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10. Unerhörter Gesprächsstoff
ОглавлениеMarlenes schwerer Unfall war auch nach Wochen noch Stadtgespräch in Schwarzwasser, natürlich auch in der Klinik. In einem Vierbettzimmer saßen drei Frauen hoch aufgerichtet in ihren Betten, hatten aufgehört zu tuscheln und schauten erwartungsvoll zur Tür. Doch von dem angekündigten Neuzugang war noch immer nichts zu sehen. Aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis auch das vierte Bett in ihrem Zimmer belegt sein würde.
Als Marlene auf der wackligen Krankentrage durch den Flur gerollt wurde, standen mehr Patienten als sonst Spalier.
Hinter vorgehaltener Hand raunten sie sich zu, dass sie ja so fruchtbar nun auch wieder nicht aussähe … hm, wer weiß, wenn erst der Verband vom Auge entfernt werden würde … ob es womöglich tatsächlich nicht mehr in seiner Höhle sei?
Marlene war das Raunen und Wispern der Leute äußerst unangenehm, fast wie am Unfalltag Ende April.
Sie schloss die Augen, während sie noch immer einen langen Flur entlanggeschoben wurde. So sah sie zwar nicht die vielen Gestalten, was aber nicht hieß, dass sie nicht gesehen wurde.
Auch den Stimmen entging sie dadurch keineswegs.
»Das war ja innerhalb einer Woche schon der zweite Unfall in Blocksdorf!«
»Klar, auch mit Schädelbasisbruch und allem Drum und Dran …«
Es waren Männer, die genüsslich auch noch so manches andere Detail aus den beiden Unglücksfällen erörtern würden. In dem Punkt war sich Marlene fast sicher.
Und da heißt es immer, dass nur Frauen gerne tratschen, dachte sie und öffnete die Augen. Über den kleinen, aber unverkennbaren Anflug von Heiterkeit, den die beiden Gestalten in ihren abgewetzten Bademänteln in ihr auslösten, war sie selbst überrascht.
Dass sie durch den Unfall zu einer Art Berühmtheit in dieser Region geworden war, interessierte sie kaum. Sie wollte nur so schnell wie möglich gesund werden.
Rumms! Was war das? Sie war mit der mobilen Trage gegen eine Zimmertür gestoßen. Von drinnen riefen mehrere fröhliche Stimmen »Herein!«
Einer der Pfleger öffnete die Tür. Marlene wurde ins Zimmer geschoben und sofort in ihr frisch bezogenes Bett gehoben. Sie war recht dankbar dafür, denn ein zweites Mal, von einer Liege auf die andere? Wer weiß, ob sie das geschafft hätte. Kaum hatte sie sich ins Kissen sinken lassen, hörte sie ein kratziges »Guten Tag«. Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen! Das war doch ihre eigene Stimme? Sie konnte sprechen?
Das wollte sie gleich noch einmal probieren.
»Guten Tag – oh mein Gott, ich kann ja sprechen!«
Ihre Worte schallten wie ein Jubelschrei durch den Raum.
»Guten Tag!«, schallte es gleich dreifach zurück, begleitet von fröhlichem Gelächter.
Die Krankenpfleger zwinkerten Marlene und auch der inzwischen eingetroffenen Schwester zu und ließen sich von der guten Stimmung anstecken.
Eine kleine, dünne Oma, hinten rechts am Fenster, fasste sich als Erste wieder und fragte trocken: »Wieso, waren Sie taubstumm?«
Der Schalk in ihren Augen war nicht zu vergleichen mit dem Habichtblick ihrer Bettnachbarin aus der vorigen Klinik. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über Marlenes Gesicht, aber dann verließ sie die Kraft …
Was wohl die Kinder und Jürgen sagen würden, wenn sie wüssten, dass sie schon sprechen und sogar lachen konnte? Bei diesem Gedanken fühlte sie, wie sich das Lächeln wieder auf ihrem Gesicht breitmachte.
Die andere Frauen im Zimmer bemerkten erstaunt, dass die junge Frau selbst im Schlaf noch ein Weilchen lächelte.