Читать книгу Steh-auf-Frauchen - Monika Kunze - Страница 14

12. Besuch - unerwartet

Оглавление

Inzwischen war es Juni geworden.

Wie groß war die Freude, als sie ihrer Familie berichten konnte, dass der Gips von ihren Beinen bald abgenommen werden könnte.

In diesen Wochen hatten sie wirklich schon alle besucht: Birgit war mit der Schönberg-Oma aus dem Erzgebirge angereist, Karsten mit Jürgen aus Blocksdorf und ihr Nachkömmling Alex mit Oma und Opa aus dem Spreewald.

Ihr Mann kam natürlich auch allein ins Krankenhaus, nur die Abstände zwischen seinen Besuchen wurden immer größer.

*

An einem Sonntag, die Besuchszeit war schon fast zu Ende, klopfte es an die Krankenzimmertür. Ziemlich zaghaft.

Marlenes Besuch war schon weg, sonst hätte Jürgen womöglich noch den Bus verpasst. Auch die Enkeltochter der Fenster-Omi war gegangen, weil ihr Freund schon lange auf sie wartete. Bei den anderen beiden Frauen saß noch die liebe Verwandtschaft und tauschte Krankengeschichten aus. Marlene schnappte manchmal ein paar Worte auf und schmunzelte in sich hinein. Auch jetzt, denn es ging wieder einmal darum, wer nun die meisten Gallenkoliken in seinem Leben gehabt hatte und woher sie rührten.

»Alles reingefressener Ärger – und dann läuft eben eines Tages die Galle über«, schnappte Marlene die Weisheit einer fülligen, älteren Dame auf, die sich gerade daranmachte, ihre Bluse hochzuziehen, um die stattliche, rote Narbe ihrer eigenen Gallen-OP zu präsentieren.

Den unbekannten Mann an der Tür beachtete niemand. Marlene bemerkte, dass er sich suchend umschaute. Bei keiner der Frauen leuchtete auch nur das kleinste Fünkchen von Erkennen auf. Der Unbekannte schien sich nun doch endlich ein Herz zu fassen und fragte: »Frau Altmann?«

»Das bin ich. Bitte?«

»Ja, also hm, ich bringe Ihnen hier etwas.« Er kam langsam auf ihr Bett zu. »Ich musste unbedingt die Reise noch einmal machen, um zu sehen, wie es Ihnen geht.«

Seine Stimme war mit jedem Wort fester und sicherer geworden.

Sie sah ihn jetzt an. Etwas verständnislos. Dann dämmerte es ihr plötzlich. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen: Das musste der Fahrer sein! Der Fahrer des Tiefladers, von dem der Kranausleger heruntergerollt war.

Siedend heiß wurde ihr jetzt.

»Sie sind …«

»Ja«, kam er ihr zuvor, »ja, ich bin der unglückselige Fahrer. Ich weiß, dass ich mit meinem Besuch nichts ungeschehen machen kann. Aber Sie sollen wenigstens wissen, dass mir das alles sehr, sehr leidtut. Dreßler mein Name, Dreßler, Kurt.«

Marlene schaute dem Dreßler, dem Kurt, ins Gesicht. Er war nicht gerade ein Ausbund an Schönheit, aber als hässlich würde sie ihn auch nicht bezeichnen. Sein Kopfhaar war schon ein wenig dünn, doch sie schätzte ihn trotzdem erst auf Ende dreißig. Sein Blick war traurig, aber offen. Wie ein »leichtfertiger Louis«, wie ihre Oma Leute zu nennen pflegte, die mit sich und vor allem mit anderen nicht sorgsam umgingen, sah er jedenfalls nicht aus.

»Hier, für Ihren kleinen Sohn!« Der Mann in einfacher, aber sauberer brauner Stoffhose und etwas abgetragener Jacke legte leicht zitternd einen riesigen Plüschaffen auf das Fußende des Bettes.

