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6. Schreiben statt sprechen
ОглавлениеAls Marlene erwachte, schämte sie sich für das Gefühl der Dankbarkeit, mit dem sie – vor langer Zeit? – in die Dunkelheit geglitten war.
Wo war sie? Sie nahm etwas Helles hinter ihren geschlossenen Lidern wahr. Licht? Neonlicht! Sie hörte die Röhre summen. Gott sei Dank! Sie lebte!
Mach die Augen auf!, befahl sie sich in Gedanken, doch das wollte nicht so recht klappen. Das Licht blieb weiter seltsam gedämpft. Hatte sie ein Laken über dem Kopf? Ihre linke Hand tastete ziellos umher, aber sie schaffte es wohl nicht allein, sich zu befreien …
Da kam jemand in leichten Sandalen herangetrippelt.
»Oh, Sie sind wach? Ich bin Schwester Christel. Sie hatten einen Unfall, oh, verzeihen Sie, jemand hat Sie bis oben hin zugedeckt. So, weg damit, jetzt ist es besser, hm?«
Der Redeschwall der Schwester klang wie Vogelgezwitscher.
Vorsichtig versuchte Marlene, die Augen noch ein wenig weiter zu öffnen. Aber nur das rechte Auge gehorchte, auf dem linken fühlte sie einen leichten Druck. Einen Verband?
Einäugig konnte sie erkennen, dass sie in einem hellen Raum lag, dass neben ihrem Bett so ein metallener Nachtschrank stand, wie es in Krankenhäusern üblich war. Dahinter entdeckte sie ein zweites Bett. Auch darin befand sich ein Wesen unter der Bettdecke. Nur ein Büschel grauer Haare lugte hervor. Aus der Tatsache, dass sich die Bettdecke gleichmäßig hob und senkte, schloss Marlene, dass dort jemand schlief.
Schließlich geriet die junge, blonde Schwester, die sie aufgedeckt hatte, ins Blickfeld ihres einen Auges. Als Marlene ihr Lächeln sah, wurde ihr plötzlich ganz warm ums Herz.
Dass inzwischen noch ein paar Ärzte ihr Bett umringten, bekam sie jetzt erst mit.
»Wie geht es Ihnen, Frau Altmann?«
Was sollte sie darauf antworten? Und vor allem: wie?
Das musste sich in dem Moment wohl auch der Arzt gefragt haben, denn er lächelte ihr freundlich zu, bevor er weitersprach.
»Sie hatten einen schweren Unfall. Ein Kranausleger ist von einem Tieflader heruntergerutscht … ach, ersparen wir uns und Ihnen erst einmal die Einzelheiten.«
Die anderen nickten und raunten.
Marlenes einäugiger Blick glitt an einem frisch gestärkten weißen Kittel empor bis zu einem Gesicht, das ihr auf Anhieb gefiel. Es gehörte zu einem Mann, der vielleicht zehn oder zwanzig Jahre älter war als sie. Seine Augen unter buschigen Brauen hatten eine undefinierbare Farbe, aber sie wirkten irgendwie weise und gütig. Diesen Eindruck verstärkte noch sein nicht besonders hochgewachsener, aber ziemlich kräftiger Körper. Sie hätte es mit nichts als einem vagen Gefühl begründen können, doch es war einfach so: Diesem Menschen vertraute Marlene sofort. Offenbar war sie noch immer auf Vatersuche. Trotz der vielen Väter, die ich hatte, dachte sie schon fast belustigt, schob aber den Gedanken gleich wieder beiseite.
»Alles ist aber noch recht glimpflich abgegangen …«, hörte sie den Arzt sagen.
Ein Satz mit sehr beruhigender Wirkung. So nahm sie auch gar nicht so bewusst auf, dass zuvor auch von einem Schädelbasisbruch, von etlichen Fissuren und Frakturen die Rede gewesen war.
»Der rechte Arm ist aber in Ordnung. Können Sie sprechen?«
Nie hätte Marlene es für möglich gehalten, wie schwer unter solchen Umständen allein schon der Versuch sein konnte, den Kopf zu schütteln. Ein jüngerer Arzt hatte es dennoch bemerkt und machte seinen Chef darauf aufmerksam.
