Читать книгу Lichter im Norden - Nena Schneider - Страница 20

Jahre 2206 – 2209: Schweden Jahre 2206 – 2209: Niklas: Schweden, Umea

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Niklas hatte angefangen, ernsthaft zu arbeiten. Nach dem Beschluss, auf eigene Faust in der Kälte durchzukommen, hatten er und Emelie in knapp einem halben Jahr einen detaillierten Plan auf die Beine gestellt. Sie nannten ihr Projekt Eiszeit.

Doch es gab viel mehr zu beachten als anfangs gedacht. Alles musste durchgeplant, jedes Detail genau besprochen werden und – was der kritischste Punkt auf ihrer Liste war – sie konnten es unmöglich alleine durchziehen. Sie brauchten Gleichgesinnte.

Mittlerweile wurde es in Schweden und allen nördlichen Ländern bis zur Grenze nach Weißrussland mehr als ungemütlich. Stromausfälle waren an der Tagesordnung, die kleineren Städte waren wie ausgestorben. Immer öfter hörte man von Eiszeittoten. Niklas und Emelie war klar, dass sie nicht mehr lange hier ausharren konnten. Und auch die Versorgung wurde knapper. Weniger Lebensmitteltransporter fuhren noch hier hinauf, in ganz Umea gab es nur noch eine Schule und einen Kindergarten. Die Situation wurde brenzlig.

Es schien, als hätte der Rest der Welt den kleinen Flecken in Schweden völlig vergessen. Niemand kümmerte sich mehr darum. Niklas war das nicht gerade recht, aber es hatte auch seine Vorteile. Noch immer wurde ihm jeden Monat ein Vermögen überwiesen und keinen schien es zu interessieren, was er damit tat. Wer wusste schon, ob es überhaupt noch jemanden gab, der das Bankkonto der Universität überwachte?

Seine Kollegen hatten schon vor zwei Jahren das Handtuch geworfen und die Universität kam Niklas wie ausgestorben vor. Viele Gerätschaften hatten sie in den Süden geschafft, aber ein paar Rechner waren geblieben, sowieduzende Mikroskope und Reagenzgläser. Damit konnte Niklas etwas anfangen.

Außerdem hatte er noch immer Internetzugang und vor allem: Freien Zugang zum Universitätsserver, auf dem tausende von Informationen in Form von elektronischen Büchern gespeichert waren. Niemanden würde es noch interessieren, wenn er sie sich einfach lizenzfrei kopierte, nicht wahr?

Er ging mit Lars ins Büro. Der Elfjährige war stolz, seinem Vater helfen zu können. Während seine wenigen Freunde aus der Schule Schneeballschlachten veranstalteten oder sich diese ekelhaften, virtuellen Brillen aufsetzten, um Videospiele zu spielen, saß Lars vor großen Bildschirmen und überprüfte, ob Daten ordnungsgemäß auf externe Speicher kopiert wurden. Er ordnete diese Speicher nach Inhalt und komprimierte die Daten, damit noch mehr auf die Speicherplatten passte. Ihr Plan war, das wichtigste Wissen der letzten hundert Jahre für sich zu konservieren, bevor der Strom und somit der Zugriff auf dieses Wissen vollständig abgeschaltet wurde.

Der Junge hatte eine schnelle Auffassungsgabe und zu Niklas Glück verstand er sich auf Chemie. Und durch seine jungen, fri-schen, und manchmal naiven Ideen animierte er Niklas zum Arbeiten.

Oft saßen sie schweigend nebeneinander, während Niklas Formeln ausrechnete und Lars Daten kopierte. Niklas mochte diese Arbeit. Er mochte es, seinem Sohn etwas zeigen zu können und dafür zu sorgen, dass aus ihm etwas werden konnte. Wie auch immer das in einer Eiszeit aussehen mochte.

Nichtsdestotrotz wurde es draußen immer kälter. Der September unterschied sich kaum vom Dezember. Nur der Wind war schwä-cher und es gab weniger Schneefall. In der Universität fielen des öfteren die Heizungen aus, bis sie schlussendich komplett abgestellt wurden. Zumindest vermuteten sie das. Nun heizten sie mit Feuer und sparten Strom. Für den Notfall hatten sie einen Notstromgenerator bereitgestellt, der ansprang, sobald es einen Stromausfall gab. Sie wollten nicht riskieren, dass ihr Fortschritt verloren ging.

Manchmal sprachen sie auch über ihr Projekt. Lars war natürlich eingeweiht. Nun feilte er selbst mit an den Ideen und der Planung, denn immer wieder wurden Schwachstellen sichtbar. Die Zeit drängte.

