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Kapitel 20

Als ich am Montag den Lift in mein Büro nahm, ließ ich die Blicke des gemeinen Fußvolkes auf mich wirken. Ängstlich und doch ein wenig gierig die Weibchen, eingeschüchtert und abgeneigt die Männchen. Zu sagen trauten sie sich allesamt nichts, außer des üblichen Guten-Tag-Gestammels. Dabei befanden sich unter den Weibchen durchaus ein paar Leckerbissen. Doch für mich waren sämtliche Mitarbeiterinnen tabu. Auch dies war ein Beweis dafür, dass der Pick-up-Artist ein anderer war und ich mich sehr gut im Griff hatte.

Es war ein Tag im November, kurz vor Allerheiligen, an dem meine Eltern zum Friedhof fahren wollten, um die Gräber der verstorbenen Großeltern neu zu bepflanzen und hübsch herzurichten. Ich hatte keine Lust, sie zu begleiten und blieb alleine zu Hause.

Zwei weibliche Polizisten waren es, die an diesem Tag an meiner Tür klingelten. Ein SUV hatte zu einem riskanten Überholmanöver angesetzt, als ihm das Auto meiner Eltern entgegenkam. Unser alter Golf hatte dem Zusammenprall nichts entgegenzusetzen. Meine Eltern waren auf der Stelle tot. Die Polizistinnen halfen mir, meine Tasche zu packen und brachten mich in das Kinderheim.

Zur Wochenmitte kehrte die Unruhe zurück. Der Gedanke, dass Isabell zwischenzeitlich andere Kunden bedienen könnte, gefiel mir absolut nicht. Wie jedoch konnte ich sichergehen, dass sie es nicht tat? Ihr erstes Mal hatte sie hinter sich gebracht. Jetzt war es nur noch ein kleiner Schritt, die Sache zu wiederholen. Sie hatte sehr bestimmt gewirkt, als sie das letzte Mal ohne Schuhe unter der Laterne gestanden hatte. Ich wollte auf keinen Fall, dass irgendein Kerl sie berührte. Sie war meine Beute. Mein Rohdiamant! Allein der Gedanke, sie mit jemandem zu teilen, machte mich wütend. Die Runden, die ich ihretwegen allabendlich durch die Stadt drehte, waren erfolglos. Isabell war unauffindbar. Schon wieder.

Ich verlebte eine wunderbare, unbeschwerte Woche. Ein Tag war sommerlicher als der andere. Ich schwamm im Fluss oder lief barfuß durch den Wald. Einmal war ich sogar in die Stadt gelaufen, um mir ein Sommerkleid zu kaufen. Ein nagelneues Sommerkleid!

Jeden Abend zündete ich das Lagerfeuer an und bereite mir ein feines Essen zu. Ich konnte aus dem Vollen schöpfen.

Das Erlebnis mit Freier Nummer eins versuchte ich, nicht in den Vordergrund drängen zu lassen. Ich dachte an das Geld und an meinen Wunsch für die Zukunft. Ich wollte mich nicht traumatisieren lassen und ich war in diesen Jahren stark genug geworden, um dies auch hinzubekommen.

Je älter ich wurde, desto einfacher gelangte ich an kleine Jobs. In den Supermärkten waren immer Gelegenheitsarbeiten ausgehängt. Die Leute hefteten ihre Notizen an die Wand hinter der Kasse. Anfangs verdiente ich mein weniges Geld mit dem Ausführen fremder Hunde. Das trauten die Menschen einer Zehnjährigen bereits zu. Bald kamen Babysitterdienste hinzu. Mit fünfzehn konnte ich Nachhilfe erteilen und stundenweise die Tische im Fastfoodladen abräumen.

Ich war gezwungen, rasch zu lernen, mir mein Geld einzuteilen. Schulhefte, Stifte, ein Stück Seife, eine neue Wertkarte für mein Telefon. Dies waren neben der Nahrung meine hauptsächlichen Ausgaben. Die Kleidung sammelte ich ausschließlich aus den Containern.

