatte sie geseufzt und mit ihren knochigen Händen nicht vorhandene Falten an ihrer Schürze glatt gestrichen. Und schließlich hatte sie mit einer ausladenden Geste auf alle Möbel gewiesen und den entscheidenden Satz zu den beiden frisch Vermählten gesagt: »Meine Schwester hat mir in München schon ein Zimmer eingerichtet, hab schon Fotos davon gesehen. Ihr beiden könnt das alles hier haben.« Am Ende war ihre Stimme immer leiser geworden, als hätte sie den Satz schon bereut, ehe er zu Ende gesprochen war.

Rolf und Marlene wussten nicht, ob sie froh oder betroffen sein sollten. Doch letztendlich siegte die Freude, wenigstens ein paar altmodische Möbel in ihre seltsame Unterkunft stellen zu können.

Rolf hatte sofort Arbeit in einem Betrieb gefunden, in dem Elektroden und Schweißmaschinen hergestellt wurden. Marlene hatte anfangs mal da und mal dort ausgeholfen, denn mit ihrem dicken Bauch und nur dem Abitur in der Tasche, aber ohne Berufsabschluss, wollte sie niemand gleich einstellen. Geld war bei ihnen also immer knapp.

Von Anfang an hatte Rolf deshalb auch in einer Feierabendbrigade mitgearbeitet. Das Hinzuverdiente sollte eigentlich dazu beitragen, das Familienbudget etwas aufzubessern. Aber es wurde ganz und gar nichts aufgebessert, denn was er auf dem Bau zusätzlich verdient hatte, rann meist noch am selben Abend in flüssiger Form wieder durch seine Kehle. Und wenn er dann betrunken war …

Marlene mochte eigentlich nicht mehr daran denken, aber die Erinnerung an diese Zeit saß zu tief. Zu groß war ihre Angst gewesen – vor dem betrunkenen Rolf. Nüchtern war er freundlich und hilfsbereit, betrunken aber verwandelte er sich in ein Monster. Es war ihr unfassbar, dass es sich bei diesen gegensätzlichen Charakteren um ein und denselben Menschen handeln sollte.

Jedes Mal, wenn sie ihn die knarrende Treppe heraufwanken hörte, fühlte sie Angst und Wut ihr die Kehle zuschnüren. Immer wieder war es zum Streit gekommen. Unausweichlich. Egal, was sie tat oder sagte, selbst, wenn sie überhaupt nichts tat oder sagte. Bis sie sich irgendwann gar nichts mehr zu äußern traute. Doch selbst ihr demütiges Schweigen half nichts, es schien ihn fast noch mehr aufzubringen. Sobald er betrunken war, hagelte es Beleidigungen und Schläge. Dabei bekam sie genauso viel ab wie ihr Sohn Karsten oder einmal auch die Hauswirtin, als sie an der Treppe stand und ihn eindringlich bat, sich zusammenzureißen und nicht wieder so schrecklich herumzubrüllen.

Trotzdem wollte und konnte Marlene damals einfach nicht aufgeben. Schließlich war er ihr Mann und beteuerte stets, sobald er wieder nüchtern war, dass er sich gar nicht vorstellen könne, dass alle die blauen Flecken an ihren Armen, im Gesicht, auf dem Bauch oder am Hals womöglich von seinen Schlägen herrühren könnten.

»Aber wenn doch, meine liebe Marlene«, wimmerte er, »dann bitte, bitte verzeih mir!« Er umklammerte ihre Knie, wenn er sich auf seine geworfen hatte, und beschwor sie: »Ich hab dich doch lieb! Ich brauche dich. Wenn du mich verlässt, nehme ich mir das Leben!«

Dass er das nicht nur so dahingesagt hatte, unterstrich er dann gleich in einer der nächsten alkoholisierten Nächte ausdrücklich mit einem kühnen Sprung aus dem Fenster, wobei er aber glücklicherweise im Geäst eines Pflaumenbaumes hängen blieb und sich nur einen Leistenbruch zuzog. Sie beruhigte ihn und rief von der nächsten Telefonzelle aus den Arzt, damit er ihrem Mann helfe.

