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9. Der Heimat ein Stück näher …

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Marlene schwebte zwischen Schlaf und Wachzustand, zwischen Traum und Wirklichkeit. Doch nichts davon drang in ihr Bewusstsein vor.

An manchen Tagen wusste sie nicht, wo ihr Bett stand oder in welcher Zeit sie lebte. Lebte? Nun ja, es war wohl eher so ein Dahindämmern … Wie lange dieser Zustand schon andauerte, hätte sie am allerwenigsten zu sagen vermocht.

Aber eines Tages hörte sie jemanden rufen: »Frau Altmann! Frau Altmann!«

Die Stimme brauchte lange, um zu ihr vorzudringen. War das ihr nicht eigener Name?

Wo war sie denn überhaupt? Sie spürte ihre Beine, die von etwas Festem umschlossen waren. Sie spürte ihren linken Arm, der hoch oben jemandem zu winken schien. Die ganze Szenerie war wie unter einem Schleier verborgen.

Ganz langsam wurde der Schleier wie durch Geisterhand fortgenommen, eine grelle Helligkeit blendete sie – und von einem Moment zum anderen fiel ihr alles wieder ein: der Unfall, der Krankenwagen, die Ärzte, das Krankenhaus, die Kinder und Jürgen, die alte Oma mit dem Rüschennachthemd.

Immer nur Bruchstücke, aber sie hatte das Gefühl, dass diese sich bald zu einem erkennbaren Mosaikbild zusammensetzen würden. Wie lange war sie schon hier?

Ihr Blick fiel auf eine Gruppe von Weißkitteln an ihrem Bett. Was wollten sie von ihr?

So langsam schien es ihr wieder zu dämmern: War das nicht der Chef? Der Väterliche? Er hatte etwas in der Hand, das aussah wie ein Bogen Papier auf einem Klemmbrett. Aha, ein Krankenblatt.

Er zeigte es herum, wies da und dort auf eine Eintragung und erläuterte den anderen seine Meinung. Sie verstand nichts von den Fachbegriffen, nicht einmal akustisch.

Doch dass es sich bei dem, was da ablief, um die Visite handelte, wurde ihr selbst in ihrem Dämmerzustand zwischen Traum und Wirklichkeit klar.

Der Chef nickte in die Runde und sagte dann laut und überdeutlich: »Gut, riskieren wir es!«

Mit einem Schlag war Marlene hellwach. Sie wollte wissen, was es zu riskieren gab. Sie schaute dem Arzt gespannt ins Gesicht.

»Frau Altmann, ich stelle Ihnen jetzt eine Frage. Wollen Sie diese mit Ja beantworten, schließen Sie bitte ganz schnell mehrmals hintereinander das rechte Auge. Wollen Sie mit Nein antworten, schließen Sie es nur einmal, ganz langsam.«

Wäre es nicht einfacher gewesen, einfach zu nicken oder den Kopf zu schütteln? Dann fiel ihr ein, dass das ohne Schmerzen wohl doch noch nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre, und nahm sich vor, seine Anweisungen strikt zu befolgen.

»Also: Wir könnten Sie heute nach Schwarzwasser ins dortige Kreiskrankenhaus verlegen. Die medizinische Versorgung ist jetzt dort so gut wie hier gesichert.«

Heiße Röte stieg Marlene ins Gesicht. Als der Chefarzt es bemerkte, schmunzelte er.

»Würde Ihnen das gefallen?«

Was für eine Frage! Schnell öffnete und schloss sie ihr rechtes Auge. So einfach kann Verständigung ohne Worte funktionieren.

Fast alle aus der »weißen Wolke« schauten sie mitfühlend an, die meisten lächelten. Dieses Lächeln wärmte Marlene noch lange, auch, nachdem Ärzte und Schwestern schon längst das Zimmer verlassen hatten.

Kurz darauf kamen zwei andere Männer in weißen Kitteln herein und gaben sich als Krankenpfleger zu erkennen.

»Jetzt packen wir Ihre Siebensachen zusammen und dann fahren wir mit dem Bett nach unten«, erfuhren Marlene und ihre stumme Bettnachbarin.

»Ach, das ist ja gar nicht schön«, meldete sich Letztere jetzt zu Wort, »dass Sie mich verlassen.«

Sie hat also doch eine Stimme, dachte Marlene, während sie die Frau im Rüschenhemd verwundert anschaute. Diese saß aufrecht im Bett und beobachtete jeden Handgriff der Krankenpfleger.

Wie ein Habicht auf Beutesuche, dachte Marlene – und war einen Moment lang sogar froh, nicht sprechen zu können.