Der nickte und fragte: »Schreiben? Ginge das?«
Ein mutiger, obgleich zaghafter, weil schmerzhafter Nick-Versuch. Es klappte wider Erwarten.
Sofort lief die kleine Schwester los, kam kurz darauf mit einem Stift und einem Schreibblock wieder. Sie war so schnell gelaufen, dass sich eine Strähne ihrer sorgfältig aufgesteckten Frisur gelöst hatte, was Schwester Christel jedoch keineswegs zu stören schien. Sie schien überhaupt oft und gern fröhlich zu sein.
Als Marlene den Stift nehmen wollte, kam es ihr vor, als sei ihre Hand eingeschlafen. Der Stift kullerte hinab auf den Fußboden. Schwester Christel hob ihn auf, drückte ihn Marlene wieder in die Hand, umschloss sanft ihre Finger. Ganz warm fühlte es sich an, als sie den Stift mit ihr gemeinsam einen Moment lang festhielt. Mit einem aufmunternden Lächeln ließ die Schwester langsam locker, bis Marlene den Kugelschreiber mit drei Fingern selbst halten konnte. Der Block wurde so an einem Ständer festgeklemmt, dass die Patientin gut herankam. Die Schwester blieb noch einen Moment an Marlenes Bett, während die kleine Ärztekarawane schon weitergezogen war, zum nächsten Bett. Von dort war leises Gemurmel zu hören. Oma Grauschopf war wohl aufgewacht.
Marlene kümmerte sich nicht weiter darum, sie hatte ja etwas viel Wichtigeres zu tun! Sie wollte und musste etwas Lesbares aufs Papier bringen. Nichts war jetzt wichtiger als dieser Schreibversuch. Schließlich war es geschafft! Blau und krakelig stand auf dem grauen Kästchenpapier: Wie geht es meinem Sohn?
Schwester Christel nickte verständnisvoll und kräuselte die Lippen, strich sich nun doch die vorwitzige Haarsträhne zurück und steckte sie fest, bevor sie antwortete.
»Es geht ihm gut«, sagte sie, »soviel ich weiß, ist er nicht ernsthaft verletzt …«
Marlene hörte nicht mehr weiter zu, ihre Hand war schon wieder am Schreiben.
Es ging schon viel besser als beim ersten Versuch, und man konnte schon richtig gut lesen, was dort stand.
Ich muss ihn sehen! Sofort!
»Was? Jetzt? Das wird nicht so einfach gehen, es ist doch schon spät …«
Ein gewisser Unmut war aus ihrer Stimme heraus zu hören. Aber als sich ihrer beider Blicke trafen, lenkte Schwester Christel schnell ein.
»Gut, Frau Altmann, ich werde fragen, was sich da machen lässt.«
Nach einer Weile kam Schwester Christel zurück, strahlte wie eine Sonne und rief schon von der Tür aus ins Zimmer: »Ihr kleiner Sohn kann doch noch geholt werden!«
Marlene wurde es gleich etwas leichter ums Herz.
»Ihr Mann kommt natürlich auch mit!«
Mit einer Miene, als sei es einzig und allein ihr Verdienst, dass nun doch noch alles so reibungslos klappte, ergänzte sie: »Wir fahren die beiden dann natürlich auch wieder nach Hause!«
Natürlich. Kein Wort mehr davon, dass es doch schon spät sei und man doch nicht so ohne Weiteres …
Marlene mochte, wie jeder andere Mensch auch, gewiss ihre Fehler haben, aber nachtragend war sie noch nie gewesen. Deshalb überließ sie sich dem herrlichen Gefühl der Freude auf den Besuch … und einer wohligen Müdigkeit. Doch zuvor schrieb sie noch ein Wort auf ihren Block.
DANKE!
Schwester Christel las es, lächelte, nickte den beiden Frauen zu und verließ das Krankenzimmer.
Für Marlene genügte ein Blick zur Nachbarin, um zu wissen, dass die von all dem nichts bemerkt hatte, denn sie schlummerte schon längst wieder in Morpheus Armen.