Selbstmord? Nein, das wollte Marlene nun wirklich nicht auf ihr Gewissen laden. Sie gab also nach. An jenem Abend – und immer wieder. Immer wieder.

Als die Wirtin sie eines Tages fragte: »Sagen Sie mal, Frau Koslowski, merken Sie denn gar nicht, dass es schlichte Erpressung ist, was Ihr Mann da mit Ihnen treibt?«, verwahrte sie sich gegen derartige Äußerungen.

So waren sie, nach vielen Beteuerungen, dass er sich ändern wolle, wieder gemeinsam an die Ostsee gefahren, zu ihm nach Hause. Es war schließlich Weihnachten – Walburga erwartete sie.

Klar, dass Rolf bei dieser Gelegenheit auch seine Kumpels besuchte. Und da war es dann passiert:

Walburga stand am Fenster und wartete auf ihren Sohn.

»Oh je, er kommt die Straße entlanggetorkelt«.

Schnell zog sie die Gardine wieder vor.

Die Angst in der Stimme der Schwiegermutter war nicht zu überhören. Irgendwie musste das Bild ihres Sohnes wohl die Erinnerung an ihren eigenen Mann wieder heraufbeschworen haben, auch wenn der schon jahrelang nichts mehr von sich hatte hören lassen. Walburga zitterte und wurde vor Erregung abwechselnd blass und rot.

Nicht einmal ihren Töchtern, die ebenfalls zu Besuch waren, gelang es, sie zu beruhigen.

Marlene war vorsorglich an die Haustür geeilt. Zum Empfang, wie er es gern hatte.

»Komm, mein Lieber, das Abendessen ist schon fertig«, versuchte sie jedes Wort zu vermeiden, das ihn hätte reizen können. Dabei zitterte auch sie innerlich wie Espenlaub.

»Ich esse, wenn ich Hunger habe. Jetzt jedenfalls nicht. Wieso lauerst du mir hier eigentlich schon an der Haustür auf?«

Das gefährliche Glitzern in seinen Augen kannte sie nur zu gut. Schnell wandte sie sich ab, lief die Treppe hinauf. Oben im Wohnzimmer saßen seine Schwestern und seine Mutter schon am festlich gedeckten Tisch und sahen ihm entgegen.

»Komm, setz dich«, sagte die Mutter zaghaft, »die Würstchen werden sonst kalt … ich habe den Kartoffelsalat extra so gemacht, wie du ihn am liebsten hast, ohne Mayo …«

»Was soll das werden? Eine Gerichtsverhandlung?«, fiel er seiner Mutter ins Wort. »Wieso sitzt ihr schon alle um den Tisch herum und glotzt mich so blöd an?«

»Ach, komm Rolf, lass es gut sein! Was denn für eine Gerichtsverhandlung? Wir hatten uns nur schon hingesetzt, weil wir dich kommen gehört haben«, versuchte Renate, von den Familienmitgliedern, also auch von Rolf, als Respektsperson anerkannt, ihren Bruder zu beruhigen.

Niemand sonst sprach ein Wort. Aber es half nichts, alles lief ab wie immer.

Marlene kannte das schon zur Genüge. Was sie auch sagte, war falsch. Und wenn sie gar nichts sagte, dann war auch das falsch. Sie versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, aber dann war ihr doch ungewollt ein kleiner Schluchzer entwichen. Außerdem musste sie sich unbedingt die Nase putzen.

»Ach, wieder einmal Tränchen«, höhnte Rolf.

Er fuchtelte ihr mit dem Taschentuch, das er ihr aus der Hand gerissen hatte, vor dem Gesicht herum, und jedes Mal, wenn sie zugreifen wollte, dann zog er es mit einem boshaften Grinsen wieder weg.

