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Hanah: Russische Tundra

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Hanah hatte sich mittlerweile an das Übertreten der Grenze gewöhnt und auch an die komische Schale und das Radio, mit dem sie den Wetterbericht abfangen konnten. In den letzten drei Jahren war sie oft an dieser Stelle im Wald gewesen, bis Less ihr gezeigt hatte, dass sie auch von jedem anderen beliebigen Punkt hinter der Grenze die Funkwellen empfangen konnte. Aber er schärfte ihr trotzdem immer etwas wichtiges ein: Der Wald bot ihnen Sicherheit. Jedoch machte sich Hanah darüber im Moment keine Gedanken.

Ihre Mutter würde wieder heiraten und Hanah fühlte sich noch nicht bereit für diese Veränderung. Und obwohl sie Bileam schätzte, machten sie die Gedanken darüber unruhig.

Deshalb suchte sie ein wenig Ruhe und Abgeschiedenheit, Plätze, an denen sie für sich sein und frei atmen konnte. Den einzigen, den sie im Moment an sie heran ließ, war Less.

Sie bewunderte ihn für seine Leidenschaft und seinen unendlichen Optimismus. Immer wenn sie ihn sah, lächelte er und sein ganzer Körper sprühte von Energie. Ebenso wie sie, zog er manchmal die Einsamkeit der Gesellschaft vor. Hanah vermisste seine offene Art ihr gegenüber, die er gezeigt hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Manchmal wünschte sie sich, er würde sie auf den Arm nehmen wie früher.

Dennoch durchstreiften sie gemeinsam die Wälder, oft schweigend, nur begleitet vom Gemurmel des fernen Flusses. Hanah kannte die Umgebung nun wie ihre Westentasche und Less hatte ihr mehr beigebracht, als der theoretische Unterricht in der Schule es jemals vermocht hätte.

Wenn die Lachse zum Laichen den Fluss hinauf schwammen, ging er mit ihr dorthin und sie kamen mit einer riesigen Ladung Fische zurück. Und sie hatten einen Bären erlegt. Less verstand sich auf das Jagen ebenso gut wie auf das Fischen. Trotzdem mied er das Wasser.

Less' behütete Kindheit war in dem Moment vorbei gewesen, als er Mutter und Vater an einem einzigen Tag verlor. Die Sieldung schützte nicht immer vor den Gefahren, die die Natur mit sich brachte. Man konnte sie nicht kontrollieren, ihr nicht Einhalt gebieten, so wie Less es an jenem Tag gerne getan hätte.

Nachdem es in einem Sommer tagelang geregnet und geschneit hatte, waren seine Eltern mit ihm und ein paar anderen Leuten zum Fluss gefahren, dessen Strömung stärker war, als die Monate zuvor. Doch das hinderte nicht jeden daran, den Fluss an einer seichten Stelle überqueren zu wollen, um auf der anderen Seite, tiefer im Wald, jagen zu können. Sein Vater rutschte vor seinen Augen ins Wasser und als seine Mutter ihm ihre Hand zur Hilfe hinstreckte, wurden sie beide mit der Flut davongerissen. Man versuchte, den beiden zu helfen, aber nach wenigen Sekunden verschluckte sie die Strömung und man sah sie nie wieder. Ein paar Tage später senkte sich der Wasserpegel.Seitdem hatte es solch eine Flut nicht mehr gegeben.

Murray MacGrory, einer der Wissenschaflter, nahm Less auf. Er hatte keine eigenen Kinder und Less tat ihm leid. So wuchs er heran, immer begleitet von der wachen Intelligenz des schottischen Wissenschaftlers. Und von seiner Ironie.

Mit fünfzehn Jahren beschloss Less dann, dass er niemals eine Karriere als Jäger, Lehrer, Sammler oder Wissenschaftler einschlagen würde. Er wollte auch nicht in den Gewächshäusern arbeiten oder irgendetwas Handwerkliches verrichten. Die Schule lag ihm nicht, also ging er auch nicht mehr hin. Natürlich ohne Murray etwas davon zu sagen. Das alles reizte ihn nicht und er bekam das Gefühl nicht los, dass eine andere Bestimmung auf ihn wartete.

Also stahl er sich eines Nachts Murrays Schlüssel zum Labor, nahm sich ein Radio und einen Satellitenempfänger und machte sich durch das Dunkel auf zur Grenze. Dort baute er alles auf gut Glück zusammen und werkelte so lange daran herum, bis ein Ton aus den Lausprechern des Radios kam.

