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4. Nahtoderlebnis und Wahrsagerin

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»Wir verlieren sie!«, schrie jemand.

Marlene konnte den Sinn des Rufes und das, was danach geschah, nicht mehr erfassen, denn sie raste schon in einer unglaublichen Geschwindigkeit durch grellbunte Kreise, die sich gegeneinander verschoben wie bei einem Kaleidoskop.

Die schreienden Farben lösten sich ab mit beängstigender Finsternis, dann tauchten erneut bunte, bizarr tanzende Farbgebilde auf.

Marlene fühlte plötzlich, wie sie fortgerissen wurde, in wilder Fahrt durch einen grauen Tunnel raste, der nicht enden wollte. Eine nie gekannte Angst erfüllte sie.

Endlich ein helles Licht am Ende.

Die Angst verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.

Stattdessen wurde sie von einer Glückswoge überschwemmt, die sie so stark auch noch nie zuvor gefühlt hatte. Je näher sie dem gleißend hellen Licht kam, desto intensiver wurde das berauschende Glücksgefühl.

Ein Tunnel? Ein Licht? Was für ein Tunnel? Was für ein Licht? War sie wach – oder träumte sie?

Sie war nicht länger imstande, darüber nachzudenken, denn plötzlich wurde eine ganz andere Szene in ihrem Kopf lebendig …

*

Marlene war dreizehn Jahre alt und wieder einmal in einer neuen Schule. Wieder einmal war sie mit ihrer Pflegemutter und deren neuem Mann (»Franz der Fünfte«, wie sie ihn heimlich nannte) in eine Stadt gezogen, die sie, wie alle anderen vorher auch, nicht kannte. Immer wieder musste sie sich als »die Neue« behaupten. In der 7. Klasse schien das besonders schwierig zu sein.

Wie freute sie sich deshalb, als Lilli, eine Mitschülerin, sie schon nach ein paar Tagen gefragt hatte, ob sie nicht einmal gemeinsam etwas anstellen wollten.

Anstellen? Na klar! Und ob sie das wollte!

So waren sie also eines Tages nach einem ausgedehnten Stadtbummel gemeinsam auf einem Rummelplatz gelandet. Was gab es da alles zu sehen und zu hören! Herrlich! Die laute Musik und die leisere aus dem Leierkasten, das Schreien der Losverkäufer und vor allem das übermütige Lachen der Kinder auf den Karussells, in das sie beide bald mit einstimmten. Aber da sie kaum etwas ausließen, war ihr Taschengeld schnell zu einem winzigen Häufchen zusammengeschrumpft.

Ratlos schauten sie sich an. Eine versuchte in den Augen der anderen zu ergründen, was sie nun tun sollten.

»Noch einmal Riesenrad?«

»Oder vielleicht doch eher zur Wahrsagerin?«

Es wäre doch bestimmt nicht verkehrt zu wissen, was die Zukunft für sie bereithielt.

Lilli interessierte vor allem, ob wohl der Micha, dessen Eltern das Hotel am Park gehörte, ein wenig verliebt in sie sei.

Marlene dachte noch immer an ihren schwarzhaarigen Peter, ihre erste Kinderliebe aus der dritten Klasse in Dusterbusch. Sie war damals immer wieder hingerissen, wenn er ihre ewigen Schmalzschnitten öfter mal gegen ein Butterbrot und einen Apfel getauscht hatte. Aber das lag ja schon so lange zurück! Ob er wohl auch noch an sie dachte?

Fragende Blicke wurden getauscht. Mit einem Kichern bestätigten sie, dass sie beide dasselbe dachten. So geschah es dann, dass sie sich voller Herzklopfen im Zelt dieser hochinteressanten Dame wiederfanden. So sah also eine Hellseherin aus? Lachhaft! Die Mädchen stießen sich übermütig in die Seite.