Nun konnte Marlene nicht mehr an sich halten. Es war jetzt auch für die anderen deutlich zu hören, dass sie weinte. Sie konnte es nicht mehr verheimlichen.

»Also, was wird denn das nun hier? Du bist jetzt mal ganz still, du Heulsuse – und ihr anderen trampelt mir bloß nicht auf den Nerven herum. Und Du oller Schreihals, sei endlich still!«

Bei seinen letzten Worten hatte er sich zu Karsten umgewandt, dessen leises Wimmern zu Geschrei angeschwollen, immer lauter geworden war.

»Kannst ja noch nicht mal Papa sagen, du Heulboje!«, brüllte Rolf plötzlich los, schubste die Stühle um, dass es heftig polterte, riss den Kleinen seiner Großmutter vom Schoß, schwenkte ihn hoch über seinen Kopf – und warf ihn seiner Frau vor die Füße.

»Da hast du dein Balg, kannst ja mit ihm verschwinden!«

Angesichts dieser Szene reagierten alle unterschiedlich.

Marlene war starr vor Schreck, hob erst Sekunden später ihren Karsten vom Boden auf und schaukelte ihn, leise und beruhigend auf ihn einredend.

Marion beschimpfte ihren Bruder. Ilona greinte, dass doch nun alle endlich vernünftig sein sollten. Renate, die Respektsperson, war erschrocken aufgesprungen, als sie die Mutter sah, die schreiend und mit erhobenen Fäusten (Vergeh dich nicht an deinem eigenen Kinde!) auf ihren Sohn zustürzte. Die beiden jüngeren Schwestern kamen der Großen zu Hilfe. Sie konnten ihre Mutter erst in letzter Minute daran hindern, wild auf ihren Sohn einzuschlagen.

Dieses Szenario hatte neben all dem Schrecklichen auch etwas Groteskes gehabt, denn Rolf überragte seine Mutter um mehr als zwei Haupteslängen.

*

Ja, spätestens damals hätte sie sich von diesem ihrem ersten Mann trennen müssen, das war ihr längst klar geworden.

Aber sie hatte gezögert und gezögert, bis es wieder zu spät war.

Irgendwann war ihr wieder dieses seitlich Ziehen in den Brüsten aufgefallen. Ihre Regel war auch ausgeblieben. Untrügliche Zeichen für eine erneute Schwangerschaft. Ein paar Tage später hatte der Frauenarzt ihre Vermutung bestätigt.

Wieder hatte Marlene den eindringlichen Worten ihres Mannes geglaubt, als er sie inständig bat: »Bleib bei mir, ich werde mich ändern! Jetzt, wo wir ein zweites Kind bekommen, kannst du mich doch nicht verlassen!«

Sie war geblieben. Jahrelang.

Lediglich der Einberufungsbefehl hatte etwas Erleichterung für alle gebracht. So konnte wenigstens die kleine Birgit in ihren ersten beiden Lebensjahren ohne Geschrei und Angst, ohne Prügelszenen aufwachsen.

Nur Karsten zeigte auffällig oft, dass er sein kleines Schwesterchen absolut nicht ausstehen konnte. Seine Eifersucht nahm ein Ausmaß an, das Marlene Angst machte. Als sie sich einmal beim Wickeln der Kleinen umgedreht hatte, um eine schmutzige Windel in den Eimer zu tun, nutzte der kleine Junge die Gelegenheit, seine ungeliebte Schwester vom Tisch zu schubsen. Seine Worte: »Die Ziege lacht bloß immer, die soll auch mal weinen!«, würde Marlene nie vergessen. Doch am allermeisten machte sie sich selbst Vorwürfe. Sie hätte als Mutter besser aufpassen müssen. Auf ihren Sohn und ihre Tochter!

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