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Hanah: Russische Tundra
ОглавлениеHanah wurde zwei Minuten vor ihrem Wecker wach. Sie starrte in die Dunkelheit, lauschte der Stille und genoss die Wärme unter ihrer Decke.
Dann begann der Wecker eine melodische Melodie von sich zu geben. Es war fünf Uhr.
Die Zehnjährige richtete sich langsam auf. Noch immer herrschte Dunkelheit. Nur die LED-Leuchte des Weckers flackerte ein wenig, er war kaputt. Sie griff mit der Hand nach einer Schachtel Streichhölzer, die auf dem Nachttischschränkchen lagen und entzündete eine synthetische Kerze.
Der kleine Raum wurde langsam erhellt. Müde rieb Hanah sich die Augen. Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Sofort wurde es kalt. Sie zog sich dicke Wollsocken und einen Wollpullover über und schlüpfte in ihre Fellpantoffeln. Bevor sie den Vorhang öffnete, warf sie einen Blick in den Spiegel. Ein zierliches Mädchen mit schwarzen Haaren und weißer Haut sah ihr entgegen. Sie hatte tiefbraune Augen und einen rosigen Mund. Ihre Mutter sagte immer, sie sei das schönste Mädchen weit und breit, aber das konnte Hanah weder bestätigen noch widerlegen. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass alle Mütter das zu ihren Töchtern sagten.
Sie schob einen den Vorhang beiseite und betrat den Eingangsbereich, wo tagsüber immer ein Feuer brannte, bis spät in die Nacht. Morgens um diese Uhrzeit war es einfach neu zu entfachen. Ebenso im Badezimmer, damit sie den ganzen Tag warmes Wasser aus dem Boiler benutzen konnten. Hanah entdeckte hinter dem Vorhang zum Badezimmer einen hellen Schein, offensichtlich war ihre Mutter schon wach und hatte das Feuer dort schon entzündet. Also ging das Mädchen zurück, nahm die Kerze vom Schränkchen und warf dann ein paar Späne, die an der Wand in einer Kiste lagen, in die Glut. Sie hielt die Flamme daran und sofort brannten sie lichterloh. Danach legte sie einen Scheit ins Feuer. In wenigen Minuten wurde es wärmer.
»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte Nin sie und trat aus dem Badezimmer. »Danke fürs Feuermachen, was willst du frühstü-cken?« Sie gab Hanah einen Kuss auf die Stirn.
»Erstmal Tee«, entgegnete Hanah. Sie hatte eigentlich keinen besonders großen Hunger. Es war viel zu früh, um etwas in den Magen zu bekommen.
»Ich mach dir Ei und ein bisschen Fleisch.«
Hanah verzog das Gesicht.
»Du weißt doch, was wir vorhaben«, Nin sah sie mahnend an, »da musst du etwas essen! Und jetzt ab ins Bad.«
Hanah gehorchte und ließ den Vorhang hinter sich zufallen. Jetzt musste sie erst einmal wach werden. In eine Kupferschüssel hatte ihre Mutter bereits frisches warmes Wasser eingefüllt. Auf einer Halterung über dem Boden, die auch unter die Badewanne geschoben werden konnte, brannte ein Feuer in einem Kessel. Hanah wusch sich das Gesicht und kämmte ihre schwarzen Locken. Dann flocht sie sie zu einem langen Zopf, der ihr über den Rücken baumelte. Normalerweise trug sie ihre Haare offen, aber heute würde sie das nur stören.
In der Küche duftete es nun nach frischem Rührei, doch als die Zehnjährige in die eintrat, legte ihre Mutter gerade frisches Fleisch in die Pfanne, was bei Hanah zu einem Würgereflex führte.
»Mama, ich will wirklich kein Fleisch«, jammerte sie. Nin ließ sich nicht beeindrucken. Sie ließ das Feuer im Ofen brennen, nahm die Pfanne vom Rost und häufte sich selbst und Hanah die Eier und das Fleisch auf den Teller. Dazu legte sie zwei Äpfel, die gerade erst aufgetaut waren. Sie setzte sich ihrer Tochter gegenüber an den Küchentisch.