Daraus hörte er Dinge, die er nicht verstand. Berichte aus fernen Ländern, dessen Namen er nicht einmal kannte – weil er ja beschlossen hatte, die Schule nicht länger zu besuchen.

Aber eines verstand er: Wenn sie über das Wetter sprachen. Es waren nur vage Aussagen über das Klima im Norden – denn so viel wusste Less, dass sie im Norden wohnten – und trotzdem versuchte er, seine Notizen darüber so genau wie möglich zu formulieren.

Er hörte die ganze Nacht Radio und schrieb alles auf, was mit dem Wetter zu tun hatte.

Als im Osten die Sonne aufging, wanderte er zurück ins Dorf und erwartete ein furchtbares Donnerwetter von Murray, der schon längst bemerkt haben musste, dass sein Schützling des Nachts nicht in seinem Bett geschlafen hatte.

Doch zu Less' Überraschung verzog Murray nur lässig das Gesicht, als ob er gleich an einer dicken Zigarre ziehen und dazu einen Schluck Whiskey trinken würde, und sagte: »Na endlich haben wir einen Wetterfrosch.«

Und Less blieb der Wetterfrosch. Auch wenn seine Aussagen nicht immer hundertprozentig korrekt waren, denn sie basierten schließlich nur auf Berichten wie: »Im Norden wird es wieder einmal stetig kälter«, oder »Wir können froh sein, dass wir gerade nicht auf der Nordhalbkugel sind, denn da wird es in den nächsten Wochen wirklich ungemütlich«. Jedoch war jeder dankbar über die kleinsten Hinweise, die Wetterveränderungen voraussagten.

Manchmal schüttelten die Leute den Kopf, wenn sie Less früh morgens aus dem Haus kommen und erst spät wieder zurückkehren sahen. Sie konnten nicht verstehen, warum er so oft alleine dort draußen saß, wo völlige Stille herrschte, und den Stimmen im Radio lauschte.

Hanah wusste jedoch, dass es noch viel mehr gab als das Wetter. Es gab Nachrichten und Less wusste nun Bescheid über die Länder, von denen sie im Radio sprachen, er hatte ihr sogar auf der Karte gezeigt, wo sie sich befanden. Sie hatte es in der Schule gelernt, aber das war schon lange her. Außerdem brauchte man dieses Wissen hier nicht. Es war unwichtig für das tägliche Leben.

Umso mehr verstand Hanah, warum Less immer wieder dort hinausging. Das Radio zeigte ihm ganz deutlich, dass sie nicht vollkommen von der Welt abgeschnitten lebten. Dass es da noch andere Menschen gab, mit anderen Problemen und andere Dinge, mit denen sie sich beschäftigten.

Sie sah das Leuchten in seinen Augen, wenn die Menschen im Radio von Politik berichteten oder Sport und sie bemerkte auch, wie unruhig er dann wurde.

Vielleicht würde er bald gehen. Vielleicht würde er eines Morgens einfach nicht mehr da sein und sich stattdessen die Welt da draußen ansehen.

Sie saßen ein paar Meter hinter der Grenze am Rande eines Wal-des. Vor ihnen erstreckte sich ein weiter, zugefrorener See und hoch in der Luft umkreisten sie ein paar Vögel, suchten nach Mäusen oder anderen Kleintieren.

Less hatte eine Decke ausgebreitet, es gab Tee und kaltes Fleisch zu essen.

Stille lag über ihnen, die Luft war klar und einigermaßen warm. In wenigen Wochen würden sie die Höchsttemperaturen erreichen, beinahe zehn Grad plus. Dann erblühten die Pflanzen in den Gewächshäusern in voller Pracht.

Hanah hatte Handschuhe und Mütze ausgezogen, ihre lockigen schwarzen Haare fielen ihr über die Schultern. Sie trug nur einen dünnen Pullover aus synthetischem Stoff, der sie vor den wenigen Minusgraden schützte. Less hatte es sich nicht nehmen lassen und trug ein T-Shirt.

Sie machten gerade eine Pause vom Radiohören und aßen das Fleisch. Hier unter den Bäumen hätten sie auch ein Feuer machen können, um es aufzuwärmen, aber Less wollte kein Risiko eingehen und Hanah ebenso wenig.

Sie blickte nach oben durch die kahlen Äste in den blauen Himmel.

»Meinst du, sie können uns von hier aus sehen? Auch wenn wir unter den Bäumen sitzen?«, fragte sie und sah aus dem Augenwin-kel, wie Less ihrem Blick folgte.