Es gab jedoch Situationen, die mich in die Enge trieben. Schulreisen waren nur ein Beispiel dafür. Ich konnte mir die Klassenfahrten einfach nicht leisten. So viel Erspartes hatte ich nie auf der Seite. Ich war eine gute Schauspielerin geworden. Die Lehrer glaubten mir, dass ich aufgrund des Unfalltodes meiner Eltern panische Angst vor Autos entwickelt hatte. Keiner ahnte jemals, wie gerne ich an den Ausflügen teilgenommen hätte. Ich lebte in einer andauernden Lüge.

Feierte ein Mädchen meiner Klasse ihren Geburtstag und lud mich ein, hatte ich stets eine Ausrede. Es war unmöglich, zuzugeben, dass ich kein Geschenk kaufen konnte. Irgendwann hörten die Einladungen auf. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste mich selbst zur Außenseiterin machen. Ich durfte nicht auffliegen.

Meine Lehrer hatten die Unterschrift meiner Tante nie zu Gesicht bekommen. Sie sahen immer nur jene, die ich fälschte. Da ich jedoch eine gute Schülerin war, wurde es nie nötig, meine Erziehungsberechtigte persönlich vorzuladen.

Ich hatte das Glück, nicht allzu schnell zu wachsen. In meiner Freizeit war es egal, wie ich angezogen war. Die verbrachte ich ohnehin alleine am Ufer des Flusses. Allerdings hatten wir in der Schule eine verpflichtende Uniform, die alle Kinder einheitlich zu tragen hatten. Hier ergab sich für mich ein echtes finanzielles Problem. Ich musste lange sparen, um mir eine neue Schuluniform leisten zu können. Gott sei Dank wuchsen andere Mädchen schneller und hatten auf ihre Schulkleidung gut aufgepasst. So konnte ich deren gebrauchte Uniformen günstig erwerben und ich tat dies immer um mindestens eine Nummer zu groß.

Es ging sogar so weit, dass ich in der Schule erzählte, dass ich zu Hause geschimpft worden war, weil ich meine Zahnspange in der Nacht nicht getragen hatte. Ich hatte natürlich keine Zahnspange und glücklicherweise gerade Zähne. Die Geschichte diente der reinen Tarnung. So versuchte ich, vorzutäuschen, dass ich in einem Zuhause mit einer fürsorglichen Erwachsenen lebte.

Die Winter waren schwieriger als die Sommer. Auch wenn in meiner Stadt nie Schnee lag und die Temperaturen nur sehr selten unter null fielen, kostete es viel Überwindung. im Fluss zu baden und die saubere, aber oft noch feuchte Schuluniform anzuziehen.

Am schlimmsten war es, wenn ich krank wurde. Für mich gab es keinen Arzt und keine Medizin. Ich war ein obdachloses Kind, das in seiner Höhle darauf hoffte, von alleine wieder gesund zu werden. Wenn ich zu schwach war, um mir Nahrung zu beschaffen, dann gab es auch keine. Das Wasser im Fluss konnte ich nicht trinken. Ich füllte mir meine Flaschen an öffentlichen Toiletten auf. Doch auch das war nur möglich, wenn ich bei Kräften war.

Auf diese Weise kämpfte ich mich durch die Jahre. Ich konnte von Glück sprechen, dass ich in einer individualistischen Gesellschaft lebte, in der sich die Menschen wenig um andere kümmerten. Dadurch konnte ich unentdeckt bleiben.

Ich ließ mich zurück ins Gras fallen. Ich hatte mit den Jahren gelernt, die Zeit mit mir alleine zu verbringen. Auch wenn ich es mir anders wünschte. Ich lag auf dem Rücken und blickte in den Himmel, wo die untergehende Sonne die Wolken in ihr sanftes Licht tauchte.

Ich verließ das Büro am späten Nachmittag. Ich wollte auf meiner Terrasse im Schein der Abendsonne eine Schwimmeinheit absolvieren. Vielleicht würde ich später noch auf ein Bier ins »Cult« fahren und bei der Gelegenheit eine Runde um die Laterne drehen.

Die Gedankenspirale wollte nicht aufhören, sich zu drehen. Isabell tauchte ständig auf. Im Büro, im Auto, beim Essen, beim Sport und im Bett am allermeisten.

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