»Papa, du sagst doch immer, dass wir uns unbedingt Gleichgesinnte suchen müssen. Wann hast du das eigentlich vor?« Lars saß vor dem Computer und steckte einen externen Speicher an.

»Wenn der Plan absolut wasserdicht ist«, entgegnete Niklas ruhig.

»Aber das ist er doch. Wir können alles erklären. Den Ort, die Zeit, die Leute. Warum also noch warten? Irgendwann sind die Gleichgesinnten vielleicht nicht mehr da.«

Niklas schüttelte den Kopf. »Diese werden so lange hier bleiben, bis es beinahe nicht mehr geht. Und dann werden sie versuchen, sich ihren eigenen Weg durch das Eis zu schlagen. Genau an diesem Punkt müssen wir sie abfangen.«

»Aber ist die Abhängigkeit, in die du sie dann zwingst, nicht kontraproduktiv? Zumindest wenn die Gemeinschaft auf Dauer halten soll?«

»Hmm«, machte Niklas, strich sich über sein Kinn und freute sich innerlich über die außergewöhnliche Intelligenz seines Sohnes, »ich denke, wir müssen das Risiko einfach eingehen. Denn wenn wir sie jetzt schon fragen würden, wo wir noch nicht bereit zum Aufbruch sind, würden sie uns wahrscheinlich nur auslachen.«

Lars schüttelte den Kopf. »Das denke ich nicht.«

Niklas warf einen Blick zu seinem Sohn hinüber. Sie hatten das gleiche blonde Haar, braune Augen und den gleichen wachen Verstand. Nur dachte Lars noch ein wenig unschuldiger über die Welt, er hatte noch nicht genug erlebt.

Gerade wollte Niklas sich wieder an die Arbeit machen, als Lars eine weitere Frage stellte. »An was arbeitest du eigentlich?«

»Ich versuche einen Stoff zu kreieren, der stark gegen Kälte isoliert. Und den man vielfältig einsetzen kann. Er muss elastisch sein, also wie ein T-shirt, eine Hose oder eine Decke. Das hätte ich schon vor Jahren anfangen sollen.«

»Und, bist du nah dran?«

Niklas schüttelte den Kopf. »Nein, das ist etwas komplizierter, dafür werde ich vielleicht noch ein paar Jahre brauchen.«

Sein Sohn riss die Augen weit auf. »Ein paar Jahre? Wie lange willst du hier denn noch hier rumsitzen?«

»Das ist Wissenschaft, Lars. Das dauert nun einmal.«

»Und was ist, wenn du das machen würdest, wie sie es früher einmal mit den alten 3D-Druckern gemacht haben?«

Niklas hob fragend eine Augenbraue. Er wusste nicht, worauf sein Sohn hinaus wollte.

»Ich meine das so«, erklärte Lars, »damals haben sie doch Dinge aus Plastikteilen gedruckt, die dann ein großes Ganzes ergaben, zum Beispiel ein Kleid. Es war ein Kleid und es fühlte sich an wie ein Kleid aus Stoff, aber es war kein Stoff. Es war nur Plastik.«

»Na und?« Niklas verstand noch immer nichts.

»Ja und, vielleicht könntest du das auch so machen, nur umge-kehrt!«

»Lars, erklär bitte deinen Gedankengang zu Ende.«

»Jaja, ok. Also du brauchst einen Stoff, der gegen Kälte resistent ist. Warum sagst du dem Kleid nicht einfach, dass es ein Kleid ist?«

»Lars!!«

»Verändere die Eigenschaft der zusammenhängenden Moleküle, geht das nicht?«

»Nein, das geht nicht. Du kannst nicht aus einem Grashalm einen Diamanten zaubern.«

»Aber die Materialien verändern sich doch auch. Wasser zum Beispiel, allein durch die Temperatur. Oder andere durch zutun von Sauerstoff, Kohlenstoff, Hitze oder Zeit. Also warum kann man ein T-shirt nicht extrem kälteresistent machen?«

»Na weil - « Niklas hielt inne. Seine Gedanken überschlugen sich. War sein elfjähriger Sohn gerade auf die Lösung gekommen, nach der er seit Jahren suchte? Natürlich konnte man die Idee nicht ausgereift nennen, und so ganz, wie Lars sich das wahrscheinlich vorstellte, funktionierte es nicht. Aber der Ansatz… ja, der Ansatz könnte ihn ein kleines Stückchen weiter bringen.