»Ja, mit Sicherheit. Jetzt könnten sie sogar unsere Augenfarbe bestimmen«, antwortete der Fünfundzwanzigjährige und lächelte. »Sie können die Sandkörner am Strand zählen.«

Hanah leckte sich mit einer kurzen Bewegung das Salz von den roten Lippen. Sie bemerkte nicht, wie Less sie dabei beobachtete.

»Wenn ich also auf den See rausgehe«, sprach sie weiter, »riskiere ich, dass sie auf mich aufmerksam werden und somit auch auf das ganze Dorf?«

Less wiegte seinen Kopf. »Wenn du auf den See rausgehst, könn-ten sie dich sehen.«

»Könnten?«

»Ja, sie müssten Interesse daran haben, dich zu sehen. Das heißt, sie müssen genau dann hinsehen, wenn du gerade darauf läufst.«

»Aber das Interesse haben sie nicht?«

Less zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Wenn sie sehr geduldig und akribisch wären, könnten sie uns auch jetzt sehen. Aber ich glaube nicht, dass sie es tun.«

Hanah kniff ihre Augen zusammen und überlegte.

»Nehmen wir an, sie sehen uns…was passiert dann?«

Er schwieg und blickte eine Weile auf den gefrorenen See hinaus. »Sagen wir, es gibt sicher einen Grund warum die Leute, die sich entschließen zu gehen, dazu angehalten werden, offenes Gelände nach der Grenze zu meiden, bis sie ins nächste Dorf gelangen«, wich Less ihr aus und sah sie entschuldigend an.

Hanah sah ihn nachdenklich an, ließ es jedoch dabei dieser vagen Aussage bewenden.

Less zog wieder seine Jacke über. Er schüttete Tee in seinen Becher und füllte Hanahs mit auf.

»Wenn du weggehen müsstest«, begann Hanah wieder, »wo wür-dest du wohnen wollen?«

»Afrika«, entgegnete er sofort.

»Warum?«

»Weil es da im Sommer manchmal über fünfunddreißig Grad hat.«

Zweifelnd zog Hanah eine Augenbraue in die Höhe. »Ist das nicht ein bisschen zu warm?«

»Oh nein, glaub mir. Dreißig Grad wären genau richtig für mich.«

»Woher willst du das wissen, du weißt doch gar nicht, wie sich dreißig Grad anfühlen.«

»Ich weiß es…«, Less sah sie verschmitzt an und legte seine Finger auf sein Herz, »hier drin weiß ich es.«

Das brachte sie zum Lachen. »Du bist ein Dummschwätzer, Less. Aber jetzt mal ehrlich: Würdest du jemals gehen?«

Less sah sie nachdenklich an und Hanah hätte viel darum gegeben, nun seine Gedanken lesen zu können. Sie bemerkte noch nicht, wie er ihre Augen musterte, ihre geröteten Wangen, ihre roten Lippen und das schwarze Haar.

Schließlich schüttelte er mit dem Kopf.

»Ich denke nicht, dass ich irgendwann gehen werde.«

Hanah zwang sich, nicht übermäßig glücklich zu lächeln. »Aber du redest oft so begeistert von den Ländern, die du gerne mal sehen würdest.«

»Ja, da hast du Recht.« Er lehnte sich zurück und starrte auf den weißen See hinaus. »Aber wenn ich ginge, würde ich all das hier vergessen müssen, für immer«, er sah sie eindringlich an, »und das will ich nicht.«


Um halb vier Uhr nachmittags schalteten sie wieder das Radio an und lauschten gespannt, was der Sprecher ihnen sagen würde. Sie erwischten gerade den Ton, der die Nachrichten einleitete.

»Willkommen zu den Globalnachrichten auf Kairo K-Wellen-Radio. Es ist halb zwei.« Die Sprecherin hatte eine melodische, beinahe rauchige Stimme mit minimalem Akzent. Sie sprach Eng-lisch, wie alle Moderatoren, die international sendeten. Auch Hanah sprach Englisch, neben Ukrainisch war das eine der meist benutzten Sprachen in der Siedlung. An die Zeitverschiebung der Radiosender hatte Hanah sich bereits gewöhnt. Sie war unterschiedlich, je nachdem welchen Kanal sie gerade hörten und wo sich die Hauptzentrale des Senders befand. Dieses Mal offensichtlich in Kairo.

Es glich einem kleinen Wunder, dass sie über den kleinen Satelliten überhaupt Funkwellen empfangen konnten. Das war nicht immer so und es unterschied sich von Tag zu Tag, je nach Wetterlage oder Standpunkt. Manchmal kam es auch vor, dass sie nur Rauschen hörten. Außerdem waren die Frequenzen, die sie empfangen konnten, begrenzt. Das Radio im Netzwerk konnten sie nicht nutzen, denn sie hatten keine Verbindung.

