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1. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben

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Der Sand unter den Rädern des Kinderwagens knirschte, denn niemand hatte ihn seit dem Winter vom Gehweg gefegt. Marlene und Alex störte das wenig, denn sie genossen die frische Frühlingsluft.

Alex hatte sich diesmal sogar klaglos im Kinderwagen anschnallen lassen. Die Aussicht, den Papa von der Arbeit abholen zu dürfen, hatte ihn wohl seinen gewohnten Anti-Anschnall-Protest vergessen lassen.

Birgit und Karsten, Marlenes Kinder aus erster Ehe, waren noch in der Schule. Niemand ahnte in dem Moment, was ihnen dadurch erspart bleiben sollte. Auch Mutter und Sohn wären wohl besser daheimgeblieben …

Doch noch war alles um sie herum friedlich: Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, farbenfrohe Blüten lugten durch die Zäune der Vorgärten. Neben so viel Frühlingspracht hatten schlimme Befürchtungen einfach keinen Platz.

Alex quietschte vor Vergnügen. Marlene ließ sich von seiner guten Laune anstecken und schob den Kinderwagen fröhlich die Dorfstraße entlang, vorn bei der dicken Eiche um die Ecke. Heute störte es sie nicht einmal, dass es in dem kleinen Ort Blocksdorf nicht viel zu entdecken gab.

Die Gebäudekomplexe waren graue, vierstöckige Klötze, einst in aller Eile errichtet, um möglichst viele Leute aufnehmen zu können, die im nahe gelegenen Kraftwerk arbeiteten.

Die Großplattenbauten bildeten einen krassen Gegensatz zu den kleinen Bauerngehöften. Jene, aus rotbraunem Backstein ohne Putz, hatten etwas Strenges, aber auch Klares und Schönes an sich. Was Marlene jedoch immer wieder verwunderte: Ihre Bewohner schienen nicht gern Einblicke zu gewähren, denn die hohen, gewölbten Holztore waren fast immer verschlossen. Das wirkte nicht gerade einladend.

Seit drei Jahren wohnten sie nun schon hier. Die Kinder hatten sich schnell eingelebt, denn in der Schule waren die Neuen ohnehin in der Überzahl. Und Alex war ja erst knapp zwei Jahre auf der Welt, also in dem Sinne gar kein Zugezogener.

Doch weder Jürgen noch Marlene fühlten sich in der kleinen Neubauwohnung im vierten Stock richtig heimisch.

War das etwas, das sie selbst ändern konnten? Sie hofften es jedenfalls, denn die Lausitz gefiel ihnen. Schließlich wohnten sie – trotz Tagebau und Kraftwerk – in einer der waldreichsten Gegenden Deutschlands.

So hatten sie vor Kurzem angefangen, sich in der benachbarten Kreisstadt ein Haus zu bauen. Finanziell war das 1985 überhaupt kein Problem, denn die Abzahlungsrate für den Baukredit sollte ganze 78 Mark im Monat betragen. Problematischer hingegen war die Materialbeschaffung. Doch Jürgen und Marlene wollten sich nicht unterkriegen lassen. Ihre Devise hieß: Von nichts wird nichts – also Ärmel hochkrempeln und loslegen! Mitunter hieß das, sich morgens um vier nach Zement anzustellen, diesen dann im Fahrradanhänger zur Baustelle zu schaffen, tonnenweise Sand zu schippen und zu schwitzen.

Mit einem Auto war die junge Familie nicht gesegnet. Wie auch, betrugen doch damals, in der DDR, die Wartezeiten auf einen Trabant oder Wartburg mehr als ein Dutzend Jahre.

Unter diesen Umständen war Hausbau eben doch kein Zuckerschlecken. Um alles mussten sich die Bauwilligen, wie sie offiziell hießen, selbst kümmern. Für den nächsten Tag hatte Marlene kurzfristig Heizungsmonteure engagieren können, eine sogenannte Feierabendbrigade. Das hieß, die Bauherren (so stand es auf der Bautafel auf dem Grundstück), hatten außer für Essen und Trinken auch für Gas und Sauerstoff zum autogenen Schweißen zu sorgen. Marlene konnte sich Jürgens hochgezogene Augenbrauen lebhaft vorstellen, wenn sie ihn noch einmal losschicken musste, um die Flaschen aus dem Auslieferungslager zu besorgen. Sie würde ihm das so schonend wie möglich beibringen müssen.

Wenn ihr Mann in letzter Zeit immer öfter schimpfte, dass sie ja eigentlich gar keine Bauherren, sondern eher Bauknechte seien, dann gab sie ihm im Stillen Recht, verstand es aber trotzdem immer wieder, ihn zu besänftigen und zu motivieren. Marlene blieb optimistisch. Das schöne Wetter und die Aussicht auf den Baufortschritt würden heute das Ihre dazu beitragen, die Schimpfkanonaden ihres Mannes in Grenzen zu halten.

Als sie am letzten Haus vor dem Breiten Weg kurz stehen blieben, um die ersten bunten Tulpen und die blauen Traubenhyazinthen im Vorgarten zu bewundern, winkte eine alte Frau, die im Fenster lehnte, ihnen freundlich zu. Marlene hatte sie gar nicht gleich bemerkt. Alex winkte zurück und schrie begeistert: »Kuck, Bume!«

Ein breites Lächeln ließ tausend Fältchen im rotbackigen Apfelgesicht der Frau lebendig werden.

»Da hat der kleine Kerl auch seine Freude dran …«

Marlene nickte.

»Ja, wie wir alle, nicht wahr?«, sagte sie, »kein Wunder an so einem wunderschönen Frühlingstag wie heute!«

»Oje, oje, es ist nicht gut, den Tag vor dem Abend zu loben«, lamentierte die Frau plötzlich, und aus ihren Lachfältchen schienen von einem Moment zum anderen Sorgenfalten geworden zu sein. Ihr Lächeln hatte einem ängstlichen Gesichtsausdruck Platz gemacht. Die alte Frau nahm ihr Kissen vom Fenstersims und schlug eilig das Fenster zu.

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