Im Nu waren ihre paar Habseligkeiten in der großen Reisetasche verstaut, die Jürgen mitgebracht haben musste.

Stift und Block hielt Marlene jedoch noch krampfhaft fest. Von der Habichtfrau verabschiedete sie sich mit einem kaum sichtbaren Neigen des Kopfes, bevor sie mitsamt dem Bett aus der Tür geschoben wurde.

Ihre Fahrt führte durch lange Flure unter schier unendlich hohen Decken entlang, vorbei an kalten, weiß getünchten Wänden.

Marlene vermisste Grünpflanzen.

Vor einem Zimmer entdeckte sie mit einem Mal doch recht viele Blumen. Sie waren zwar wahl- und lieblos in passende und unpassende Gefäße, meist Einweckgläser, gezwängt worden, aber immerhin. Eine junge Frau im blau karierten Kittel nahm gleich mehrere von diesen provisorischen Blumenvasen auf und trug sie ins Zimmer. Mit vielstimmigem Hallo und Männerlachen wurde sie dort empfangen.

Jenes Lachen reichte aus, in Marlene wieder diese unbestimmte Sehnsucht zu wecken: nach Lebenslust, Freude und vor allem nach Liebe. Sie nahm das neu erwachte Gefühl in ihrem Bauch fröhlich zur Kenntnis.

Ein Fahrstuhl hielt mit ratterndem Getöse. Im Inneren konnte Marlene sogar mit ihrem einen Auge ein paar Sprüche an der Wandverkleidung entziffern, die einen harmlos, andere wiederum so abstoßend und gemein, dass es ihr die Schamesröte ins Gesicht trieb.

Die beiden Krankenpfleger achteten nicht auf die Sprüche und nicht auf Marlenes Schamesröte. Sie unterhielten sich.

»Heute kann ich meine Urlaubsfotos abholen. Bin gespannt, wie sie geworden sind.«

»Na, wie im vorigen Jahr«, sagte der andere und lachte, »da hatte deine Holde keinen Kopf, aber sonst war alles dran. Den Kindern fehlten dafür die Füße. Und du warst anscheinend gar nicht mit … ich habe dich jedenfalls nirgendwo gesehen.«

Der andere fand das anscheinend gar nicht witzig.

»Ich habe schließlich fotografiert … ach was soll’s. Schieb lieber mit, wir sind schon unten …«

Auf dem Hof wurden sie schon von zwei anderen Weißkitteln und einer schmalen Trage auf einem wackligen Fahrgestell erwartet.

»Auf drei!«

Die Männer wollten Marlene doch nicht etwa auf die Trage heben? Energisch gebot sie ihn mit einer Handbewegung Einhalt.

Sie wollte, nein, sie musste es allein schaffen. Unbedingt!

Die Männer verstanden sie ohne Worte.

Sie stützte sich auf den gesunden Arm, hob den Po an, warf das rechte Gipsbein mit aller Kraft auf die dicht herangeschobene Trage, atmete tief durch und versuchte anschließend, das linke Bein mühsam nachzuziehen. Die Männer hatten inzwischen ihren linken Arm aus der Schlinge befreit. Ein Schmerz durchfuhr Marlene, sie biss die Zähne zusammen – und …

Geschafft!

Na also, geht doch, dachte sie triumphierend, als sie mehr oder weniger unbeschadet auf der wackligen Räderpritsche angekommen war.

Die Männer sperrten ganz verdattert Mund und Nase auf und brachten das Gefährt vorsichtig in Bewegung.

Die Flügeltür am Heck des Krankenwagens stand weit offen. Der Fahrer stand rauchend daneben. Als er seine »Fracht« anrollen sah, nahm er einen letzten tiefen Zug, bevor er die Zigarette zu Boden warf und die Kippe notdürftig austrat.

»So, immer schön vorsichtig mit dem Mädel. Guckt mal, da ist was heruntergefallen.«

Das kümmerte aber die beiden Krankenpfleger nicht, sie waren damit beschäftigt, die Trage mitsamt der Schwerverletzten im Transportfahrzeug zu verankern. Der einäugige Blick der Patientin traf den des Fahrers, und der hob nicht nur einen lila Kugelschreiber und einen Schreibblock von der betonierten Zufahrt auf, sondern auch seine Kippe, die er in den Abfallkorb brachte.

Auf dem Rückweg las er, was in fast kindlicher Handschrift auf dem Block stand: Ich bin kein Gulasch!

Er reichte der jungen Frau den Block und den Stift, ohne zu fragen, welche Bewandtnis es mit dem seltsamen Satz hatte. Wozu auch, sie hätte ihm doch sowieso nicht antworten können.

Noch nicht.

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