Sie mussten sich also mit den Radiomachern begnügen, die noch auf Funkwellen setzten und das waren nicht mehr viele. Aber immerhin, heute hörten sie etwas aus Kairo. Hanah wusste sogar, wo das lag.

In solchen Momenten wurde ihr immer wieder bewusst, wie selten sie in der Schule wiederholten, was eigentlich wichtig gewesen wäre. Natürlich kannte sie all die Länder beim Namen, aber da es niemandem wichtig erschien, kümmerte man sich nicht mehr darum, wo diese Länder überhaupt lagen. Und Kinder vergaßen sehr schnell.

Sie war froh, dass sie Less hatte, der ihr all diese Dinge wieder in Erinnerung brachte.

»Präsident Orlow traf sich heute Morgen mit Präsident Normanson auf der neutralen Sinaihalbinsel, um weiteres Vorgehen bezüglich der Migrantenscharen zu besprechen…«

Die politische Situation hatte sich in den letzten Jahren kaum geändert, es ging immer nur um das Eine: West gegen Ost. Zwar unterhielten sich die Präsidenten zivilisiert und auch sonst gab es nur wenige militärische Aktionen, jedoch glich die Uneinigkeit beider Parteien der zweier kämpfender Hunde.

Hanah konnte den ganzen Konflikt nicht verstehen und auch Less schien damit Schwierigkeiten zu haben. Schon allein, weil sie nicht mitten im Geschehen waren. Sie wussten nicht viel von den Millionen Menschen, die seit dem Krieg als Asylanten in fremden Ländern lebten. Weil ihr eigenes Land unbewohnbar geworden war.

Hanah konnte gar nicht richtig erfassen, was es bedeutete, dass beinahe die ganze nördliche Halbkugel mit Schnee bedeckt war. Und dann gab es natürlich noch dieses Problem mit dem Öl.

Das hatte Less ihr erklären können und das verstand sie auch.

Jeden Tag wurde das Öl knapper und jeden Tag suchten Forscher und Soldatenteams verzweifelt nach neuen Ölvorkommnissen. Da war bestimmt noch eine Menge im ewigen Eis. Aber dieses Eis lag dummerweise auf einem riesigen Kontinent, der zu einer einzigen Partei gehörte:Der Östlichen Zone.

Präsident Orlow schwieg zu diesem Thema. Er äußerte sich kaum dazu und schien auch kein Interesse daran zu haben, sein eigenes Öl zu bergen. Ab und zu hörte man Gerüchte, er wäre der Meinung, Öl gäbe es noch genügend auf dem afrikanischen Kontinent. Was natürlich Unsinn war. Und selbst wenn es gestimmt hätte, waren diese Quellen schon erschöpft gewesen, bevor Orlow das Licht der Welt erblickt hatte.

Die Situation blieb also angespannt. Und das Öl ging zur Neige. Seit Jahrzehnten.

Hanah fragte sich, warum die Menschen immer noch Öl brauchten, wenn sie doch mit Solaranlagen arbeiten konnten oder Windparks oder Gezeitenkraftwerken.

Less wusste auch keine Antwort darauf, er zuckte nur immer wieder mit den Schultern. Wahrscheinlich über die Unverständigkeit der Menschheit, die niemals aus ihren eigenen Fehlern lernen würde.

»…außerdem warf Präsident Orlow Normanson Vertragsbruch in dieser Hinsicht vor. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass sich auch östliche Truppen auf westlichem Boden befinden, jedoch fehlt es Normanson hier an Beweisen.«

»Sie suchen noch immer nach Öl bei uns«, schlussfolgerte Hanah aus diesem Satz, »warum lassen sie das nicht einfach?«

»Es scheint, als ob Normanson das Leben einiger weniger Männer nicht kostbar genug ist, um die Suche aufzugeben. Er spielt auf Risiko.«

»Aber das kann er doch nicht ewig tun. Irgendwann werden sich die Leute weigern!«

Less zuckte mit den Schultern, wie so oft bei diesem Thema. »Es wird immer Verrückte geben, die Abenteuer suchen und den Tod nicht fürchten.«

»Das sollten sie aber.«

»Ich denke, die wenigsten von ihnen werden überhaupt entdeckt und wenn es doch passiert, dringt das kaum an die Öffentlichkeit. Normanson weiß, wie er das vertuschen kann. Manchmal klappt das nur nicht so gut.«

»So wie heute«, Hanah runzelte die Stirn, »was meinst du, wie viele Leute sind irgendwo hier im Norden und bohren nach Öl, das ihnen nicht gehört?«