Hanah betrachtete ihr Frühstück kritisch und war sich sicher, dass sie keinen Bissen herunter bekommen würde.
Nin faltete ihre Hände und Hanah tat es ihr nach. »Herr«, betete Nin, »hab Dank für dieses Essen, hab Dank für das Leben, dass du uns schenkst. Behüte uns auf unseren Wegen. Amen.«
»Amen«, sagte auch Hanah.
Nin lächelte. »Ich weiß, es sieht nicht so lecker aus, aber du brauchst Vitamine und Kohlenhydrate und vor allem Eiweiß. Und wir werden nicht gehen, bis du das aufgegessen hast.«
Hanah war kein Mensch, der lange diskutierte und sie vertraute ihrer Mutter. Wenn sie sagte, dass sie das brauchte, würde sie es schon irgendwie schaffen. Sie begann mit dem Ei.
Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Zwischendurch schlürfte Hanah ihren heißen Tee.
Es war noch immer seltsam, es fühlte sich noch immer falsch an. Nicht dass es die Gewohnheit ihres Vaters gewesen wäre, morgens um halb sechs aufzustehen, und ganz sicher nicht, wenn er keinen besonderen Anlass gehabt hätte. Aber heute wäre ein solcher Anlass gewesen. Und er fehlte.
Vor drei Jahren hatte Hanah ihn zuletzt gesehen. Er wollte einen erlegten Eisbären zurückholen und war nie wiedergekommen. Er hatte gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen.
Jeffry war im Schneesturm erfroren. Nur Ciernick Simonedes war zurückgekehrt und seitdem noch viel mehr Außenseiter als zuvor. Und nicht einmal er konnte genau sagen, was und wie es passiert war. Die Leiche ihres Vaters hatte niemad finden können.
Hanah konnte sich an einen Eissturm erinnern, einen furchtbaren Wind, der einem die Haut vom Gesicht fetzte. Aber Ciernick hatte ohne einen Kratzer überlebt. Die Zehnjährige verstand einfach nicht, wie dieser seltsame Mann zurückkehren konnte und ihr Vater verschwunden blieb. Womöglich war er von einem Tier gerissen worden und deshalb hatte es keine Leiche gegeben. Hanah erschauerte immer wieder bei diesem Gedanken.
Jetzt lebten sie ohne Jeshua, ohne einen Vater und Ehemann. Hanahs Mutter nannte es Alltag, was sie darüber hinwegkommen ließ. Und Bileam, unter dessen Obhut sie standen, kümmerte sich gut um sie. Er sorgte dafür, dass sie bei allen Aufgaben gerecht eingeteilt wurden, dass sie ihre Freiheit nicht einschränken mussten, nur weil sie nur noch zu zweit waren. Er half ihnen, wo er konnte.
Hanah brachte es fertig, die Eier und das Fleisch zu essen. Zwar brauchte sie dafür beinahe eine halbe Stunde, aber danach spülte sie einmal kräftig den Fleischgeschmack mit Tee fort und schon ging es ihr besser. Dann putzten sich beide schnell ihre Zähne und packten ihre Rucksäcke mit Thermoskannen, warmen Alluminiumkissen zur Isolation, zusätzlicher Kleidung und Schokolade.
Sie würden einige Stunden unterwegs sein und hoffentlich würde das Wetter nicht umschlagen. Nin schmierte noch ein paar Brote, dann zogen sie sich Fellhose- und schuhe an und knöpften ihren Mantel bis zum Hals zu. Mütze und Kapuze würden sie vor der eisigen Kälte des Morgens schützen.
Dann stapften sie nach draußen in die Dunkelheit und den ewigen Winter.