»Papa?« Lars Stimme durchbrach aus der Ferne seine Gedanken. »Hast du mir zugehört?«

»Jaja, klar. Entschuldige.« Niklas rieb sich über den Kopf. »Es ist wohl schon zu spät. Wir sollten nach Hause gehen. Aber vergiss deine Idee nicht, sie war nämlich gar nicht schlecht.«

»Wirklich?« Lars strahlte über das ganze Gesicht.

»Ich müsste an ihr feilen und ja, das dauert auch Monate, aber vielleicht keine Jahre mehr.«


Als sie vor dem komplett eingeschneiten Haus parkten – mittlerweile fuhren sie nur noch mit Schneeketten, weil niemand mehr räumte - bemerkte Niklas sofort, dass kein Licht durch die vereisten Fenster schien. Das war ungewöhnlich. Selbst wenn der Strom ausfiel, schürte Emelie immer das Feuer, Tag und Nacht. Auch, weil jederzeit die Gasleitungen einfrieren konnten.

Auch Lars fielen die dunklen Zimmer auf. »Vielleicht ist sie eingeschlafen und das Feuer ist ausgegangen«, meinte er unsicher, doch Niklas konnte an seiner Stimme hören, dass er selbst nicht daran glaubte. Etwas nervös schloss er die Tür auf und sie traten gemeinsam in den dunklen Flur.

»Emelie, Lars hatte eine unglaubliche Idee!«, rief Niklas, während er weiter ins Haus hineinging. »Emelie?« Nichts rührte sich.

Lars streifte sich die Schuhe ab. »Mama, wo bist du?« Fragend sahen sich Vater und Sohn an.

»Ich sehe oben nach«, sagte Lars und rannte die Treppe hinauf.

Niklas hingegen betrat die dunkle Küche. Ein Eimer mit schaumigem Wasser darin stand auf den Fliesen, daneben ein hingeworfener oder fallengelassener Lappen. Das Wasser lief durch die ganze Küche. Emelie ließ niemals etwas liegen und ganz bestimmt keinen Putzlappen samt Eimer. Irgendetwas musste sie aufgehalten haben. Mit aufkommender Furcht stieg er über Eimer und Wasserlache hinweg und ging zur Wohnzimmertür. Sie war nur angelehnt.

»Liebling?«, fragte er in die Stille hinein und seine Stimme klang seltsam belegt.

»Oben ist sie nicht, ich hab alles durchsucht!«, rief Lars von der Treppe herunter.

Niklas stieß die Tür an, sie ging auf.

Auf dem Sofa saß Emelie, kerzengerade, mit dem Rücken zu ihm und starrte in die winzige Glut im Ofen.

»Sie ist hier«, rief Niklas zurück. Emelie bewegte sich nicht, sie schien seine Anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken.

»Liebling«, flüsterte Niklas wieder und näherte sich ihr von hinten. Langsam ging er am Sofa vorbei und blickte in ihr Gesicht. Sie war kalkweiß.

Erst als er sich zu ihr setzte und ihre kalte Hand berührte, blickte sie ihn an. Es war Niklas, als wache sie aus einem tiefen Schlaf auf.

»Du bist da. Du bist endlich da! Ich warte schon seit Stunden, Ewigkeiten … hast du es gehört?« Sie sah ihn an und Niklas erkannte Angst in ihren Augen. Ein Gefühl, dass Emelie seit Jahren nicht gezeigt hatte. »Ach natürlich hast du es nicht gehört, du warst ja beschäftigt, nicht wahr? Aber ich habe es gehört, ich habe ganz genau zu gehört. Niklas, es geht los!« Sie flüsterte, sah ihn panisch an und brachte die Worte fast nicht heraus. »Es hat begonnen. Sie haben die Grenzen geschlossen. Niemand nördlich der Alpengrenze, kommt mehr in den Süden. Sie erschießen jeden, der es versucht. Es gibt bereits über tausend Tote.« Ihre Augen wurden endlich wieder klar.

Niklas atmete tief durch und ließ Emelie nicht los, die sich noch immer in seinen Arm schmiegte. Lars, der in den Raum getreten war, nahm neben ihm im Sessel Platz. In seinem Gesicht erkannte Niklas nun keine Angst mehr, sondern viel mehr Erkenntnis.

»Papa, ich fürchte, du wirst keine Jahre mehr für deine Wissen-schaft haben«, bemerkte er, als wäre es nicht eine Tatsache, von der ihr aller Leben abhing. Die Katastrophe hatte begonnen.


Lichter im Norden

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