»Weiß nicht, vielleicht fünfzig oder hundert, wenn überhaupt. An sich ist da ja nichts Verkehrtes dran.«

Erschüttert über seine Worte blickte Hanah in seine dunklen Augen. »Das meinst du doch nicht ernst. Natürlich ist es verkehrt!«

Wieder hob Jess die Schultern. »Warum? Sie bohren nach Öl. Ich denke nicht, dass auf dem Öl ‚Östliche Zone‘ draufsteht. Außerdem will Orlow es doch gar nicht. Wer zuerst kommt, bohrt zuerst.«

»Das sehe ich anders.«

»Ach ja? Erklär es mir.«

»Alles was illegal ist, sollte man lassen. Wenn man etwas heimlich macht und nicht will, dass man dabei entdeckt wird, ist es verboten. Und man sollte nie etwas Verbotenes tun.«

Less lachte herzhaft auf, noch während Hanah ihren letzten Satz sprach.

»Hätte ich nie etwas Verbotenes getan, säßen wir jetzt nicht hier.«

»Du hättest Murray fragen können und er hätte ja gesagt«, sagte Hanah ernst.

Less verging das Grinsen und er wich ihrem Blick aus. »Vielleicht hast du Recht.«

»Und«, fuhr Hanah fort, »wenn sie nichts Verbotenes tun würden, wäre Orlow nicht gezwungen sein Recht einzufordern und niemand würde gefangen genommen werden oder sterben.«

Nachdenklich fuhr Less sich über den drei Tage Bart. Dieses Mädchen brachte ihn tatsächlich durcheinander, was selten vorkam.

»Auch damit hast du Recht. Aber die Gier und Not der Menschen ist manchmal größer als ihre Vernunft oder dem Gespür dafür, was richtig oder falsch ist.«

»Meinst du, sie würden ohne das Öl alle sterben?« Mit fragenden Augen sah sie ihn an. Diesen Aspekt hatte sie noch gar nicht in Erwägung gezogen.

»Nein«, entgegnete Less, »Sicher nicht, aber - «

Das Radio ließ ihn aufmerken. »In den nächsten Tagen hält sich das Wetter, es bleibt mittelmäßig warm, die Temperaturen steigen bis zu sechzehn Grad. Und auch alle Siedlungen in den nördlicheren Gebieten dürfen aufatmen, in den nächsten Wochen wandert ein Hoch von Griechenland bis über das Schwarze Meer und breitet sich schließlich über die Ukraine bis nach Russland hinüber aus. Falls Sie uns auch von dort zuhören: Wir wünschen Ihnen einen entspannten Sommer! Danke, dass Sie K-Wellen-Radio Kairo hören! Und nun weiter - «

Less schaltete das Radio ab.

»Ein Hoch! Das ist gut, vielleicht knacken wir auch mal die Fünf-zehn-Grad-Marke.«

Hanah lächelte. »Das wäre doch mal was, aber dreißig Grad wird’s hoffentlich nicht.«


Während sie zusammenpackten, grübelte sie über diese Ölbohrungen nach. Solange niemand zu Schaden kam, ging sie das tatsächlich nur wenig an. Sollten doch die Großen und Mächtigen tun und lassen was sie wollten.

Doch manchmal hörte sie in der Stimme der Moderatoren eine leise, nicht ausgesprochene Vermutung, dass nicht nur die Menschen starben, die verantwortlich für die Ölbohrerei waren.

Was war, wenn dort Menschen lebten? Und wenn Normanson um jeden Preis an das Öl gelangen wollte? Hanah übertrug diese Situation auf ihr eigenes Leben. Wäre sie bereit das Feld zu räumen, um zu sehen, wie aus der ruhigen Siedlung ein Ölfeld gemacht wurde? Ja, wahrscheinlich würde sie gehen. Aber wären die anderen bereit? Was würde geschehen, wenn sich die Männer zusammenrotteten und gegen das Unrecht protestieren würden, dass ihr Land von Fremden eingenommen wurde?

Hanah dachte an das Labor und die Bibliothek. Die ganzen Gerätschaften, die teuren Einrichtungen. Es wäre unmöglich in kurzer Zeit aufzubrechen. Um alles wegzuschaffen, würden sie Monate brauchen.

Wenn aber Normanson oder Orlow keine Monate mehr übrig hatten? Was würde dann geschehen?

Hanah traute sich kaum, den Gedanken weiterzudenken, aber ihr war klar, dass niemand ein paar hundert Menschen irgendwo in der Russischen Tundra, vermissen würde.

Lichter im Norden

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