Marlene spürte das Gewicht des Stofftiers so gut wie gar nicht.

»Und hier sind noch Handtücher. Die sind von der Firma.«

Er packte auch den kleinen Stapel Frotteetücher auf den Gips.

»Und meine Kinder, die haben vier Bilder gemalt, damit Sie sich freuen. Sie sind ganz fest überzeugt davon, dass Freude das beste Mittel ist, um gesund zu werden.« Die Zeichenblätter mit den Bildern hielt er ihr dicht vor den Kopf, ehe er sie ablegte. »Ach ja, und meine Frau hat zwei Gläser eingemachter Kirschen mitgegeben.« Bedächtig breitete er seine Schätze vor ihr aus.

Ihre Befürchtung, er würde auch die schweren Gläser noch auf dem Bett abzustellen versuchen, erwies sich als unbegründet. Er schob kurzerhand die Blumenvasen auf dem Nachttisch ein wenig beiseite, um Platz zu schaffen für seine Gaben.

Marlene fühlte sich hilflos. Was sollte sie nur tun? Was sagen?

»Oh, das war doch aber nicht nötig«, quälte sie sich eine Floskel ab und ärgerte sich im selben Moment, dass sie so pikiert mit ihm redete.

»Die Zeichnungen von den Kindern sind sehr hübsch. Wie viele haben Sie denn?«, fragte sie deshalb gleich darauf etwas teilnahmsvoller.

»Na, vier«, sagte der Besucher und nahm die Zeichnungen wieder auf, um sie ihr mit einer Geste entgegenzustrecken, die auf Marlene ebenso hilflos wirkte, wie sie sich selbst momentan vorkam.

»Ja, ich sehe schon«, erwiderte sie so freundlich, wie es ihr nur irgend möglich war, »aber ich meinte nicht, wie viele Zeichnungen, sondern wie viele Kinder!«

»Ja, eben auch vier. Vier Jungs!«

Es war Marlene so, als wolle sich in dem Gesicht des Mannes ein Lächeln breitmachen, das aus den Augen kam. Doch Kurt Dreßler bemühte sich ganz offensichtlich, das Lächeln zu unterdrücken. Vielleicht erschien es ihm ja unpassend, angesichts ihrer eingegipsten Gliedmaßen und überhaupt an diesem Ort.

Verlegen räusperte er sich, verstand wohl nicht, warum sie schwieg, und sprach kurz entschlossen weiter. »Jeder hat ein Bild für Sie gemalt.«

Sie nickte nur, sagte aber noch immer nichts dazu.

»Ist halt nicht so einfach, jetzt, wo ich in der Werkstatt bin. Na ja, ich hab doch keine Fahrerlaubnis mehr – nach dem, was vorgefallen ist. Ach, hätte ich mich bloß nicht breitschlagen lassen an dem verhängnisvollen Tag …« Ein tiefer Seufzer begleitete seine Worte.

»Wieso, war etwas Besonderes, dass Sie die Ladung nicht richtig festmachen konnten?« Ihre Worte sollten freundlich klingen, aber sie konnte es wohl nicht verhindern, dass eine gewisse Bitterkeit darin mitschwang. Trotzdem gelang es ihr schließlich doch noch, sich zu beherrschen und das heiß aufsteigende Gefühl, gleich weinen zu müssen, so zu unterdrücken, dass der Mann nichts davon bemerkte.

»Ach, wissen Sie, ich habe ja das Fahrzeug überhaupt nicht beladen. Ich bin nämlich erst am Vorabend gegen zehn von einer großen Tour zurückgekommen. Todmüde war ich und hungrig. War ja auch von morgens um vier an unterwegs gewesen.