Zugegeben, so sehr zum Lachen wirkte sie nicht, eher ein wenig zum Fürchten. Ihre Haut sah ein bisschen wie gegerbtes Leder aus, braun und von vielen Fältchen durchzogen. Von ihren Haaren lugte nur der schwarz glänzende Ansatz hervor, den Rest bedeckte ein malerisches Kopftuch mit vielen roten Rosen auf dunkelblauem Grund.

Zaghaft näherten sich die beiden Mädchen der Hellseherin.

Doch die wehrte mit einer Handbewegung ab und erklärte in gebrochenem Deutsch, dass zunächst nur eine von ihnen dableiben könne.

Schnick-schnack-schnuck? Na gut. Marlene gewann, und Lili zog schmollend ab.

Marlene war etwas mulmig zumute, aber sie wehrte sich nicht, als sie von der exotischen Frau sanft auf einen Hocker gedrückt wurde, der dem hohen Lehnsessel gegenüberstand, in dem die Zigeunerin gleich darauf selbst Platz nahm.

Nach dem Austausch von einigen Belanglosigkeiten übers Wetter nahm die bunt Gekleidete Marlenes Hand in ihre Linke und strich mit dem Zeigefinger nacheinander die einzelnen Linien nach. Plötzlich ließ sie die Mädchenhand fallen, als habe sie sich verbrannt.

Wie damals hatte Marlene auch jetzt wieder das Gefühl, dem besorgten Blick aus den fast schwarzen Augen der Frau zu begegnen.

Was hatte sie gefragt?

»Willst du ganze Wahrheit?«

Als das Mädchen zaghaft genickt hatte, zögerte auch die alte Zigeunerin.

Aber dann kamen die Worte doch, leise und in gebrochenem Deutsch.

»Nun, Kleines, du musst in Läben viel mähr als andere Leute kämpfen um alles. Um Liebe, Freindschaft, Glick, Gesundheit, selbst um nacktes Läben.«

Marlene ging das Gerede gehörig auf die Nerven. Nun hör schon auf mit dem Hokuspokus, dachte sie, kam aber nicht dazu, das Ganze abzubrechen, denn die Frau mit dem Rosenkopftuch sprach schnell weiter, als wolle sie es, einmal begonnen, nun auch rasch hinter sich bringen.

»Wenn du sein wirst dreißig, kommen schweres Unglick. Kann sein, Läben zu Ende … kann sein, muss aber nicht«, wiegelte sie gleich darauf ab, als sich die Bestürzung im Mädchengesicht abzeichnete.

»Wenn aber du richtig kämpfen, kann auch sein, du wirst gaaaaanz alt. Nur, leicht –, leicht wird Läben niemals!«

Sie war bei ihren Worten aufgestanden, zog Marlene vom Hocker hoch und umarmte sie fest.

Dann schob sie das Mädchen ein Stück von sich weg und lächelte, was ihr Gesicht von innen her zum Strahlen brachte. Sogleich darauf wieder ernst geworden, verabschiedete sie Marlene mit den Worten: »Mein Wunsch fir dich: Immer, wenn Katastrophe vorbai, dann musst du aufrichten dich – wie ein Stäh-auf-Männchen.«

*

Marlene erschauerte, als sie glaubte, den dunkelstimmigen Singsang der Frau und ihr eigenes helles, mädchenhaftes Lachen zu hören, das diesen eindringlichen Worten gefolgt war. Wahrsagerin!

Lilli hatte es vorgezogen, doch nicht mehr in deren Zelt zu gehen. Und ob der Micha sie nun ebenso mochte wie sie ihn, würde sie schon irgendwann auch noch selbst herausbekommen.

Die beiden Mädchen hatten sich noch lange ausgeschüttet vor Lachen – und sie hatten das Gehörte schon nach kurzer Zeit vergessen. So etwas konnte man ja schließlich nicht ernst nehmen.

Aber jetzt und hier, auf dieser wackligen Krankentrage, kam Marlene mit aller Deutlichkeit zum Bewusstsein, dass sie vor fünf Monaten ihren dreißigsten Geburtstag gefeiert hatte.

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