Kalendarisch betrachtet befanden sie sich im Sommer. Aber von dem war noch nicht viel zu spüren. Es hatte zwar nur wenige Grade unter Null, aber die Sonne bekamen sie trotzdem eher selten zu sehen. Vielmehr wurden sie von Stürmen geplagt, die ihnen Regen und Eisschnee brachten. Erst in wenigen Wochen würde es milder werden und dann konnte man vielleicht auch wieder ein paar Blätter an den Bäumen sehen, was selten und kurzweilig war.
Less wartete bereits auf sie. Auch er trug Fell von oben bis unten. Außerdem hatte er auf dem Rücken einen wesentlich größeren Rucksack als Nin und Hanah. Der Zwanzigjährige begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln.
»Guten Morgen, ihr zwei! Na, ausgeschlafen?« Er grinste schel-misch.
»Mich darfst du nicht fragen«, entgegnete Nin in demselben heiteren Ton. »Frag lieber die junge Dame hier, sie wollte sich schon gegen Ei und Fleisch wehren, weil es so früh ist.«
Less ging in die Knie und sah zu Hanah hinauf, die ihn in dieser Position um ein paar Zentimeter überragte.
»Seid Ihr bereit für dieses große Abenteuer, oh holdes Fräulein?«
Hanah musste lächeln und nickte. »Ja, bereit.«
Less richtete sich wieder auf. »Gut, dann los.«
Sie verließen die Häuseransammlung Richtung Westen und wanderten lange über eine weite Ebene. Rechts und links von ihnen erstreckte sich in einiger Entfernung der endlose Wald. Nach etwa einer Stunde erreichten sie den großen Fluss, der ein paar Kilometer abwärts einen kleinen Bogen beschrieb. Wenn sie diese Richtung eingeschlagen hätten, wären sie nach ein paar Stunden an die Stelle gelangt, an der vor drei Jahren Jeshuas Eisbär gelegen hatte. Doch sie wanderten in die entgegengesetzte Richtung nach Norden. Nun lag links von ihnen der Fluss und rechts daneben der Wald. Für über eine weitere Stunde bekamen sie nichts anderes zu sehen.
Hanah schwitzte fürchterlich unter ihren Fellen, sie spürte ihre Haare im Nacken kleben. Ein paar Mal machten sie Pause, setzten sich auf die Alluminiumkissen und lauschten dem sanften Rauschen des Flusses. Ab und zu hüpfte ein Reh davon oder Vögel flatterten auf. Sonst herrschte völlige Stille.
Nachdem sie zweieinhalb Stunden Fußmarsch am Fluss hinter sich gebracht hatten, bog Less plötzlich in den Wald ein. Weiße Birkenstämme ragten aus dem Schnee hervor und Hanah kam sich vor wie in einem Märchenwald.
»Sieht schön aus, oder?«, sagte Less, als er ihr staunendes Gesicht erblickte. »Pass auf, gleich wird’s noch viel schöner!«
Sie gingen weiter nach Norden, entfernten sich jedoch einige Kilometer vom Fluss, bis sie ihn nicht mehr hören konnten. Und dann sah Hanah, was Less gemeint hatte.
Ein paar Meter vor ihr drang ein Schimmern durch die Schneede-cke. In einem hellen Blau, als ob feine Strahler unter dem Schnee angebracht wären. Dieser Schimmer formte einen Streifen von etwa zwei Zentimeter Breite und Hanah hatte das Gefühl, er wäre bogenförmig.
»Ist das die Grenze?« fragte sie ungläubig.
Less und ihre Mutter nickten gleichzeitig. Hanah ging ein paar Schritte auf das Leuchten zu. Es schien tatsächlich der Schnee selbst zu leuchten.
»Was ist das?«
Less nahm ihre Hand und hockte sich mit ihr direkt vor den neonfarbenen Streifen.
»Das ist ein chemischer Prozess«, erklärte er und zog seinen Handschuh aus, »du kannst es sogar anfassen.« Er fuhr langsam mit dem Finger über den blau leuchtenden Schnee. Nichts geschah, nur seine Fingerspitzen leuchteten ein wenig nach. Hanah zog ihren Handschuh ebenfalls aus und imitierte Less‘ Bewegung. Tatsächlich veränderte sich nichts und als der Schnee an ihren Fingerkuppen geschmolzen war, blieb auch kein blaues Leuchten mehr übrig.
