Читать книгу Steh-auf-Frauchen - Monika Kunze - Страница 17
15. Bücher – gar nicht so verschieden
ОглавлениеWie fieberte sie nun ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus entgegen! Worauf warten die denn noch? Das fragte sie sich mit zunehmender Ungeduld.
Sie konnte doch schon prima mit zwei Unterarmstützen gehen!
Sie brachte es sogar bereits fertig, der Oma am Fenster den Po abzuwischen, wenn dieser ein Missgeschick passiert und die Schwester nicht schnell genug zur Stelle gewesen war.
Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben die Bibel ganz und gar ausgelesen – sowohl das Alte als auch das Neue Testament.
Das war ein völlig neues und sonderbares Erlebnis, denn sie hatte als Kind nur kurz den Religionsunterricht besuchen können. Deshalb wohl waren nur einige dieser wundersamen Geschichten, wie Jesus übers Wasser gelaufen war oder Kranke geheilt hatte, in ihrer Erinnerung haften geblieben. Ach ja, manchmal war sie mit kleinen, bunt schillernden Bildchen für ihre gute Mitarbeit im Religionsunterricht belohnt worden …
Doch was sie jetzt, als Dreißigjährige, in der Bibel vorfand, stimmte auch nicht im entferntesten mit dieser heiteren Gelassenheit ihrer Kindheitserinnerungen überein. Immer wieder las sie von Mord und Totschlag, von Ehebruch, Vergewaltigung und Klageliedern über das in Massen verströmte Blut ganzer Völker.
So schlecht sollten die Menschen gewesen sein? Das machte ihr Angst, und sie konnte die Geschichten einfach nicht glauben, obwohl sie es doch aus ihren eigenen Erfahrungen hätte besser wissen müssen …
Immer wieder hatte sie das dicke Buch mit dem goldenen Kreuz auf dem abgegriffenen Ledereinband auf die Bettdecke sinken lassen, nicht nur, weil es so schwer und das von Jürgen provisorisch zusammengebastelte Buch-Haltegestell unter der Last weggerutscht war, sondern weil sie ihre Tränen daran gehindert hatten weiterzulesen.
In so einem Moment war die Nachbarin zur Linken, die ihr die Bibel geborgt hatte, einmal aufgestanden, hatte sie mitleidig angeschaut und fast vorwurfsvoll gesagt: »Wenn ich gewusst hätte, was meine Bibel bei Ihnen für eine Wirkung hat, dann hätte ich sie Ihnen nicht mitbringen lassen.«
Doch als die Frau danach das Buch wieder an sich nehmen wollte, wischte Marlene tapfer die Tränen fort und bat sie, weiterlesen zu dürfen.
Die gichtkranken Finger der Frau lösten sich und überließen die Bibel weiterhin ihrer zeitweiligen Bettnachbarin. »Sehen Sie, auch Sie kommen nicht ohne die Heilige Schrift aus!«
Der unüberhörbare Triumph in der Stimme dieser Frau ließ Marlene nachdenklich verstummen. Sie tat so, als habe sie nichts gehört, las einfach weiter, obwohl es schwierig war. Oft war sie bedrückt und entsetzt über das Gelesene. Und doch fühlte sie, wie von der Bibel so nach und nach auch Kraft und Hoffnung auf sie übergingen, was sie mit Staunen und Dankbarkeit erfüllte.
Trotzdem lasen sich die Bücher von Erwin Strittmatter für sie sehr viel einfacher.
Der erste Teil seines Romans »Der Laden« war gerade herausgekommen, sie hatte ihn regelrecht verschlungen.
Strittmatter musste sich zu dieser Zeit schon mit den Thesen und Essays von Ralph Waldo Emerson angefreundet haben, denn er vertrat wie dieser amerikanische Philosoph inzwischen die Auffassung, dass Gott in allem, was es auf der Erde gibt, gegenwärtig ist, überall in der Natur, also auch in uns Menschen. In jedem von uns – auch, wenn das nicht immer gleich zu erkennen ist. Das war etwas, woran sie gern glauben mochte.
Marlene gab der Bettnachbarin das Buch der Bücher zurück, dankte ihr ehrlichen Herzens und nahm sich vor, sich so bald wie möglich selbst eine Bibel zu kaufen. Vorerst aber wollte sie gar kein Buch mehr in die Hand nehmen.
Sie wollte nur eines: endlich heim!
Und dann ging es plötzlich doch viel schneller als erwartet. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit, ihrem Mann Bescheid zu geben, dass sie nach Hause käme.
Die Stationsschwester hatte Marlene mitgeteilt, dass man ihr Bett bräuchte und sie deshalb entließe. Die weitere Behandlung könne auch ambulant fortgesetzt werden. Sie möge sich doch bitte in einer halben Stunde die Entlassungspapiere im Schwesternzimmer abholen.
Na, das war doch mal eine angenehme Überraschung! Selbst die lapidare Begründung klang Marlene noch wie Musik in den Ohren. Juhu, sie durfte nach Hause – alles andere war unwichtig!
Vor lauter Vorfreude fiel ihr der Abschied von den drei »Mitbewohnern« ihres Krankenzimmers leicht.
Sie wünschten einander alles Gute – und das war’s. Keine heftigen Umarmungen, kleine Tränen. Nicht einmal zum Winken drehte sich Marlene um, sie hob nur die Krücke und fuchtelte ein wenig damit herum, bevor sie die Tür von außen schloss.