Als ich heimkam, saß der Chef schon bei mir zu Hause in der Küche. Ich wusste sofort, dass er etwas Bestimmtes von mir wollte. Ohne dass ich etwas gefragt hätte, rückte er auch gleich mit der Sprache heraus. Er bat mich, am nächsten Morgen nach Blocksdorf zu fahren, mit einem Kranausleger, den sie dort angeblich dringend für eine Großreparatur brauchten. Hm, eigentlich fahre ich ja gar keinen Tieflader. Dafür war mein Kollege zuständig. Ich war an dem Abend jedoch so erschöpft, dass ich den Chef nur noch müde fragte, ob denn der Ausleger schon geladen sei. Klar doch, alles schon drauf, freute der sich. Denn er hatte sehr schnell begriffen, dass ich die Fahrt ganz bestimmt übernehmen würde, wenn ich schon nach der Ladung fragte. Ja, wissen Sie, ich war so müde, dass ich den Chef nur gefragt habe, ob der Ausleger schon beladen war. Das war wohl ein Fehler, weil er sofort angenommen hat, ich mach’s. Klar, hat er gesagt. Ich bräuchte nur loszufahren und fertig. Ich bin dann nicht mehr gucken gegangen, ob auch wirklich alles ordentlich festgemacht war.

Erst am nächsten Morgen habe ich an allen Verankerungen herumgerüttelt. Es war alles festgezurrt. Aber eben doch nicht so, wie es hätte sein müssen. Ich bin gefahren und gefahren. Von Magdeburg bis Blocksdorf bin ich ohne Schaden gekommen. Und dann, praktisch eine Nasenlänge vor dem Ziel, dem Kraftwerk, muss mir so etwas passieren!

Das soll keine Entschuldigung sein, ich wollte nur, dass Sie wissen, dass ich kein Trunkenbold oder etwas Ähnliches bin, der leichtfertig Menschenleben aufs Spiel setzt.«

Marlene hatte die ganze Zeit nur still zugehört, außerstande, auch nur die kleinste Zwischenfrage zu stellen. Während er sprach, hatten sich unendlich viele, kleine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet, die ihm nun, zu kleinen Rinnsalen zusammengeschlossen, übers Gesicht liefen.

Das war mit Sicherheit eine ungewohnt lange Rede für diesen einfachen Mann, der als treu sorgender Familienvater bestimmt oft (wie ihr eigener Mann) sechzehn Stunden hintereinander schuftete, um seine Familie über Wasser zu halten. Und jetzt so etwas! Für den halben Verdienst in der Werkstatt arbeiten, wo er doch sicherlich weite Strecken und abwechslungsreiche Fahrten gewöhnt war.

Er tat Marlene in der Seele leid. Sie beschloss, keinerlei Schadensersatzansprüche an Kurt Dreßler persönlich zu stellen, sollte es je zu einer Gerichtsverhandlung kommen. Höchstens Schmerzensgeld von der Firma oder so. Aber so weit wollte sie jetzt noch gar nicht vorausdenken.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir das alles so ausführlich erzählt haben«, sagte sie warmherzig und berührte leicht seinen Arm.

Das alles ausgerechnet mir, seinem Opfer, zu erzählen, muss ihn eine Menge Überwindung gekostet haben, vermutete sie, denn sie bemerkte, dass er rot wurde und sich mit einer verlegenen Handbewegung sein vom Schweiß feucht gewordenes, schütteres Haar glatt strich.

Als sie sich voneinander verabschiedeten, war ihr nicht so, als sei dieser Mann schuld an der ganzen Misere. Fast hatte sie das Gefühl, als würde sie ihn schon seit längerer Zeit kennen. Bevor er ging, versprach er noch, ihr zu schreiben.

Er hielt sein Versprechen. Es kamen ein paar freundliche, unbeholfene Briefe, in denen er sich nach ihrem Befinden erkundigte. Und er vergaß auch nie, sich nach ihrem kleinen Jungen zu erkundigen und ihn besonders herzlich zu grüßen.

Steh-auf-Frauchen

Подняться наверх