»Chemie sagst du? Was für Chemie?«
»Ein Stoff, der in Verbindung mit gefrorenem Wasser blau leuch-tet.«
Hanah blickte dem Streifen, der sich nach links und rechts erstreckte, nach. »Und wie kommt die Chemie in den Schnee rein?«
Less überlegte einen Moment, wie er den komplexen Prozess am besten erklären konnte. »Unten im Boden sind kleine Töpfchen eingelassen. Vielleicht so lang wie mein Zeigefinger und auch so breit. Im Abstand von einem Meter. Dort ist ein chemischer Stoff drin und dieser steigt mit der Zeit an die Oberfläche.«
Ein wenig ungläubig blickte sie zu ihm auf, er hockte noch immer neben ihr. »Und wenn die leer sind?«
Er strich ihr über die Fellkapuze. »Dann müssen sie erneuert werden, aber sie halten sehr lange. Du kennst doch die Gruppe der Jäger, ja? Sie haben auch die Aufgabe, diese Markierungen zu kontrollieren und aufzufrischen.«
»Less, wir sollten jetzt langsam…«, unterbrach Nin die beiden.
Der junge Mann nickte und stand auf. Er tat einen Schritt nach vorne und Hanah blickte bedächtig auf seine Füße, ob sich auch wirklich nichts veränderte.
Da sich tatsächlich nichts zu regen schien und die blaue Linie unbeeindruckt weiter leuchtete, befand das Mädchen es als ungefährlich, sie zu überschreiten.
Nin nahm sie bei der Hand und sie folgten Less noch ein paar weitere Meter, bis der Wald sich ein wenig lichtete. Ein paar Baumstämme trennten sie noch von einer weiten weißen Ebene.
Less legte seinen Rucksack ab und holte ein kleines Gerät heraus. Es hatte Solarzellen angebracht, so wie alle technischen Geräte, die Hanah bis jetzt gesehen hatte. Aber trotzdem war dieses hier anders, so ein Ding fand man sicher nicht in jedem Haushalt.
Sie setzten sich erneut auf die Aluminiumkissen und Hanah beo-bachtete, wie Less etwas an dieses Gerät anstöpselte, was aussah wie ein hässlicher, aufklappbarer Suppenteller mit einer komischen, herausragenden Spitze in der Mitte.
»Was ist das?«, fragte sie frei heraus.
»Das ist ein Satellit, damit kann man Radiowellen empfangen. Und das kleine da ist ein Radio«,
»Aber warum braucht man für das kleine Radio so einen riesigen Satelliten?«
»Weil wir sehr weit weg von den anderen sind«, entgegnete Less. Dann entschied er, dass er genug erzählt hatte und betätigte einen kleinen Knopf an dem Radio. Nin hatte währenddessen einen Stift und Papier herausgekramt und wartete, bereit etwas zu notieren.
»Hör gut zu«, forderte sie Hanah auf, »alles was du jetzt hörst, könnte wichtig werden.« Das Mädchen nickte bedächtig und lauschte gespannt.
Plötzlich hörte sie ein furchtbares Rauschen und Knacken, ein paar Stimmen hallten aus den Lautsprechern des Radios, aber sie vermischten sich ständig. Less drehte ein wenig an weiteren Knöpfen und blickte schließlich Nin an.
»Auch die Nachrichten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, keine Nachrichten.«
Hanah wusste nicht, was das bedeuten sollte und warum ihre Mutter keine Nachrichten wollte, aber sie musste sich jetzt auf andere Dinge konzentrieren. Das war alles so spannend. Da saßen sie mitten in einem lichten Birkenwald hinter einer neonblau-leuchtenden Linie und plötzlich hatte Less den richtigen Kanal gefunden.
Und Hanah hörte zum ersten Mal, wie ihr ein Mensch, den sie weder kannte noch sehen konnte, etwas über das Wetter erzählte.